1. Dem nach § 62d AufenthG gerichtlich bestellten Verfahrensbevollmächtigten steht ein Vergütungsanspruch nach § 45 Abs. 3 S. 1 RVG gegen die Staatskasse zu.
2. Bei der Anordnung von Sicherungshaft handelt es sich um eine aufgrund von Bundesrecht nach §§ 62 Abs. 3, 106 Abs. 2 S. 1 AufenthG angeordnete Freiheitsentziehung i.S.v. § 415 FamFG. Insofern kann der beigeordnete Rechtsanwalt für seine Tätigkeit Gebühren nach Teil 6 Abschnitt 3 VV RVG verlangen.
(Leitsätze des Gerichts/des Verfassers)
I. Sachverhalt
Die Ausländerbehörde hatte mit Antrag vom 4.3.2024 die Anordnung von Sicherungshaft gem. §§ 62 Abs. 3, 106 Abs. 2 AufenthG i.V.m. § 417 FamFG gegen den Betroffenen zur Sicherung der beabsichtigten Abschiebung beantragt. Gemäß dem mit Gesetz zur Verbesserung der Rückführung zum 27.2.2024 in Kraft getretenen § 62d AufenthG wurde dem Betroffenen mit Beschluss vom 4.3.2024 Rechtsanwalt S als anwaltlicher Vertreter bestellt. Der Betroffene wurde am selben Tage in Anwesenheit des bevollmächtigten Rechtsanwalts persönlich angehört, ehe das AG mit Beschluss vom selben Tage antragsgemäß die Sicherungshaft gegen den Betroffenen anordnete. Die hiergegen gerichtete Beschwerde des Bevollmächtigten wurde durch das LG Stuttgart zurückgewiesen.
Der Bevollmächtigte beantragte die Festsetzung einer Verfahrensgebühr nach Nr. 6300 VV RVG, einer Terminsgebühr nach Nr. 6301 VV RVG sowie der Post- und Telekommunikationspauschale nach Nr. 7002 VV RVG nebst Umsatzsteuer nach Nr. 7008 VV RVG in Höhe von insgesamt 556,92 EUR. Mit Beschluss vom 22.5.2024 setzte die Urkundsbeamtin die Vergütung antragsgemäß fest. Der Bezirksrevisor erhob hiergegen Erinnerung und führte zur Begründung aus, es bestünde mangels gesetzlicher Regelung kein Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse. Eine Beiordnung nach § 62d AufenthG führe nicht zwangsläufig zu einem Vergütungsanspruch. Die bestehende Regelungslücke sei auch nicht planwidrig, nachdem der Rechtsausschuss des Bundesrats in seiner Stellungnahme vom 2.2.2024 (BR-Drucks 21/1/24) auf diese hingewiesen habe. Die Urkundsbeamtin half der Erinnerung nicht ab und legte diese mit Verfügung vom 22.5.2024 dem Gericht zur Entscheidung vor. Das AG hat die Erinnerung zurückgewiesen.
II. Entscheidung
Vergütungsgrundlage § 45 RVG
Die Erinnerung ist nach Auffassung des AG unbegründet. Dem anwaltlichen Vertreter stehe nach § 45 Abs. 3 S. 1 RVG ein Vergütungsanspruch gegen die Landeskasse zu. Demnach erhalte ein sonst gerichtlich bestellter oder beigeordneter Rechtsanwalt Vergütung aus der Landeskasse, wenn ein Gericht des Landes den Rechtsanwalt bestellt oder beigeordnet habe. Dies sei vorliegend der Fall, da der bevollmächtigte Rechtsanwalt durch gerichtlichen Beschluss vom 4.3.2024 beigeordnet worden sei.
