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Genügend Vorbereitungszeit für das letzte Wort

Dem Angeklagten muss für sein letztes Wort und/oder dem Verteidiger für sein Plädoyer ausreichende Vorbereitungszeit eingeräumt werden. Die rein formale Möglichkeit, sich zur Beweisaufnahme zu äußern, reicht nicht aus.

(Leitsatz des Verfassers)

BGH, Beschl. v. 18.4.20246 StR 545/23

I. Sachverhalt

Verurteilung u.a. wegen versuchten Mordes

Das LG hat den Angeklagten wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung sowie wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von fünf Jahren verurteilt. Mit seiner Rüge rügt der Angeklagte eine Verletzung des § 258 Abs. 1 StPO.

Verfahrensgeschehen

Dem liegt folgender Verfahrensgang zugrunde: Dem Angeklagten war mit der Anklageschrift versuchter Totschlag in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zum Nachteil des Adhäsionsklägers H und gefährliche Körperverletzung zum Nachteil einer weiteren Geschädigten vorgeworfen worden. Der Strafkammervorsitzende terminierte die Hauptverhandlung auf drei Sitzungstage.

2. Sitzungstag

Am 2. Sitzungstag erteilte der Vorsitzende um 14:47 Uhr einen rechtlichen Hinweis; demzufolge sollte hinsichtlich der Tat zum Nachteil des Adhäsionsklägers auch eine Verurteilung wegen „tateinheitlichen versuchten Mordes gemäß § 211 Abs. 2 Var. 4 und 5 – sonstiger niedriger Beweggrund bzw. Heimtücke – in Betracht kommen. Die Vorschrift wurde verlesen, ein Haftbefehl verkündet und der Angeklagte um 14:56 Uhr im Saal verhaftet. Im Haftbefehl wurde der Tatvorwurf zu Fall 1 der Anklageschrift dahin konkretisiert, dass der Angeklagte die ihm zur Last gelegten Messerstiche in Richtung des Oberkörpers des sich „keines Angriffs versehenden und deshalb wehrlosen“ Adhäsionsklägers geführt habe. Ein vom Verteidiger daraufhin gestellter Aussetzungsantrag, gestützt auf die wegen des verschärften Tatvorwurfs notwendige Vorbereitungszeit, wurde zurückgewiesen und auch die hilfsweise begehrte Unterbrechung für die Dauer von einer Woche abgelehnt. Es seien keine neuen Tatsachen oder tatsächlichen Verhältnisse in der Hauptverhandlung aufgetreten, die der Angeklagte nicht bereits der Anklageschrift oder dem Eröffnungsbeschluss habe entnehmen können. Die Hauptverhandlung wurde um 15:16 Uhr bis zum nächsten Sitzungstag unterbrochen.

3. Sitzungstag

Am Morgen des folgenden Tages wurde die Hauptverhandlung fortgesetzt. Nach weiteren Beweiserhebungen, insbesondere Vernehmungen von Zeugen und Sachverständigen, wurde die Beweisaufnahme „im allseitigen Einverständnis“ geschlossen. Der Verteidiger beantragte um 14:15 Uhr zur Vorbereitung auf den Schlussvortrag eine Unterbrechung der Hauptverhandlung bis zu einem weiteren, noch abzustimmenden Sitzungstag. Er sehe sich eingedenk des Verfahrensablaufs, namentlich des gerichtlichen Hinweises, der Verhaftung seines Mandanten im Sitzungssaal und der bis 14:10 Uhr durchgeführten Beweisaufnahme nicht in der Lage, sachgerecht zu plädieren. Den Antrag wies der Vorsitzende unter Hinweis auf die Gründe der abgelehnten Aussetzung vom vorangegangenen Sitzungstag zurück. Es seien „netto drei Stunden“ verhandelt worden, sodass keine Gründe ersichtlich seien, die einen Schlussvortrag nicht zuließen. Diese Anordnung wurde von der Kammer sodann bestätigt. Nach den Schlussvorträgen wurde das angefochtene Urteil verkündet.

II. Entscheidung

Die Rüge der Verletzung des § 258 Abs. 1 StPO war nach Auffassung des BGH begründet. Auf die ebenfalls beanstandeten mehrfachen Verletzungen des § 265 Abs. 1 StPO komme es deshalb ebenso wie auf die sachlich-rechtlichen Beanstandungen nicht an.

