Zum Umfang und zur Qualität des Vortrags des Verteidigers bei der sog. Ersatzeinreichung nach § 32 S. 4 StPO.
(Leitsatz des Verfassers)
I. Sachverhalt
Revisionseinlegung über Nachtbriefkasten
Das LG hat den Angeklagten u.a. wegen Vergewaltigung verurteilt. Gegen das am 11.9.2023 in seiner Anwesenheit verkündete Urteil hat er mit einem am 18.9.2023 dem LG über den Nachtbriefkasten zugegangenen Verteidigerschriftsatz Revision eingelegt. Nachdem der Strafkammervorsitzende mit einem am 20.9.2023 durch die Geschäftsstelle ausgefertigten Schreiben den Verteidiger auf die nicht den Maßgaben des § 32d StPO entsprechende Form der Rechtsmitteleinlegung hingewiesen hatte, hat der Verteidiger mit einem am 22.9.2023 über das beA übermittelten Dokument beantragt, dem Angeklagten Wiedereinsetzung in den Stand vor Versäumung der Frist zur Einlegung der Revision zu gewähren, und erneut Revision eingelegt. Zur Begründung hat er – anwaltlich versichert – ausgeführt, dass er vom Angeklagten am 15.9.2023 mit der Revisionseinlegung beauftragt worden sei. „Zu diesem Zeitpunkt bis einschließlich 20.9.2023“ habe ihm der „Arbeitscomputer, über den das elektronische Anwaltspostfach geführt wird, aufgrund eines technischen Fehlers nicht zur Verfügung gestanden“. Um gleichwohl die Revisionseinlegungsfrist einzuhalten, habe er den Schriftsatz nach § 32d S. 3 StPO in Papierform in den Nachtbriefkasten eingeworfen. Der BGH hat Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.
II. Entscheidung
Fristversäumung
Die dem LG über den Nachtbriefkasten zugegangene Revisionseinlegung durch seinen Verteidiger entspreche nicht den Formerfordernissen des § 32d S. 2 StPO. Die Revisionseinlegung sei auch nicht ausnahmsweise nach § 32d S. 3 StPO zulässig. Der Verteidiger habe weder mit der Ersatzeinreichung noch in vertretbarer Zeit danach glaubhaft gemacht, dass eine Übermittlung als elektronisches Dokument aus technischen Gründen unmöglich und dies lediglich vorübergehender Natur gewesen sei (§ 32d S. 4 StPO).
Form und Frist des § 45 StPO
Die gesetzlichen Form- und Fristerfordernisse gem. § 45 StPO seien erfüllt. Insbesondere habe der Antragssteller einen Sachverhalt glaubhaft gemacht, der ein fehlendes Verschulden des Angeklagten an der Fristversäumnis belege und Alternativen ausschließt (vgl. BeckOK-StPO/Cirener, 50. Ed., § 45 Rn 6 m.w.N.). Weitergehende Darlegungsanforderungen bestehen nicht.
Ob der Auffassung des 3. Strafsenats zu folgen ist …
Der Senat könne nicht der Rechtsansicht des 3. Strafsenats des BGH folgen, wonach die Zulässigkeit des Wiedereinsetzungsantrags in Fällen, in denen die vorübergehende technische Unmöglichkeit der Einreichung eines Schriftsatzes als elektronisches Dokument geltend gemacht werde, einer aus sich heraus verständlichen, geschlossenen Schilderung der tatsächlichen Abläufe oder Umstände bedürfe (vgl. BGH, Beschl. 5.9.2023 – 3 StR 256/23, NStZ-RR 2023, 347). Gestützt werde dieses Erfordernis auf die für eine zulässige Ersatzeinreichung von Schriftsätzen gemäß § 130d S. 3 ZPO entwickelten Anforderungen (vgl. BGH, Beschl. v. 21.9.2022 – XII ZB 264/22, NJW 2022, 3647; Beschl. v. 1.3.2023 – XII ZB 228/22, NJW-RR 2023, 760, 762). Mit den an die Darlegung des technischen Defekts gestellten Anforderungen solle eine missbräuchliche Übersendung von Schriftsätzen im Zivilprozess nach den allgemeinen Vorschriften verhindert werden (vgl. BT-Drucks 17/12634, S. 27 zu § 130d ZPO). Während das Verschulden des Verfahrensbevollmächtigten nach § 85 Abs. 2 ZPO demjenigen der Partei gleichstehe und daher die Wiedereinsetzung gemäß § 233 S. 1 ZPO versagt werden könne, wenn die elektronische Übermittlung etwa wegen eines technischen Fehlers fehlschlage und der Anwalt nicht die Möglichkeit ergreife, das Dokument nach den allgemeinen Vorschriften fristwahrend zu übermitteln (vgl. BGH, Beschl. v. 1.3.2023 – XII ZB 228/22, NJW-RR 2023, 760, 762), erscheine die Übertragung der insoweit entwickelten Grundsätze auf die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß §§ 44, 45 StPO nicht sachgerecht, weil das Verschulden des Verteidigers bei der formwidrigen Übermittlung von Schriftsätzen dem Angeklagten nicht als eigenes zuzurechnen sei (vgl. BVerfG NJW 1994, 1856; BGH, Beschl. v. 4.7.2023 – 5 StR 145/23, NJW 2023, 3304).