Auffangnorm
Soweit der Vertreter der Staatskasse auf die Stellungnahme des Rechtsausschusses des Bundesrats verweise, wonach es an einer gesetzlichen Vergütungsregelung fehle, sei dies im Ergebnis unzutreffend. Zwar fehle es augenscheinlich an einer spezialgesetzlichen Regelung hinsichtlich der Vergütung von nach § 62d AufenthG bestellten Rechtsanwälten, jedoch bilde § 45 Abs. 3 RVG eine Auffangnorm bezüglich der Vergütung gerichtlich bestellter Rechtsanwälte. Demnach sowie auch im Hinblick auf die Vergütung der nach anderen Vorschriften gerichtlich bestellten Rechtsanwälte, die ebenfalls nach § 45 Abs. 3 RVG erfolge (z.B. Beiordnungen nach § 78 FamFG, §§ 68b Abs. 2, 141, 364b Abs. 1, 397a, 408b StPO, §§ 40 Abs. 2, 53 Abs. 2 IRG), erscheine der deutschen Rechtsordnung eine gerichtliche Beiordnung eines Rechtsanwalts ohne entsprechenden Vergütungsanspruch grundsätzlich fremd.
Eine Beiordnung ohne Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse werde ausnahmsweise im Falle einer Beiordnung nach § 78b ZPO vertreten (vgl. Gerold/Schmidt/Müller-Rabe, RVG, 26. Aufl. 2023, § 45 Rn 136; a.A.: HK-RVG/Kießling, 8. Aufl. 2021, § 45 Rn 45, 46). Diesbezüglich sei jedoch zu sehen, dass der Notanwalt nach § 78b ZPO sein Tätigwerden von der Zahlung eines Vorschusses abhängig machen könne (§ 78c Abs. 2 ZPO) und insofern ausreichend abgesichert sei. An einer entsprechenden Sicherung fehle es bei der vorliegenden Beiordnung nach § 62d AufenthG hingegen.
Sämtlichen genannten Beiordnungsvorschriften, die in der Folge einen Vergütungsanspruch nach § 45 Abs. 3 RVG begründen, sei überdies der Sinn und Zweck gemein, dem Betroffenen eine angemessene Wahrnehmung seiner Rechte zu ermöglichen. Diese Erwägung habe gleichfalls der Einführung des § 62d AufenthG zugrunde gelegen (vgl. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Inneres und Heimat des Bundestags vom 17.1.2024; BT-Drucks 20/10090). Gründe, die dafür sprächen, die Vergütung eines nach § 62d AufenthG beigeordneten Rechtsanwalts anders zu handhaben, seien indes nicht ersichtlich.
Bundesrat verkennt Funktion als Auffangnorm
Soweit der Rechtsausschuss des Bundesrats in seiner Stellungnahme ausführe, weder in den §§ 39, 41 RVG noch in § 45 RVG werde ausdrücklich auf § 62d AufenthG Bezug genommen, verkenne er, dass § 45 Abs. 3 RVG in seiner Funktion als Auffangnorm gerade keine ausdrücklichen Verweise enthalte. Ferner sei auch anderen gesetzlichen Regelungen zur verpflichtenden Bestellung von Bevollmächtigten regelmäßig keine spezielle Vergütungsregelung zu entnehmen (vgl. erneut § 78 FamFG, §§ 68b Abs. 2, 141, 364b Abs. 1, 397a, 408b StPO, §§ 40 Abs. 2, 53 Abs. 2 IRG), sodass aus deren Fehlen zu schließen wäre, es bestünde zwangsläufig kein Vergütungsanspruch.
Rechtsanwaltstätigkeit ohne Vergütung lebensfremd
Darüber hinaus erscheine die Annahme, ein gerichtlich verpflichtend beizuordnender Rechtsanwalt würde das Mandat ohne gesetzlichen Vergütungsanspruch gegenüber der Staatskasse übernehmen, lebensfremd. Ohne korrespondierenden Vergütungsanspruch dürfte es in der praktischen Umsetzung wohl kaum möglich sein – insbesondere in der in Abschiebesachen aufgrund erfolgter Festnahme erforderlichen Kurzfristigkeit –, übernahmebereite Rechtsanwälte ausfindig zu machen, um die persönliche Anhörung des Betroffenen durchführen zu können. Dies widerspräche letztlich auch der vom Gesetzgeber mit dem Rückführungsverbesserungsgesetz verfolgten Intention, Rückführungsmaßnahmen effektiver zu gestalten. Insoweit liege die Vermutung nahe, dass dies auch dem Gesetzgeber bewusst gewesen sein müsse und dieser vielmehr davon ausgegangen sei, es bedürfe in Anbetracht der Anwendbarkeit der Auffangnorm des § 45 Abs. 3 RVG keiner spezialgesetzlichen Regelung. Hierfür spreche auch der Beschluss des Bundesrats vom 2.2.2024 (BR-Drucks 21/24). Obgleich der Bundesrat sich darin nicht mehr ausdrücklich mit der Frage der Vergütung eines nach § 62d AufenthG zu bestellenden Rechtsanwalts befasste, entschied er letztendlich, von der Anrufung eines Vermittlungsausschusses nach Art. 77 Abs. 2 GG abzusehen, und schloss sich insoweit den Bedenken seines Rechtsausschusses offenbar nicht an.
