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Praxisforum 2023_11: Verfahrensrecht

Überlassung der beA-Karte und der PIN an Dritte

Die Überlassung der beA-Karte und der PIN des Rechtsanwalts an Dritte (hier: Kanzleimitarbeiter) ist nicht zulässig.

(Leitsatz des Verfassers)

BGH, Beschl. v. 20.6.20232 StR 39/23

I. Sachverhalt

Das LG hat den Angeklagten am 24.8.2022 freigesprochen. Dagegen hat die Nebenklägerin mit einem am 25.8.2022 per Telefax eingegangenen Schriftsatz ihres anwaltlichen Vertreters Revision eingelegt. Das LG hat das Rechtsmittel als unzulässig verworfen, weil die Form des § 32d S. 2 StPO in der Frist zur Einlegung der Revision gemäß § 341 StPO nicht gewahrt wurde.

Nach Zustellung des Beschlusses an den anwaltlichen Vertreter der Nebenklägerin hat dieser am gleichen Tag durch Übermittlung im beA Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und die Revisionseinlegung auf diesem Wege nachgeholt. Den Wiedereinsetzungsantrag hat er damit begründet, er habe am 24.8.2022 mit der Nebenklägerin die Rechtsmitteleinlegung besprochen, am Folgetag den Rechtsmittelschriftsatz der Kanzleiangestellten S diktiert und ihr die Anweisung erteilt, den Schriftsatz durch Übermittlung im besonderen elektronischen Anwaltspostfach und durch Telefax an das LG zu übersenden. Sendeberichte habe diese am nächsten Tag einem ebenfalls in der Kanzlei tätigen Rechtsanwalt zur Kontrolle vorlegen sollen. Er selbst sei am 25.8.2022 zu einer Reise aufgebrochen. Erst nach Zugang des Revisionsverwerfungsbeschlusses der Strafkammer sei erkannt worden, dass die Rechtsmittelschrift nicht im beA übermittelt wurde. Da er im Homeoffice arbeite und die Kanzlei nur zur Wahrnehmung von Besprechungsterminen aufsuche, habe er die Angestellte S gebeten, seine beA-Karte und die PIN in ihrem Schreibtisch zu verwahren; sie wäre daher in der Lage gewesen, den Übermittlungsauftrag auszuführen. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hatte keinen Erfolg.

II. Entscheidung

Der BGH hat das Vorliegen eines Wiedereinsetzungsgrundes verneint. Wenn jemand ohne Verschulden verhindert gewesen sei, eine Frist einzuhalten, sei ihm auf Antrag die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (§ 44 S. 1 StPO). Das sei hier nicht der Fall. Der Nebenklägerin sei, anders als einem Angeklagten bei der Verteidigung gegen einen Schuld- und Rechtsfolgenausspruch, auch das Verschulden ihres anwaltlichen Vertreters zuzurechnen (vgl. BGHSt 30, 309, 310). Dieser habe hier eine fristwahrende Übersendung der Rechtsmittelschrift in der Form des § 32d S. 2 StPO versäumt, ohne für ausreichende Abhilfemöglichkeiten zu sorgen. Die Übergabe seiner beA-Karte und der zugehörigen PIN an die Kanzleiangestellte zu deren Verwendung seien dazu nicht geeignet gewesen.

Die einfache Signatur der Rechtsmittelschrift setze die persönliche Versendung durch die den Schriftsatz verantwortende Person voraus (vgl. u.a. BGH, Beschl. v. 7.2.2023 – 2 StR 162/22). Nach § 24 der Rechtsanwaltsverzeichnis- und -postfachverordnung (RAVPN) können andere Personen als der bevollmächtigte Rechtsanwalt, insbesondere Kanzleimitarbeiter, sich nur mit einem ihnen selbst zugeordneten Zertifikat und der zugehörigen Zertifikats-PIN in einem besonderen elektronischen Anwaltspostfach anmelden. Das sei hier nicht geschehen.

Die Überlassung des eigenen Zertifikats des Rechtsanwalts an die Kanzleimitarbeiterin sei nicht zulässig. Nach § 26 Abs. 1 RAVPN dürfe der Inhaber eines für ihn erzeugten Zertifikates dieses keiner anderen Person überlassen; er habe auch die zugehörige PIN geheim zu halten. Dadurch solle sichergestellt werden, dass die einfache Signatur von der den Schriftsatz verantwortenden Person stamme. Eine Überlassung des Zertifikats an eine nicht angemeldete Person würde es einem Unbefugten ermöglichen, anwaltliche Schriftsätze eigenmächtig zu erstellen oder abzuändern, um sie dann mit einer einfachen Signatur des Rechtsanwalts zu versenden.