… kann dahinstehen
Es könne letztlich aber dahinstehen, ob das vom 3. Strafsenat postulierte Darlegungserfordernis anzunehmen sei. Denn hier würde das Vorbringen des Antragstellers diesen Anforderungen gerecht, weil es mit Blick auf den glaubhaft gemachten Hardware-Defekt am Kanzleirechner, über den das beA geführt wurde (§ 31a BRAO), und die Dauer der Störung eine verständliche und geschlossene Schilderung enthielte.
Begründetheit
Das Wiedereinsetzungsgesuch sei auch begründet. Den Angeklagten treffe kein Verschulden an der Fristversäumnis (§ 44 Abs. 1 S. 1 StPO). Sie sei nach der Antragsbegründung allein auf das Verschulden seines Verteidigers zurückzuführen. Die versäumte Handlung habe der Angeklagte frist- und formwirksam nachgeholt (§ 45 Abs. 2 S. 2 StPO).
III. Bedeutung für die Praxis
Dissens
1. Da scheint sich also ein Dissens in der Rechtsprechung der Strafsenate des BGH anzubahnen. Man darf gespannt sein, wie die anderen Senate sich, wenn sie Stellung nehmen müssen, positionieren werden, ob sie also der eher strengen Auffassung des 3. Strafsenats folgen oder sich dem 6. Strafsenat anschließen. M.E. spricht einiges für dessen etwas mildere Auffassung, denn die Wiedereinsetzungsfragen laufen ja nun mal im Zivil- und Strafrecht, was die Zurechnung von Verschulden des Verteidigers/Vertreters angeht, nicht parallel. Schließt man sich dem 6. Strafsenat an, hätte das dann allerdings zur Folge, dass, will man konsequent sein, in den Fällen, in denen dem Mandanten ein Verschulden zugerechnet wird, also z.B. beim Nebenklägervertreter und der Nebenklage, die strengere zivilrechtliche Sicht des 3. Strafsenats gelten würde. Unabhängig von dem sich anbahnenden Streit sollte man als Verteidiger natürlich in allen Fällen so vortragen, dass es auch den Anforderungen des 3. Strafsenats genügt. Wir werden im Übrigen in einer der nächsten Ausgaben über die formwirksame Rechtsmitteleinlegung im Hinblick auf den § 32d StPO berichten.
Beginn der Revisionsbegründungsfrist
2. Der BGH hat dann auch noch einmal auf Folgendes hingewiesen: Da das LG bereits ein vollständiges und nicht nach § 267 Abs. 4 StPO nur abgekürztes Urteil abgefasst hatte, das zudem wirksam zugestellt worden war, bedurfte es keiner Rückgabe der Akten an das LG zur Ergänzung der Urteilsgründe oder zur Zustellung des Urteils (vgl. BGH, Beschl. v. 27.9.2022 – 5 StR 328/22; Beschl. v. 6.6.2023 – 5 StR 164/23). Und: Die Frist zur Begründung der Revision beginnt mit der Zustellung des die Wiedereinsetzung gewährenden Beschlusses (vgl. BGH, Beschl. v. 19.6.2019 – 5 StR 18/19).