Akteneinsicht: Erteilung von Auskünften an Krankenkassen
Krankenkassen als Körperschaften des öffentlichen Rechts haben einen Anspruch auf Erteilung von Auskünften aus Ermittlungsakten gemäß § 474 Abs. 2 Nr. 1 StPO zur Prüfung der Rechtmäßigkeit und Plausibilität der Abrechnungen in der vertragsärztlichen Versorgung.
OLG Braunschweig, Beschl. v. 28.8.2024 – 1 VAs 1-3/23
Zuziehung eines Dolmetschers: Abhören der Telefonüberwachung
Ein fremdsprachiger Beschuldigter hat keinen sich aus § 187 Abs. 1 GVG ergebenden Anspruch auf Beiordnung eines Dolmetschers bzw. Feststellung von dessen Erforderlichkeit, damit dieser seinem Wahlverteidiger anlässlich des Anhörens der von dem Beschuldigten geführten fremdsprachigen Telefonate bei der Ermittlungsbehörde diese in die deutsche Sprache übersetzen kann. In Einzelfällen muss dem – verteidigten – Beschuldigten die Gelegenheit gegeben werden, in Anwesenheit seines Verteidigers und ggf. eines Dolmetschers aufgezeichnete Telefonate anzuhören.
LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 2.9.2024 – 18 Qs 41/24
Pflichtverteidiger: Schwere der Tat
Von einem Fall notwendiger Verteidigung ist regelmäßig ab einer Straferwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe auszugehen. Bei der Festsetzung der zu erwartenden Strafhöhe ist nicht auf Einzelstrafen, sondern auf die Gesamtstrafe abzustellen. Dies gilt auch für eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung, soweit das anhängige Verfahren die Strafe nicht nur unwesentlich beeinflusst.
LG Frankfurt am Main, Beschl. v. 16.9.2024 – 5-30 Qs 41/24
Unterbrechung der Hauptverhandlung: Verhandeln zur Sache
Auch das alleinige Verlesen des Protokollkopfs einer überwachten Telekommunikation stellt ein Verhandeln zur Sache i.S.d. § 229 StPO dar.
BGH, Beschl. v. 4.7.2024 – 5 StR 24/24
Rechtlicher Hinweis: Zwischenrechtsbehelf
Die Rüge der Verletzung des § 265 Abs. 4 StPO bedarf keines vorherigen Zwischenrechtsbehelfs in der Hauptverhandlung, wenn statt des Gerichts lediglich der Vorsitzende einen Unterbrechungs- bzw. Aussetzungsantrag abgelehnt hat.
BayObLG, Beschl. v. 4.10.2024 – 205 StRR 323/24
Fragerecht des Verteidigers: Vorgaben des Vorsitzenden
Der Vorsitzende hat im Rahmen der ihm obliegenden Verhandlungsleitung sowie insbesondere in Ausübung seiner Fürsorgepflicht gegenüber Zeugen für einen sachgerechten Ablauf der Beweisaufnahme zu sorgen. Dabei hat er auch auf eine hinreichende Strukturierung der Vernehmung hinzuwirken, denn nur dann kann der Zeuge die ihm obliegenden Pflichten erfüllen und zur Wahrheitsfindung beitragen. Dies schließt Vorgaben auch im Hinblick auf die Reihenfolge der Befragung zu einzelnen Tatkomplexen nicht grundsätzlich aus, die Verfahrensbeteiligten einschließlich des Verteidigers sind im Hinblick auf die Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen nicht völlig frei. Jedoch bedürfen Vorgaben, die das Fragerecht berühren, stets einer sorgfältigen Begründung. Eine zwischen einzelnen Taten wechselnde Befragung eines Zeugen ist nicht generell unzulässig, was insbesondere gilt, wenn die den Zeugen betreffenden Taten in einem engen sachlichen und zeitlichen Zusammenhang stehen.
OLG Stuttgart, Beschl. v. 9.7.2024 – 7 ORs 28 SRs 899/23
Einspruchsverwerfung: nur „körperlich erschienener“ Angeklagter
Wenn der Angeklagte im Strafbefehlsverfahren aufgrund seines Weltbildes meint, er könne sich nicht hinreichend mit der angeklagten Person identifizieren, um als diese an der Hauptverhandlung teilzunehmen, und er die Hauptverhandlung stattdessen als Bühne für politische Ausführungen missbrauchen will, verhält er sich rechtsmissbräuchlich. Hält er daran trotz richterlichen Hinweises fest, kann sein Einspruch gegen den Strafbefehl trotz seines körperlichen Erscheinens gemäß §§ 412 S. 1, 329 Abs. 1 S. 1 StPO verworfen werden.