Bei einer Übermittlung über das besondere elektronische Anwaltspostfach müsse die Übertragung in das Postfach dieses Verteidigers oder Rechtsanwalts erfolgen und dieser – also nicht etwa ein Kanzleimitarbeiter – der tatsächliche Versender sein (vgl. BGH, Beschl. v. 3.5.2022 – 3 StR 89/22, StraFo 2022, 276 = StRR 7/2022, 16). Die Verordnung über die Rechtsanwaltsverzeichnisse und die besonderen elektronischen Anwaltspostfächer bestimme, dass das Recht, nicht qualifiziert-elektronisch signierte Dokumente alternativ formwahrend über das besondere elektronische Anwaltspostfach zu versenden, nicht auf Dritte übertragen werden dürfe (§ 23 Abs. 3 S. 5 RAVPV); denn das Vertrauen in die Authentizität der mit einfacher Signatur übermittelten elektronischen Dokumente stütze sich auf die Erwartung, dass dieser sichere elektronische Übermittlungsweg ausschließlich von den Inhabern des Anwaltspostfachs selbst genutzt werde und die das Dokument einfach signierende Person mit der des Versenders übereinstimme. Sei das nicht der Fall, werden die Formerfordernisse nach § 32a Abs. 3 Var. 2, Abs. 4 S. 1 Nr. 2 StPO nicht gewahrt (vgl. BGH, Beschl. v. 7.2.2023 – 2 StR 162/22).

III. Bedeutung für die Praxis

1. Durch Überlassung der anwaltlichen Zertifizierung an die Kanzleiangestellte hatte der Rechtsanwalt dieser also keine Möglichkeit zur wirksamen Übersendung der Rechtsmittelschrift auf einem sicheren Übermittlungsweg eröffnet. Daher war das Vorbringen im Wiedereinsetzungsantrag nicht geeignet, eine auch vom anwaltlichen Bevollmächtigten der Nebenklägerin nicht verschuldete Versäumung der Frist zur formgerechten Einlegung der Revision darzulegen.

2. Die Entscheidung entspricht sowohl dem Wortlaut – „von der verantwortenden Person signiert und … eingereicht“ – in § 32a Abs. 3 StPO (vgl. zum wortgleichen § 130a Abs. 3 StPO OLG Braunschweig, Beschl. v. 8.4.2019 – 11 U 146/18) als auch der systematischen Gleichstellung der sicheren Übermittlungswege mit der qualifizierten elektronischen Signatur (dazu auch BAG, Beschl. v. 5.6.2020 – 10 AZN 53/20 [zu § 130a ZPO]) sowie dem Sinn und Zweck der Regelung des § 32a Abs. 3 Alt. 2 StPO, die Funktion der Schriftform, die Identität des Urhebers und der Authentizität des Dokuments zu gewährleisten, durch „funktionssichere“ Übermittlungswege zu ersetzen (BGH, Beschl. v. 3.5.2022 – 3 StR 89/22, StraFo 2022, 276 = StRR 7/2022, 16 m.w.N.). Fazit aus der Entscheidung kann daher nur sein, dass beA-Karte und/oder PIN des Rechtsanwalts eben nicht weitergegeben werden. Und wenn man es dennoch tut, sollte man es zumindest nicht offenlegen.

3. Nach § 26 Abs. 1 RAVPV darf der Inhaber eines besonderen elektronischen Anwaltspostfachs ein für ihn erzeugtes Zertifikat keiner weiteren Person überlassen und hat die dem Zertifikat zugehörige Zertifikats-PIN geheim zu halten. Möglich ist nach § 23 Abs. 2 und 3 RAVPV zwar, unter den dort genannten Voraussetzungen anderen Personen Zugang zu dem besonderen elektronischen Anwaltspostfach zu gewähren und von einem Rechtsanwalt qualifiziert signierte elektronische Dokumente auf einem sicheren Übermittlungsweg zu übersenden. Voraussetzung ist aber, dass für die anderen Personen ein Zugangskonto angelegt ist und der Zugang der anderen Personen über ihr Zugangskonto unter Verwendung eines ihnen zugeordneten Zertifikats und einer zugehörigen Zertifikats-PIN erfolgt. Handelt der Inhaber eines besonderen elektronischen Anwaltspostfachs dem zuwider und überlässt er das nur für seinen Zugang erzeugte Zertifikat und die zugehörige Zertifikats-PIN einem Dritten, muss er sich so behandeln lassen, als habe er die übermittelte Erklärung selbst abgegeben (vgl. BGH, Beschl. v. 31.8.2023 – VIa ZB 24/22; BSG, Urt. v. 14.7.2022 – B 3 KR 2/21 R).

