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Hinweispflicht des Gerichts bei besonderer Schwere der Schuld

Es besteht auch nach der Neufassung des § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO keine Pflicht des Tatgerichts, auf die Feststellung der besonderen Schuldschwere hinzuweisen. Auch eine analoge Anwendung der Vorschrift scheidet aus.

(Leitsatz des Verfassers)

BGH, Beschl. v. 11.9.20243 StR 109/24

I. Sachverhalt

Besondere Schwere der Schuld festgestellt

Das LG hat den Angeklagten wegen Mordes zu einer lebenslangen Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt sowie die besondere Schwere der Schuld festgestellt. In rechtlicher Hinsicht hat das LG das festgestellte Tatgeschehen als Mord aus Habgier gemäß § 211 Abs. 2 Var. 3 StGB gewürdigt. In Abweichung zur ursprünglichen Anklage hat es hingegen das Mordmerkmal der Heimtücke (§ 211 Abs. 2 Var. 5 StGB) nicht angenommen. Die Inbrandsetzung der Wohnung hat das LG als Brandstiftung gemäß § 306 Abs. 1 Nr. 1 StGB gewertet. Neben der Verhängung einer lebenslangen Gesamtfreiheitsstrafe hat es die besondere Schwere der Schuld gemäß § 57a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB festgestellt.

Kein Hinweis in Anklage und Eröffnungsbeschluss

Einen Hinweis auf die mögliche Feststellung der besonderen Schuldschwere gemäß § 57a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB enthielt weder die Anklage noch der Eröffnungsbeschluss. Während der Hauptverhandlung wies der Vorsitzende den Angeklagten darauf hin, dass anstelle einer Verurteilung wegen besonders schwerer Brandstiftung nach § 306a Abs. 1, § 306b Abs. 2 Nr. 2 StGB auch eine Verurteilung wegen Brandstiftung gemäß § 306 Abs. 1 Nr. 1 StGB in Betracht komme, nicht aber auf die Möglichkeit der Feststellung der besonderen Schuldschwere. Diese beantragten auch weder der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft noch der Nebenklägervertreter in ihren Schlussvorträgen.

Verletzung des § 265 StPO

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Angeklagten, der mit der Verfahrensrüge geltend macht, dass aufgrund der Neufassung des § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO eine Pflicht des LG bestanden habe, auf die Feststellung der besonderen Schuldschwere hinzuweisen. Er habe aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls darauf vertrauen dürfen, dass § 57a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB nicht zur Anwendung komme. Der fehlende Hinweis sei zur genügenden Verteidigung erforderlich gewesen. Ferner ergebe sich die Hinweispflicht aus Art. 6 Abs. 3 Buchst. a und b EMRK sowie aus Art. 103 Abs. 1 GG. Die Verfahrensrüge hatte keinen Erfolg.

II. Entscheidung

Die gesetzliche Hinweispflicht sei – so der BGH – nicht verletzt. Eine solche ergebe sich weder aus § 265 Abs. 1 noch aus § 265 Abs. 2 StPO, insbesondere nicht aus § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO. Auch eine analoge Anwendung der letztgenannten Vorschrift scheide aus. Ferner sei durch die Verfahrensweise des LG weder das Recht des Angeklagten auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, Art. 6 Abs. 3 Buchst. a und b EMRK) noch der Grundsatz des fairen Verfahrens (Art. 20 Abs. 3 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) verletzt.

