Eine überlange Dauer des Haftprüfungsverfahrens nach den §§ 121, 122 StPO verletzt den Beschuldigten in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz.
(Leitsatz des Verfassers)
I. Sachverhalt
Gegen den Beschuldigten ist ein Wirtschaftsstrafverfahren anhängig. Er befindet sich seit dem 30.6.2022 ununterbrochen in Untersuchungshaft. Mit Verfügung vom 13.12.2022 übersandte die Staatsanwaltschaft die Akten an das OLG Frankfurt am Main zum Zwecke der besonderen Haftprüfung und beantragte im Verfahren nach den §§ 121, 122 StPO die Fortdauer der Untersuchungshaft gegen den Beschuldigten. Die Akten gingen am 28.12.2022 beim OLG ein. Am Folgetag versandte der Vorsitzende des zuständigen Strafsenats eine Abschrift der Übersendungsverfügung an die Beteiligten und gab ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme. Mit Schreiben vom 9.1.2023 beantragte der Beschuldigte die Aufhebung des Haftbefehls.
Der Beschuldigte hat dann mit Schreiben vom 29.3.2023 beim OLG um Mitteilung gebeten, bis wann mit einer Entscheidung über die U-Haft zu rechnen sei. Das OLG teilte daraufhin mit, dass der Berichterstatter längerfristig krankheitsbedingt verhindert sei. Der Unterzeichnerin liege das Verfahren seit dem 24.3.2023 zur Bearbeitung in Vertretung vor. Angesichts „eigener“ vorrangig zu bearbeitender Haftsachen und anstehenden Urlaubs sei derzeit nicht absehbar, wann eine Entscheidung ergehen werde. Am 13.4.2023 stellte die zuständige Richterin in einem Aktenvermerk die Gründe für die Verzögerung nochmals dar und führte ergänzend eine Corona-Erkrankung in ihrer Familie an.
Der Beschuldigte hat am 16.6.2033 Verfassungsbeschwerde beim BVerfG gegen die Nichtentscheidung des OLG im Haftprüfungsverfahren eingelegt. Das OLG hat mit Beschluss vom 26.6.2023 die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet. Der Beschuldigte hat seine Verfassungsbeschwerde mit der Maßgabe aufrechterhalten, festzustellen, dass ihn die Nichtentscheidung des OLG bis zum 26.6.2023 in seinem Grundrecht auf Freiheit und auf effektiven Rechtsschutz verletze.
II. Entscheidung
Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung angenommen und ihr stattgegeben.
Der zwischenzeitlich ergangene Haftfortdauerbeschluss des OLG vom 26.6.2023 stehe der Zulässigkeit des Feststellungsantrags nicht entgegen. Der Beschwerdeführer habe ein fortdauerndes Rechtsschutzbedürfnis an der Feststellung, dass ihn die überlange Dauer des Haftprüfungsverfahrens in seinem Recht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes verletzt. Der Haftfortdauerbeschluss des OLG treffe keine Aussage über eine Verletzung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz und lasse das Rechtsschutzbedürfnis für eine Feststellung der Verletzung des Art. 19 Abs. 4 GG unberührt.
Das Rechtsschutzbedürfnis sei auch nicht dadurch entfallen, dass das OLG mit seinem Beschluss vom 26.6.2023 den vom Beschuldigten beanstandeten Zustand einer unterbliebenen Entscheidung im besonderen Haftprüfungsverfahren beendet habe. Das OLG habe dadurch, dass es über Monate hinweg im Haftprüfungsverfahren der §§ 121 Abs. 1, 122 StPO nicht entschieden habe, tiefgreifend in das Recht des Beschuldigten auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes eingegriffen, weil es um Rechtsschutz im Zusammenhang mit der Überprüfung eines Freiheitsentzugs geht, der seinerseits einen tiefgreifenden Grundrechtseingriff darstellt. Der Beschuldigte habe daher ein fortbestehendes schutzwürdiges Interesse an einer nachträglichen verfassungsrechtlichen Überprüfung und ggf. einer hierauf bezogenen Feststellung der Verfassungswidrigkeit dieses Grundrechtseingriffs durch das BVerfG.
Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde als offensichtlich begründet angesehen. Die überlange Dauer des Haftprüfungsverfahrens vor dem OLG Frankfurt am Main verletze den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG. Art. 19 Abs. 4 GG gewährleiste nicht nur ein Individualgrundrecht; er enthalte auch eine objektive Wertentscheidung. Sie verpflichte den Gesetzgeber, einen wirkungsvollen Rechtsschutz unabhängig von individuellen Berechtigungen sicherzustellen. Wirksamer Rechtsschutz bedeute auch Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit. Die Angemessenheit der Dauer eines Verfahrens sei nach den besonderen Umständen des einzelnen Falles zu bestimmen.
Der Anspruch auf effektiven Rechtsschutz erlange im Hinblick auf Eingriffe in das Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG in Verbindung mit Art. 104 GG besondere Bedeutung. Bei einem Haftprüfungsverfahren sei außerdem Art. 5 Abs. 4 EMRK zu berücksichtigen. Art. 5 Abs. 4 EMRK gewähre jeder Person, die festgenommen oder der die Freiheit entzogen ist, das Recht zu beantragen, dass ein Gericht innerhalb kurzer Frist über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung entscheidet und ihre Entlassung anordnet, wenn die Freiheitsentziehung nicht rechtmäßig ist. Wenngleich eine feste zeitliche Grenze nicht existiere, sondern die Umstände des Einzelfalls entscheidend seien, sei ein strenger Maßstab anzulegen. Bei einem anhängigen Strafverfahren müsse zügig über die Rechtmäßigkeit der Haft entschieden werden, damit die festgenommene Person vollen Umfangs in den Genuss der Unschuldsvermutung komme.