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

Umfang und Reichweite der verständigungsbezogenen Mitteilungspflicht

Umfang und Reichweite der verständigungsbezogenen Mitteilungspflicht gebieten nicht nur mitzuteilen, dass es Erörterungen mit verständigungsbezogenem Inhalt gegeben hat, sondern auch deren wesentlichen Inhalt. Hierzu gehört in der Regel, wer an dem Gespräch teilgenommen hat, von welcher Seite die Frage einer Verständigung aufgeworfen worden ist, welche Standpunkte die einzelnen Gesprächsteilnehmer vertreten haben und ob sie bei anderen Gesprächsteilnehmern auf Zustimmung oder Ablehnung gestoßen sind.

(Leitsatz des Verfassers)

BGH, Beschl. v. 10.8.20233 StR 93/23

I. Sachverhalt

Das LG hat den Angeklagten wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge verurteilt. Der Angeklagte hat dagegen Revision eingelegt und gerügt, der Vorsitzende habe gegen seine Pflicht nach § 243 Abs. 4 S. 2 i.V.m. S. 1 StPO verstoßen, den wesentlichen Inhalt von außerhalb der Hauptverhandlung geführten verständigungsbezogenen Erörterungen mitzuteilen. Die Revision hatte Erfolg.

Der Rüge liegt im Wesentlichen das folgende Verfahrensgeschehen zugrunde: Die Hauptverhandlung wurde auf Anregung der Verteidigung am ersten Sitzungstag unterbrochen, um Verständigungsmöglichkeiten zu erörtern. Bei dem Gespräch sagte der Vorsitzende in Anwesenheit der Beisitzerin, der Schöffen, des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft, der beiden Verteidiger und des Angeklagten sinngemäß, für den Fall eines Geständnisses könne die Strafkammer einen Strafrahmen von fünf Jahren und sechs Monaten bis zu sechs Jahren und sechs Monaten zusagen. Er erläuterte dessen Angemessenheit und äußerte, die geständige Einlassung könne auch dazu führen, dass sich die Tat nicht als täterschaftliches Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, sondern lediglich als Beihilfe hierzu darstelle. Daraufhin erklärte der Vertreter der Staatsanwaltschaft, er wolle dem genannten Strafrahmen nicht entgegentreten, während die Verteidigung nicht Stellung nahm. Nach Fortsetzung der Hauptverhandlung machte der Vorsitzende Angaben zu dem Gespräch. Die Mitteilung verhielt sich aber nicht zu der Erklärung des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft sowie dem Hinweis des Vorsitzenden auf eine etwaige Beihilfestrafbarkeit bei entsprechender geständiger Einlassung.

Im nächsten Hauptverhandlungstermin äußerte die Verteidigung, der Angeklagte nehme das Angebot des Gerichts nicht an.

Nach zehn weiteren Sitzungstagen fand auf Anregung der Verteidigung in Unterbrechung der Hauptverhandlung ein weiteres Gespräch statt, das auf die Herbeiführung einer Verständigung gerichtet war. Am darauffolgenden Sitzungstag gab der Vorsitzende bekannt, dass nach dem vorausgegangenen Hauptverhandlungstermin auf Anregung der Verteidigung ein weiteres Gespräch zur Herbeiführung einer verfahrensabkürzenden Absprache zwischen der Strafkammer, den Verteidigern sowie der Staatsanwaltschaft stattgefunden habe und welcher (erhöhte) Strafrahmen dem Angeklagten nunmehr „für ein Geständnis“ als „Ergebnis“ zugesagt worden sei. Die Mitteilung verhielt sich wiederum nicht zu der Erklärung des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft sowie zu den Äußerungen der Beteiligten mit Bezug zu einer etwaigen Beihilfestrafbarkeit. Anschließend wurde der Angeklagte über die Voraussetzungen und Folgen einer möglichen späteren Abweichung des Gerichts von der in den Blick genommenen Verständigung belehrt (§ 257c Abs. 5 StPO).