Auslagen des Rechtsanwalts
Der Anspruch auf Erstattung der Auslagen folgt nach Auffassung des AG aus § 46 Abs. 1 RVG.
Anwendbare Regelungen des VV
Beantragt hatte der Rechtsanwalt die Festsetzung der Nrn. 6300, 6301 VV RVG. Die hatte die Urkundsbeamtin auch – mit Auslagen nach Nr. 7002 VV RVG und USt nach Nr. 7008 VV RVG – festgesetzt. Das sei – so das AG – nicht zu beanstanden. Die Vergütung des Rechtsanwalts für die Tätigkeit im gerichtlichen Verfahren bei Freiheitsentziehungen richte sich nach den in Teil 6 Abschnitt 3 VV RVG enthaltenen Sonderregelungen (vgl. BGH, Beschl. v. 21.3.2023 – XIII ZB 76/20, AGS 2023, 315). Bei der vorliegenden Anordnung von Sicherungshaft handele es sich um eine aufgrund von Bundesrecht nach §§ 62 Abs. 3, 106 Abs. 2 S. 1 AufenthG angeordnete Freiheitsentziehung i.S.v. § 415 FamFG. Insofern könne der beigeordnete Rechtsanwalt eine Verfahrensgebühr nach Nr. 6300 VV RVG verlangen. Die Teilnahme an der persönlichen Anhörung löse eine Terminsgebühr nach Nr. 6301 VV RVG aus.
III. Bedeutung für die Praxis
In der Tat lebensfremd
Bisher hat keine Rechtsprechung dazu vorgelegen, wie die Tätigkeit des beigeordneten Rechtsanwalts in Abschiebehaftfällen, die auch auf den Verteidiger zukommen kann, honoriert wird. Jetzt hat sich als – soweit ersichtlich – erstes Gericht das AG Stuttgart dazu geäußert. Und: Die Entscheidung ist zutreffend und in meinen Augen überzeugend begründet. Es ist vor allem zu begrüßen, dass das AG der Auffassung der Staatskasse, der beigeordnete Rechtsanwalt werde ohne Vergütung tätig, da der Fall im RVG nicht geregelt sein, eine deutliche Absage – „lebensfremd“ – erteilt. Ich verstehe nicht, wie man – so die Landeskasse – davon ausgehen kann, dass der Rechtsanwalt, der beigeordnet wird, was er nur schwer ablehnen kann, kostenlos tätig wird. Also Beiordnung zum Nulltarif! Ich empfehle, dazu mal in der Rechtsprechung zum sog. Sonderopfer des Pflichtverteidigers in Zusammenhang mit § 51 RVG nachzulesen (grundlegend BVerfGE 68, 237, 255; dazu u.a. auch VerfGH Berlin NStZ-RR 2020, 190 = RVGreport 2020, 299; Beschl. v. 12.5.2021 – VerfGH 175/20, AGS 2021, 360 = NStZ-RR 2021, 231; OLG Hamm AGS 2001, 13).
Höhe zutreffend
Die Urkundsbeamtin hatte auch der Höhe nach zutreffend die Verfahrensgebühr Nr. 6300 VV RVG und die Terminsgebühr Nr. 6301 VV RVG festgesetzt. Die Verfahrensgebühr deckt auch die Tätigkeiten des Rechtsanwalts im Beschwerdeverfahren ab; eine besondere Gebühr für die eingelegte Beschwerde ist nicht vorgesehen. Auch eine Grundgebühr war nicht festzusetzen, da Teil 6 Abschnitt 3 VV RVG eine Grundgebühr nicht vorsieht.