AG Mönchengladbach-Rheydt, Urt. v. 17.9.2024 – 21 Cs-130 Js 322/24-358/24
Berufungshauptverhandlung: Urteilsverlesung
Im Falle der Teilaufhebung und Zurückverweisung eines amtsgerichtlichen Urteils auf eine Sprungrevision – etwa hinsichtlich des Strafausspruchs – sind die für den neuen Tatrichter bindend gewordenen Urteilsteile und Feststellungen des amtsgerichtlichen Urteils im Zuge der erneuten tatrichterlichen Verhandlung zu verlesen oder den Verfahrensbeteiligten auf sonstige Weise bekannt zu machen.
OLG Oldenburg, Beschl. v. 15.8.2024 – 1 ORs 143/24
Bedingte Entlassung: Zuziehung eines Dolmetschers
Die Grundsätze betreffend die unentgeltliche Beistandsleistung eines Dolmetschers auch für die vorbereitenden Gespräche mit dem Verteidiger finden auch in dem Fall Anwendung, bei dem es im Rahmen des Vollstreckungsverfahrens um die Vorbereitung der Entscheidung über die bedingte Entlassung nach § 57 Abs. 1 StGB geht.
OLG Koblenz, Beschl. v. 30.8.2024 – 2 Ws 413/23
Verspätete Vorführung: Aufhebung des Haftbefehls
Die gegen §§ 115 Abs. 1 und 2, 115a Abs. 1 StPO verstoßende Vorführung des aufgrund eines bestehenden Haftbefehls vorläufig festgenommenen Beschuldigten vor das ortsnächste Amtsgericht anstelle des zuständigen Gerichts sowie die anschließende Unterlassung der vom Beschuldigten beantragten und nach § 115a Abs. 3 StPO gebotenen unverzüglichen Vorführung vor das zuständige Gericht und ihre Nachholung erst nach längerer Zeit (hier: über zwei Monate) führen nicht zwingend zur Aufhebung des Haftbefehls. Je nach Lage des Einzelfalls kann es bei fortbestehendem dringenden Tatverdacht, weiterhin anzunehmendem Haftgrund und Verhältnismäßigkeit im Übrigen ausreichen, die Rechtswidrigkeit der vom Beschuldigten seit der Verhaftung bis zur Nachholung der Vorführung vor das zuständige Gericht erlittenen Untersuchungshaft festzustellen und die vorausgegangenen Verfahrensverstöße durch die nachgeholte Vorführung für die Zukunft als geheilt anzusehen.
OLG Celle, Beschl. v. 26.9.2024 – 2 Ws 257/24
Beleidigung: Affenbande
Die Bezeichnung von Polizeibeamten als „Affenbande“ ist eine Formalbeleidigung. Auch in diesem Fall hat eine – hilfsweise – Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit und dem Schutz der Persönlichkeit im konkreten Einzelfall zu erfolgen.
BayObLG, Beschl. v. 4.10.2024 – 205 StRR 323/24
Straßenblockaden: Widerstand durch Festkleben
Entscheidend für die Bewertung der Widerstandshandlung als „mit Gewalt“ ist die Intensität der Kraftentfaltung durch das materielle Zwangsmittel und damit zusammenhängend die Kraft, die aufgewandt werden muss, um diese zu überwinden. Indem der Täter die mit Sekundenkleber benetzte Hand so auf die Fahrbahn drückt, dass Hand und Fahrbahn eine feste Verbindung eingehen, leistet er Widerstand mit Gewalt i.S.d. § 113 Abs. 1 Alt. 1 StGB, wenn hierdurch vorsatzgemäß die nach Auflösung der Versammlung erfolgende polizeiliche Räumung der Fahrbahn durch Polizeibeamte deutlich erschwert wird. Die Ablösedauer ist lediglich ein Anhaltspunkt dafür, wie stark die zu überwindenden Kräfte wirken. Ein schnelles, aber kurzzeitig kraftintensives Wegreißen kann ebenso für einen Widerstand „mit Gewalt“ sprechen wie eine vorsichtige Methode, bei der die die Vollstreckungsmaßnahme erschwerenden Kräfte über einen längeren Zeitraum gelöst werden.
KG, Beschl. v. 10.7.2024 – 3 ORs 30/24 – 161 SRs 26/24
Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen: Hakenkreuz auf Schutzmaske
Die Veröffentlichung eines Fotos, auf welchem eine medizinische Mund-Nasen-Bedeckung sichtbar ist, welche mittig die Abbildung eines sogenannten Hakenkreuzes trägt, im Zusammenhang mit Kritik an den Corona-Maßnahmen erfüllt den Tatbestand des § 86a Abs. 1 Nr. 1 StGB.