Im nächsten Hauptverhandlungstermin äußerte der Angeklagte, einer solchen verfahrensabkürzenden Absprache nicht zuzustimmen, und ließ sich weiter bestreitend zur Sache ein. Zu einer Verständigung kam es auch in der Folgezeit nicht mehr.

II. Entscheidung

Der BGH verweist zunächst darauf, dass der revisionsgerichtlichen Prüfung das vom Angeklagten vorgetragene Verfahrensgeschehen zugrunde zu legen sei. Die behaupteten Vorgänge in der Hauptverhandlung seien insbesondere durch die Sitzungsniederschrift (§ 274 Abs. 1 StPO) und daneben durch die Urteilsurkunde bewiesen. Dem Revisionsvorbringen zu den außerhalb der Hauptverhandlung geführten Gesprächen stünden weder die Gegenerklärung der Staatsanwaltschaft (§ 347 Abs. 1 S. 2 und 3 StPO) noch die – vom Senat im Wege des Freibeweises eingeholten – dienstlichen Stellungnahmen des Vorsitzenden und der Beisitzerin entgegen. Die dienstlichen Erklärungen seien, was der BGH im Einzelnen ausführt, zumindest als nicht hinreichend substantiiert zu bewerten, um das Revisionsvorbringen zu den außerhalb der Hauptverhandlung geführten Gesprächen in Zweifel ziehen zu können.

Der Vorsitzende habe – so der BGH – bereits deshalb prozessordnungswidrig gehandelt, weil er nach den beiden verständigungsbezogenen Erörterungen jeweils nicht mitgeteilt habe, wie sich der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft dabei erklärt hatte. Nach § 243 Abs. 4 S. 1 StPO sei, um dem Transparenzgebot, dem die Vorschrift diene, gerecht zu werden, nicht nur der Umstand mitzuteilen, dass es Erörterungen mit verständigungsbezogenem Inhalt gegeben habe, sondern auch deren wesentlicher Inhalt. Hierzu gehöre in der Regel, wer an dem Gespräch teilgenommen habe, von welcher Seite die Frage einer Verständigung aufgeworfen worden sei, welche Standpunkte die einzelnen Gesprächsteilnehmer vertreten haben und ob sie bei anderen Gesprächsteilnehmern auf Zustimmung oder Ablehnung gestoßen seien. Das gelte auch dann, wenn eine Verständigung i.S.d. § 257c Abs. 3 StPO letztlich nicht zustande gekommen ist (st. Rspr., wie etwa BGH, Urt. v. 3.11.2022 – 3 StR 127/22, NStZ 2023, 306 Rn 19 m.w.N.; Beschl. v. 8.3.2023 – 3 StR 15/23, StraFo 2023, 236, 237).

Gemessen daran habe den Vorsitzenden nach beiden Gesprächen die Pflicht zur Bekanntgabe, welchen Standpunkt die Staatsanwaltschaft zu dem gerichtlichen Verständigungsvorschlag vertreten hatte, getroffen. Denn sie habe jeweils eine mitteilungspflichtige Position hierzu eingenommen. Entgegen der Ansicht, die augenscheinlich der Revisionsgegenerklärung und den dienstlichen Stellungnahmen der Richter zugrunde gelegen hat, habe die Staatsanwaltschaft auch dann einen Standpunkt, wenn sie eine vorläufige zustimmende Einschätzung abgebe. Jede befürwortende oder ablehnende Äußerung unterfalle der Mitteilungspflicht. Verbindliche Erklärungen, also solche, die die Bindungswirkung auslösen, seien ohnehin dem Verfahren nach § 257c StPO vorbehalten. Nur wenn sich die Staatsanwaltschaft – anders als hier – nicht zu einem Vorschlag positioniere, müsse dies der Vorsitzende nicht in der Hauptverhandlung mitteilen (vgl. LR/Becker, StPO, 27. Aufl., § 243 Rn 60 [Fn 246]; entsprechend für den Verteidiger BGH, Beschl. v. 22.7.2014 – 1 StR 210/14, NStZ 2015, 48; a.A. KK-StPO/Schneider, 9. Aufl. 2023, § 243 Rn 61). Ohne dass es für die Prozessordnungswidrigkeit der Mitteilungen i.S.v. § 243 Abs. 4 S. 2 i.V.m. S. 1 StPO noch entscheidungserheblich darauf ankomme, trete hinzu, dass der Vorsitzende die Äußerungen zu einer etwaigen Beihilfestrafbarkeit ebenso wenig bekannt gegeben habe.