Recht auf angemessene Vorbereitung

Der Angeklagte erhalte durch § 258 Abs. 1 StPO das Recht, nach Beendigung der Beweisaufnahme und vor der endgültigen Entscheidung des Gerichts zum gesamten Sachverhalt und zu allen Rechtsfragen des Verfahrens Stellung zu nehmen. Die Vorschrift diene damit unmittelbar der Gewährleistung des durch Art. 103 Abs. 1 GG garantierten Anspruchs auf rechtliches Gehör (vgl. BVerfGE 54, 140, 141 f.; Dürig/Herzog/Scholz/Remmert, GG, 103. EL, Art. 103 Abs. 1 Rn 66). Zur Ausübung dessen könne der Angeklagte sich – wie in § 258 Abs. 3 StPO vorausgesetzt – eines Verteidigers bedienen (vgl. KK-StPO/Tiemann, 9. Aufl. 2023, § 258 Rn 5). Dieses Recht erschöpfe sich aufgrund seiner überragenden Bedeutung nicht in der bloßen Möglichkeit zur Äußerung; vielmehr müsse den Verfahrensbeteiligten eine wirksame Ausübung ermöglicht werden (vgl. BeckOK-StPO/Eschelbach, 50. Ed., § 258 Rn 14; MüKo-StPO/Niehaus, 2. Aufl., § 258 Rn 7). Das Gericht sei daher dazu verpflichtet, angemessene Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Verfahrensbeteiligten einen Schlussvortrag in der Weise halten können, wie sie ihn für sachdienlich erachten (vgl. BGH, Beschl. v. 21.3.1989 – 5 StR 120/88 u. v. 24.1.2023 – 3 StR 80/22, NStZ 2023, 437).

Den Umfang bestimmen die Umstände des Einzelfalls

Dabei steht es indes nicht im Belieben der Verfahrensbeteiligten, ob und in welchem Umfang eine Vorbereitungszeit zu gewähren ist. Was dazu erforderlich sei, bestimme sich vielmehr nach den Umständen des Einzelfalls. Danach könne es je nach Umfang und Dauer der Hauptverhandlung sowie dem konkreten Prozessverlauf notwendig sein, zur Ausarbeitung der Schlussvorträge eine angemessene Vorbereitungszeit einzuräumen (vgl. BGH, Beschl. v. 21.3.1989 – 5 StR 120/88; v. 11.5.2005 – 2 StR 150/05, NStZ 2005, 650; v. 24.1.2023 – 3 StR 80/22, NStZ 2023, 437; LR/Esser, StPO, 27. Aufl., Art. 6 EMRK Rn 887 m.w.N.). Ob und gegebenenfalls in welchem Umfang diese zu gewähren sei, habe das Tatgericht nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, wenn die Verfahrensbeteiligten eine Vorbereitungszeit verlangen. Für die Beurteilung der Angemessenheit derselben könne neben der Komplexität und dem Umfang der Sach- und Rechtslage insbesondere auch relevant sein, dass die Verfahrensbeteiligten bereits zuvor auf den anstehenden Schluss der Beweisaufnahme hingewiesen worden seien oder aus anderen Gründen damit rechnen mussten, ihre Plädoyers halten zu müssen (vgl. dazu BGH, Beschl. v. 21.3.1989 – 5 StR 120/88); in diesem Fall können sie die Zeit zwischen den Hauptverhandlungsterminen bereits zur Vorbereitung ihrer Vorträge und gegebenenfalls erforderlichen Besprechung und Abstimmung mit dem Mandanten nutzen, sodass die Notwendigkeit einer (weiteren) Unterbrechung ganz entfallen oder jedenfalls ihre Dauer kürzer zu bemessen sein kann (vgl. BGH, Beschl. v. 24.1.2023 – 3 StR 80/22, a.a.O.).