Diesen Maßstäben sei das OLG nicht gerecht geworden, indem es bis zum 26.6.2023 eine Entscheidung im besonderen Haftprüfungsverfahren unterlassen habe. Das OLG habe dadurch in das Grundrecht des Beschuldigten auf effektiven Rechtsschutz eingegriffen. Die Verfahrensakten seien am 28.12.2022 und damit vor Ablauf der Sechsmonatsfrist zur Haftprüfung an das OLG gelangt. Nach Eingang der Stellungnahme des Beschuldigten am 9.1.2023 seien bis zur Entscheidung des OLG über die Haftfortdauer am 26.6.2023 mehr als fünf Monate vergangen. Zwar ruhe der Fristenlauf des § 121 Abs. 1 StPO bis zur Entscheidung des OLG, sodass dem Beschuldigten formell keine der in §§ 121, 122 StPO vorgeschriebenen Prüfungen verwehrt worden sei. Indem die Entscheidung des OLG aber erst knapp sechs Monate nach Ablauf der Sechsmonatsfrist des § 121 Abs. 1 StPO ergangen sei, habe das OLG durch die überlange Verfahrensdauer dem Beschuldigten faktisch nicht nur die gesetzlich vorgesehene Sechsmonatsprüfung, sondern auch die durch § 122 Abs. 4 StPO vorgeschriebene Nachprüfung nach neun Monaten genommen.
Die vom OLG angeführten Gründe für die Verzögerung rechtfertigen nach Auffassung des BVerfG den Eingriff in das Recht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes nicht. Bei den festgehaltenen Gründen für die Nichtbearbeitung handele es sich um solche, die der Beschuldigte nicht zu vertreten habe und die nicht geeignet seien, eine Verzögerung der Entscheidung über mehrere Monate zu rechtfertigen. Das gelte für den Verweis der Richterin auf ihren bevorstehenden Urlaub und die Corona-Erkrankung in ihrer Familie ebenso wie für den Hinweis auf vorrangig zu bearbeitende „eigene“ Haftsachen. Dass die Richterin erst am 24.3.2023 für das Verfahren vertretungsweise zuständig geworden sei, rechtfertigt die Verzögerung ebenfalls nicht, weil es in der gerichtsinternen Sphäre liegt, dass auf die bereits seit November 2022 bestehende Erkrankung eines Beisitzers erst im März 2023 reagiert wurde. Unabhängig davon seien von der Zuweisung des Verfahrens an die neue Richterin am 24.3.2023 bis zur Entscheidung des OLG am 26.6.2023 noch einmal mehr als drei Monate vergangen. Damit habe das OLG versäumt, dem Recht des Beschuldigten auf Durchführung der besonderen Haftprüfung praktische Wirksamkeit zu verschaffen, weil es ihm den gesetzlich vorgesehenen Rechtsschutz nicht innerhalb angemessener Zeit gewährt habe.
III. Bedeutung für die Praxis
1. Man mag es nicht glauben, wenn man es liest. Da dauert ein Haftprüfungsverfahren nach §§ 121, 122 StPO beim OLG Frankfurt am Main mehr als fünf Monate, also fast so lange, wie U-Haft ohne besondere Haftprüfung durch das OLG nach der StPO überhaupt dauern darf. Und das versucht man dann damit zu entschuldigen, dass der Berichterstattet länger erkrankt sei. Dem kann man nur entgegenhalten, was das BVerfG – mit wohlgesetzten Worten – auch tut: Das ist dem Beschuldigten völlig egal und die Justiz hat dafür zu sorgen, dass dann eben Ersatz zur Verfügung steht. Und die Vertreterin des erkrankten Berichterstatters geht dann, nachdem sie nach drei Monaten – da stand im Grunde die Neun-Monats-Prüfung schon an (!) – die Sache endlich übernommen hat, erst einmal in Urlaub und schiebt eigene – offenbar wichtigere, vielleicht aber auch noch ältere (?) – Haftsachen vor, die eine zeitnahe – nach drei Monaten? – Bearbeitung nicht möglich machen. Und – zum Glück, ich weiß, das klingt zynisch – gibt es dann noch eine Corona-Erkrankung in der Familie, die man auch vorschieben kann. Erst als dann der Beschuldigte bereits Verfassungsbeschwerde eingelegt hat, bequemt sich der Senat im Juni 2023 endlich zu entscheiden; man hat wegen des zeitlichen Zusammentreffens mit der Verfassungsbeschwerde ein wenig den Eindruck: in der Hoffnung, dass das BVerfG die als erledigt ansieht. Aber mitnichten. Das BVerfG geht von einem fortdauernden Feststellungsinteresse aus und entscheidet zugunsten des Beschuldigten. Und man kann dem Beschluss m.E. deutlich anmerken, dass das Verfassungsgericht „not amused“ ist. Und das mit Recht. Denn das Verhalten und die mehr als zögerliche Bearbeitung des Verfahrens durch das OLG Frankfurt am Main ist – mit Verlaub – dreist und ungeheuerlich, wenn man berücksichtigt, dass es um das Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten geht. Bei solchem Verhalten muss man sich über die immer weiter nachlassende Akzeptanz gerichtlicher Entscheidungen nicht wundern.
2. Der Zorn und das Unverständnis richten sich aber nicht nur gegen den lethargischen 1. Strafsenat des OLG Frankfurt am Main, sondern auch gegen die Verwaltung des OLG, die ihren Laden offenbar nicht im Griff hat, und auch gegen das hessische Justizministerium, das solche Verfahrensabläufe, wenn man die Vorgaben der StPO ernst nimmt bzw. ernst nehmen würde, zu verhindern hätte. In meinen Augen ein Versagen der Justiz auf ganzer Linie.