KG, Urt. v. 30.9.2024 – 2 ORs 14/24 – 121 SRs 43/24
Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen: Hakenkreuz bei Facebook
Durch § 86a StGB soll auch verhindert werden, dass sich die Verwendung von Kennzeichen verbotener verfassungsfeindlicher Organisationen als Form einer allgemein üblichen, selbst bei nichtigem Anlass gebräuchlichen Unmutsäußerung derart einbürgert, dass der Gesetzeszweck, solche Kennzeichen generell aus dem öffentlichen Erscheinungsbild der Bundesrepublik Deutschland zu verbannen, nicht erreicht wird, mit der Folge, dass sie schließlich auch wieder von Verfechtern politischer Ziele, für die das Kennzeichen steht, gefahrlos gebraucht werden können.
LG Ingolstadt, Beschl. v. 9.9.2024 – 2 Qs 100/24
Strafzumessung: Täter-Opfer-Ausgleich; generalpräventive Erwägung
Sind durch eine Straftat mehrere Opfer betroffen so setzt ein Täter-Opfer-Ausgleich nach ständiger Rechtsprechung voraus, dass hinsichtlich jedes Geschädigten in jedem Fall eine Alternative des § 46a StGB erfüllt sein muss. Das Tatgericht kann sich bei seiner Strafzumessung von der Erwägung leiten lassen, potenzielle Täter von der Begehung vergleichbarer Taten abzuhalten, denn es ist zulässig, generalpräventive Gesichtspunkte bei der Strafzumessung zu berücksichtigen. Allerdings dürfen dafür nur Umstände herangezogen werden, die über die bei der Bestimmung eines konkreten Strafrahmens vom Gesetzgeber bereits berücksichtigte allgemeine Abschreckung hinausgehen. Dies ist gegeben, wenn sich eine gemeinschaftsgefährdende Zunahme solcher oder ähnlicher Straftaten, wie sie zur Aburteilung stehen, feststellen lässt. Dazu müssen aber entsprechende Feststellungen getroffen werden.
OLG Hamm, Urt. v. 19.9.2024 – 5 ORs 37/24
Auslieferungsrecht: Pflichtverteidiger
Darüber, ob für die von der Staatsanwaltschaft gemäß § 85 Abs. 1 S. 1 IRG zu treffende Entscheidung, ob das Überstellungsverfahren durchgeführt werden soll und ob für die Erklärung des Einverständnisses des Verurteilten mit der Übertragung der Vollstreckung zu Protokoll eines Richters gemäß § 85 Abs. 2 S. 2 IRG gemäß § 53 Abs. 2 IRG ein Rechtsbeistand zu bestellen ist, hat das Oberlandesgericht in diesem Verfahrensstadium nicht zu entscheiden. Gemäß § 85a Abs. 2 S. 1 IRG hat das Oberlandesgericht nach § 53 IRG erst dann über eine Bestellung eines Pflichtbeistands zu entscheiden, wenn einer der beiden vorstehend beschriebenen Anträge zum Oberlandesgericht vorliegt.
OLG Nürnberg, Beschl. v. 23.8.2024 – Ausl OAus 82/24
Fahrverbot: Anrechnung von Sicherstellung
Die Dauer einer auf polizeirechtlicher Grundlage angeordneten Sicherstellung des Führerscheins eines Betroffenen ist nicht auf ein später gegen diesen wegen der Tat, die den Anlass für die Sicherstellung gegeben hat, angeordnetes Fahrverbot anzurechnen. Eine analoge Anwendung von § 25 Abs. 6 S. 3 StVG auf eine Sicherstellung des Führerscheins auf polizeirechtlicher Grundlage kommt mangels vergleichbarer Interessenlage nicht in Betracht.
AG Landstuhl. Beschl. v. 5.9.2024 – 2 OWi 157/24
Aktenversendungspauschale: ortsansässiger Verteidiger I
Der ortsansässige Verteidiger kann nicht Erstattung des von ihm für die Aktenversendung verauslagten Betrages von 12 EUR als Pauschale gem. KV 9003 KV-GKG verlangen, da es sich insofern nicht um eine Aufwendung i.S.v. §§ 675, 670 BGB handelt.
AG Köln, Beschl. v. 10.9.2024 – 581 Cs 391/23
Aktenversendungspauschale: ortsansässiger Verteidiger II
Auch einem am Ort des Prozessgerichts ansässigen Rechtsanwalt ist nicht zumutbar, für jede Akteneinsicht die Akte am Prozessgericht abzuholen oder sie dort einzusehen. Er kann daher die sog. Aktenversendungspauschale i.H.v. 12 EUR zum Zwecke der Ausführung des Auftrags für erforderlich halten. Sie stellt eine Aufwendung des Verteidigers i.S.d. § 675 BGB i.V.m. § 670 BGB dar und ist dem Verteidiger somit zu erstatten.
AG Köln, Beschl. v. 13.3.2024 – 651 Ds 256/23