III. Bedeutung für die Praxis

1. Eine der vielen Entscheidungen des BGH zur verständigungsbezogenen Mitteilungspflicht des Vorsitzenden. M.E. ist deutlich zu erkennen, dass der Schwerpunkt der Rechtsprechung derzeit in dem Bereich liegt. Entscheidungen zum Inhalt und zu sonstigen Fragen der Verständigung sind längst nicht so häufig wie solche zur Mitteilungspflicht.

2. Für die Verteidigung sind die Fragen deshalb von Bedeutung, weil das Urteil auf an dieser Stelle gemachten Verfahrensfehlern i.d.R. beruht (§ 337 Abs. 1 StPO; vgl. dazu BVerfG NStZ 2015, 172, 173 und StraFo 2020, 147, 150). So nach den Ausführungen des BGH auch hier. Dabei wird davon ausgegangen, dass das gesamte Urteil auf dem Verstoß gegen die Mitteilungspflicht gem. § 243 Abs. 4 StPO beruht. Dies wird nicht bereits dann verneint, wenn sich der Mitteilungsmangel nicht in entscheidungserheblicher Weise auf das Prozessverhalten des Angeklagten ausgewirkt haben kann. Mit Blick auf die Kontrollfunktion der Mitteilungspflicht ist der normative Zusammenhang zwischen Verfahrensfehler und Verurteilung nach der Rechtsprechung des BGH vielmehr erst durchbrochen, wenn der Inhalt der geführten Gespräche zweifelsfrei feststeht und sicher auszuschließen ist, dass sie auf die Herbeiführung einer gesetzwidrigen Absprache gerichtet waren (vgl. BGH, Urt. v. 3.11.2022 – 3 StR 127/22, NStZ 2023, 306; Beschl. v. 8.3.2023 – 3 StR 15/23, StraFo 2023, 236, 237). Diese Voraussetzungen lagen hier nicht vor. Weder war der Inhalt der von der Verteidigung angeregten verständigungsbezogenen Erörterungen ausreichend geklärt, soweit sie eine etwaige Beihilfestrafbarkeit zum Gegenstand hatten, noch war mit der gebotenen Sicherheit auszuschließen, dass sie unter Umständen auf eine entsprechende unzulässige Einigung über den Schuldspruch zielten.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

Erkenntnisse aus „ANOM“-Chatverläufen

Die Erkenntnisse aus der Auswertung gesicherter Chatverläufe des Krypto-Messengerdienstes „ANOM“ sind mangels Überprüfbarkeit nicht verwertbar.

(Leitsatz des Verfassers)

LG Memmingen, Urt. v. 21.8.20231 Kls 401 Js 10121/22

I. Sachverhalt

Die Staatsanwaltschaft hat dem Angeklagten mit ihrer Anklage mehrere Verstöße gegen das BtMG vorgeworfen. Als Beweismittel haben (nur noch) Erkenntnisse aus der Auswertung gesicherter Chatverläufe des Krypto-Messengerdienstes „ANOM“ zur Verfügung gestanden. Das LG hat deren Verwertbarkeit verneint und den Angeklagten freigesprochen.

II. Entscheidung

Das LG ist hinsichtlich der Erkenntnisse aus der Auswertung der beiden vorliegenden ANOM-Chatverläufe vom Vorliegen eines Beweisverwertungsverbots ausgegangen.

Der Krypto-Messengerdienst „ANOM“ stelle ein verschlüsseltes Kommunikationssystem dar, welches durch das amerikanische FBI entwickelt und inkognito unter kriminellen Organisationen vermarktet wurde. Den Nutzern sei Anonymität garantiert worden, denn die Mobiltelefone sollten abhörsicher und verschlüsselt, von Strafverfolgungsbehörden also nicht zu verfolgen sein. Tatsächlich habe das FBI aber die Möglichkeit gehabt, sämtliche über „ANOM“ verschickte Nachrichten zu entschlüsseln und mitzulesen, was den Nutzern der Krypto-Handys nicht bekannt gewesen sei.