§ 265 Abs. 1 StPO

§ 265 Abs. 1 StPO sei im Fall der Feststellung der besonderen Schwere der Schuld (§ 57a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB) bereits nach seinem Wortlaut nicht anwendbar (vgl. u.a. BGH, Beschl. v. 26.6.1996 – 1 StR 328/96, Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl. 2024, § 265 Rn 15a; KK-StPO/Bartel, 9. Aufl., § 265 Rn 9; a.A. MüKo-StPO/Norouzi, 2. Aufl., § 265 Rn 27, 29; BeckOK-StPO/Eschelbach, 52. Ed., § 265 Rn 28; zweifelnd BGH, Beschl. v. 10.7.2002 – 1 StR 140/02). Denn die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld sei systematisch kein Teil der Entscheidung zu Schuld- und Strafausspruch. Sie sei vielmehr eine Entscheidung für das Vollstreckungsverfahren, die nach der Rechtsprechung des BVerfG aus diesem herausgelöst und dem Tatgericht übertragen worden sei. Sie diene nicht der Bemessung der Sanktion, sondern der Vorbereitung einer Entscheidung über die Aussetzung ihrer weiteren Vollstreckung, die grundsätzlich dem Vollstreckungsgericht obliege (vgl. BGHSt 40, 360, 366 f.; BGH NStZ 2018, 652, 653).

§ 265 Abs. 2 Nr. Var. 1 StPO

Weiterhin lasse sich § 265 Abs. 2 Nr. 1 Var. 1 StPO keine Pflicht zur Erteilung eines Hinweises auf § 57a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB entnehmen. Unter diese Regelung fallen – so der BGH – etwa Qualifikationen und Regelbeispiele für besonders schwere Fälle, nicht aber der Ausspruch über die besondere Schwere der Schuld (BGH, Beschl. v. 26.6.1996 – 1 StR 328/96; Urt. v. 2.2.2005 – 2 StR 468/04, StV 2006, 60, 61). Denn um die Entscheidung des Vollstreckungsgerichts über die Aussetzung der weiteren Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe vorzubereiten, habe das Tatgericht im Urteil die Umstände aufzuführen, die eine Beurteilung der Schuldschwere ermöglichen. Es habe diese Umstände abzuwägen, zu gewichten und danach zu entscheiden, ob die Schuld des Angeklagten besonders schwer wiegt. Dieser Beurteilungsvorgang entspreche damit in der Sache demjenigen, der bei den im Strafgesetzbuch aufgeführten unbenannten besonders schweren Fällen stattfinde, für die § 265 Abs. 2 StPO ebenfalls nicht gelte (BGH, Beschl. v. 26.6.1996 – 1 StR 328/96; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 265 Rn 19; KK-StPO/Bartel, 9. Aufl. 2023, § 265 Rn 17). Auch aus der Neufassung des § 265 Abs. 2 Nr. 1 StPO folge nichts anderes, da die hier allein in Betracht kommende Variante 1 der vorgenannten Vorschrift unverändert geblieben sei.

§ 265 Abs. 2 Nr. 3 i.V.m. Abs. 1 StPO

Die Verfahrensweise des LG sei auch mit § 265 Abs. 2 Nr. 3 i.V.m. Abs. 1 StPO in der Fassung des Gesetzes zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens vom 17.8.2017 (BGBl I S. 3202, 3210) vereinbar. Durch diese Regelung sei die Hinweispflicht des § 265 Abs. 1 StPO auf Fälle erweitert worden, in denen sich in der Hauptverhandlung die Sachlage gegenüber der Schilderung des Sachverhalts in der zugelassenen Anklage ändert und dies zur genügenden Verteidigung vor dem Hintergrund des Gebots rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) und des rechtsstaatlichen Grundsatzes des fairen Verfahrens einen Hinweis erforderlich mache (vgl. BT-Drucks 18/11277, S. 37; BGH StV 2019, 818). Der Gesetzgeber hat insoweit an die ständige Rechtsprechung angeknüpft, wonach eine Veränderung der Sachlage eine Hinweispflicht auslöst, wenn sie in ihrem Gewicht einer Veränderung eines rechtlichen Gesichtspunkts gleichsteht (BT-Drucks 18/11277, S. 37). Die durch den BGH hierzu entwickelten Grundsätze sollten kodifiziert, noch weitergehende Hinweispflichten hingegen nicht eingeführt werden (vgl. BGH, Beschl. v. 10.4.2024 – 5 StR 85/24; v. 10.1.2024 – 6 StR 276/23, NJW 2024, 1594; v. 24.7.2019 – 1 StR 185/19). Vor diesem Hintergrund stehe bereits der Gesetzeswortlaut des § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO der Erforderlichkeit eines Hinweises auf die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld entgegen. Die Norm setze voraus, dass sich die Sachlage gegenüber der Schilderung des Sachverhalts in der zugelassenen Anklage geändert habe. Dies sei bei der Feststellung der besonderen Schwere der Schuld gemäß § 57a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB nicht der Fall. Denn insoweit treffe das Tatgericht aus dem unverändert gebliebenen Tatsachenmaterial lediglich die von der Anklage abweichende rechtliche Beurteilung, wonach die Voraussetzungen der besonderen Schuldschwere erfüllt seien.