Vollständige Versagung hier rechtsfehlerhaft

Die vollständige Versagung einer Vorbereitungszeit erweise sich hier als rechtsfehlerhaft. Zwar hätten die Verfahrensbeteiligten ursprünglich davon ausgehen können, dass am letzten von drei terminierten Hauptverhandlungstagen die Beweisaufnahme geschlossen wird und die Schlussvorträge zu halten sind. Da aber entgegen der Ladungsverfügung (§ 214 Abs. 1 StPO) am letzten Sitzungstag ab 9:30 Uhr u.a. mehrere Zeugen und zwei Sachverständige vernommen wurden, habe die Strafkammer von den Verfahrensbeteiligten nicht bereits wegen der ursprünglichen Terminierung verlangen dürfen, unmittelbar nach dem Schluss der Beweisaufnahme den Verfahrensstoff sachgerecht aufbereitet zu haben (vgl. BGH, Beschl. v. 21.7.2020 – 5 StR 236/20, NStZ 2021, 56). Dies gelte erst recht mit Blick darauf, dass der Angeklagte erst am Ende des zweiten von drei Sitzungstagen auf den gravierend verschärften Tatvorwurf des versuchten Mordes hingewiesen und zeitgleich im Saal verhaftet worden war.

Bedeutung der Zeugenaussagen

Unvertretbar aber war die Versagung jedweder Unterbrechung jedenfalls in der Zusammenschau mit der Bedeutung der Aussage des am letzten Sitzungstag vernommenen Zeugen B. Dessen Angaben seien nicht allein für den Tötungsvorsatz bedeutsam gewesen; besondere Relevanz sei ihnen ausweislich der Urteilsgründe und der Anklageschrift für das Tötungsmotiv zugekommen. Damit habe ein unmittelbarer Zusammenhang zu dem Hinweis auf eine Verurteilung des Angeklagten wegen des höchststrafwürdigen Tötungsverbrechens eines versuchten Mordes aus niedrigen Beweggründen (§ 211 Abs. 2 StGB) bestanden, der trotz der seit der Anklageerhebung unveränderten Sachlage erst tags zuvor erteilt worden sei.

Beruhen

Das Urteil beruhe auf dem dargelegten Verfahrensfehler (§ 337 Abs. 1 StPO). Es sei nicht ausgeschlossen, dass der Inhalt eines sachgerecht vorbereiteten Schlussvortrags ein für den Angeklagten günstigeres Ergebnis bewirkt hätte.

III. Bedeutung für die Praxis

Erhebliche Bedeutung des letzten Wortes

1. Der BGH betont mal wieder die herausragende Bedeutung des letzten Wortes (§ 258 StPO; vgl. im Übrigen die vom BGH angeführten Nachweise aus seiner Rechtsprechung), dem in der Rechtsprechung des BGH eine erhebliche Bedeutung zukommt. Auf Verletzungen des Rechts auf das letzte Wort reagiert der BGH in der Regel empfindlich. Dabei geht es – so auch hier – nicht nur darum, dass dem Angeklagten und/oder dem Verteidiger für ihn überhaupt das letzte Wort gewährt worden ist. Sondern: Es muss auch ausreichend Vorbereitungszeit eingeräumt worden sein. Die hängt zwar, was auch zutreffend ist, von den jeweiligen Umständen des Falles ab. Aber man fragt sich, wie die Strafkammer hier auf die Idee kommen konnte, dass ausreichend Zeit gewährt worden war. In dem Zusammenhang ist nicht nur der erst am Vortag erteilte rechtliche Hinweis, der zu einer erheblichen Verschärfung des Vorwurfs gegenüber dem Angeklagten geführt hatte, zu berücksichtigen, sondern auch, dass am letzten Verhandlungstag unmittelbar vor dem Schluss der Beweisaufnahme noch ein Zeuge vernommen worden war, dessen Aussage für den Ausgang des Verfahrens erhebliche Bedeutung hatte. Warum man dann über den Antrag des Verteidigers hinwegbügelt, erschließt sich nicht. Dem BGH scheint dabei besonders sauer aufzustoßen, dass der rechtliche Hinweis (§ 265 StPO) „trotz der seit der Anklageerhebung unveränderten Sachlage erst tags zuvor erteilt worden“ ist. Der Entscheidung ist m.E. deutlich anzumerken, dass ihm die Eile, die die Strafkammer an den Tag legt, missfällt.

Beanstandung durch den Verteidiger

2. Der Verteidiger hat im Übrigen alles richtig gemacht. Er hat, was sich aus den Urteilsgründen ergibt, nach Ablehnung seines Unterbrechungsantrages durch den Vorsitzenden gem. § 238 Abs. 2 StPO die Entscheidung beanstandet und damit den gem. § 338 Nr. 8 StPO erforderlichen Gerichtsbeschluss herbeigeführt (vgl. dazu Burhoff (Hrsg.), Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 11. Aufl. 2025, Rn 3502 ff. mit weiteren Nachweisen).

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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