§ 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO

Nach Auffassung des BGH ist auch für eine analoge Anwendung des § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO kein Raum. Es fehlte an einer planwidrigen Regelungslücke. Dem Gesetzgeber sei bei der Neuregelung der Vorschrift durch Art. 3 Nr. 33 Buchst. a des Gesetzes zur effektiven und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens vom 17.8.2017 (BGBl I, S. 3202) die Rechtsprechung des BGH zur früheren Gesetzeslage bekannt gewesen (vgl. BT-Drucks 18/11277, S. 15, 37; s. auch BGH, Beschl. v. 22.10.2020 – GSSt 1/20, BGHSt 66, 20). Danach bestand keine Hinweispflicht auf die Feststellung der besonderen Schuldschwere nach § 57a Abs. 1 Nr. 2 StGB. In Kenntnis dessen habe der Gesetzgeber die Hinweispflicht nicht erweitert.

Rechtliches Gehör/Grundsatz des fairen Verfahrens

Schließlich gebot nach Ansicht des BGH auch weder das Recht des Angeklagten auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, Art. 6 Abs. 3 Buchst. a und b EMRK) noch der Grundsatz des fairen Verfahrens (Art. 20 Abs. 3 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) eine Hinweispflicht (vgl. hierzu BGHSt 66, 20; s. auch BT-Drucks 18/11277, S. 37). Nach den insoweit geltenden Maßstäben sei die Feststellung der besonderen Schuldschwere für den Angeklagten – auch mit Blick auf die Besonderheiten des Falles – hier nicht überraschend. Ihm sei in der Anklage die Erfüllung zweier Mordmerkmale sowie die Begehung eines weiteren tatmehrheitlich begangenen Verbrechens zur Last gelegt worden. Bereits hierdurch sei für den verteidigten Angeklagten erkennbar gewesen, dass eine Verurteilung wegen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe konkret drohte und das Gericht daher auch eine Entscheidung über die besondere Schwere der Schuld zu treffen hatte (vgl. BGH StV 2006, 60, 61; Beschl. v. 26.6.1996 – 1 StR 328/96; LR/Stuckenberg, StPO, 27. Aufl. 2024, § 265 Rn 32). In Anbetracht dessen habe auch der Inhalt des erteilten Hinweises sowie der Schlussplädoyers kein besonderes Vertrauen beim Angeklagten begründen können, dem durch eine gerichtliche Hinweispflicht Rechnung zu tragen gewesen wäre.

III. Bedeutung für die Praxis

Nicht überraschend

M.E. überzeugend auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung des BGH und der wohl h.M. in der Literatur begründet. Die Entscheidung dürfte im Zweifel auch der Verteidiger erwartet haben. Die Revision hatte sicherlich auch den Sinn, es mal zu versuchen. Man weiß ja nie, was passiert. Mit der Entscheidung ist dann aber erneut festgestellt worden, dass im Hinblick auf die besondere Schwere der Schuld ein rechtlicher Hinweis nach einer der Alternativen des § 265 StPO nicht erforderlich ist. Möglich ist aber ggf. ein Erfolg einer Revision im Hinblick auf das Recht des Angeklagten auf rechtliches Gehör oder den Grundsatz des fairen Verfahrens, was hier aber auch nicht der Fall war.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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