Die überwiegenden Nutzer der „ANOM“-Krypto-Handys seien nicht Staatsbürger der USA und nicht ansässig in den USA gewesen. Das FBI habe im Sommer 2019 im Zuge der Entwicklung von „ANOM“ nach einem Drittland außerhalb der USA gesucht, um dort einen Server zur Erhebung der „ANOM“-Daten einzurichten. Dem Drittland wurde auf dessen Bitte hin zugesichert, dass dessen Identität geheim gehalten werde. Das Drittland erhob ab Oktober 2019 aufgrund eines gerichtlichen Beschlusses die Daten des „ANOM“-Servers und leitete sie an das FBI im Wege der Rechtshilfe weiter. Im Rahmen des daraufhin vom FBI eingeleiteten Verfahrens namens „Trojan Shield“ seien u.a. Taten mit Deutschlandbezug bekannt geworden. Der nationale gerichtliche Beschluss des Drittlands sei zum 7.6.2021 ausgelaufen, sodass ab diesem Zeitpunkt keine Daten mehr erhoben worden seien.

Die GStA Frankfurt am Main habe am 21.4.2021 und am 28.9.2021 Rechtshilfeersuchen an die US-amerikanischen Justizbehörden gestellt, woraufhin die „ANOM“-Daten über das Bundeskriminalamt übermittelt worden seien. Mit Schreiben vom 3.6.2021 habe das FBI die Erlaubnis zur offiziellen Verwendung der Daten in Ermittlungs- und Gerichtsverfahren erteilt. In diesem Zusammenhang habe das FBI jedoch im Schreiben vom 3.6.2021 wie auch in einem weiteren Schreiben vom 22.12.2021 ausdrücklich klargestellt, dass es keine Zusicherungen hinsichtlich zusätzlicher Unterstützung, wie etwa in Bezug auf Zeugenaussagen oder Dokumentenauthentifizierung im Rahmen von Gerichtsverfahren, mache. In seinem Schreiben vom 22.12.2021 habe das FBI ausgeführt: „Das FBI ist weder jetzt noch in der Zukunft in der Lage, die Identität des vorgenannten Drittlandes freizugeben.“

Seitens des FBI sei in einem weiteren Schreiben an die GenStA Frankfurt am Main vom 27.4.2022 lediglich die Information erteilt worden, dass es sich bei dem Drittland um einen Mitgliedstaat der Europäischen Union handle und dass die Daten in dem Drittland nach dem dortigen nationalen Recht auf der Grundlage einer gerichtlichen Anordnung erhoben worden seien. Ferner sei mitgeteilt worden, dass die überwiegende Mehrheit der die „ANOM“-Handys nutzenden Personen nicht Staatsbürger der USA und auch nicht in den USA ansässig seien.

Da die Identität des Drittlands unbekannt sei, liegen – so das LG – auch keine entsprechenden Gerichtsbeschlüsse aus dem Drittland vor. Dem BKA sei der Drittstaat ebenso wenig bekannt wie der Grund für dessen Geheimhaltung durch das FBI (vgl. BT-Drucks 20/1249, S. 6). Dies habe auch ein Zeuge vom BKA Wiesbaden bestätigt, wonach dem BKA nie mitgeteilt worden sei, wo der Server stand und wie die Datenerhebung durch das FBI abgelaufen ist. Auch der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt a.M. seien weder das Drittland noch die dort nach den Behauptungen des FBI ergangenen Gerichtsbeschlüsse bekannt, wie sich aus mehreren in der Hauptverhandlung verlesenen dienstlichen Stellungnahmen von Staatsanwälten ergebe.

Die Strafkammer konnte mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln keine weitergehenden Informationen gewinnen. Eine Einsichtnahme und Überprüfung der Gerichtsbeschlüsse zur Erhebung der „ANOM“-Daten sei den Verfahrensbeteiligten und der Kammer daher nicht nur derzeit, sondern aufgrund der auch für die Zukunft verweigerten Preisgabe weiterer Informationen durch das FBI auch künftig nicht möglich.

Zwar sehe das deutsche Recht keine ausdrückliche Verwendungsbeschränkung für im Wege der Rechtshilfe aus dem Ausland erlangte Daten vor. Nach der Rechtsprechung des BGH (vgl. u.a. Beschl. v. 2.3.2022 – 5 StR 457/21) lasse aufgrund des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung ein von den nationalen deutschen Vorschriften abweichendes Verfahren die Verwertbarkeit von im Ausland erhobenen Beweisen grundsätzlich unberührt und verpflichte die deutschen Gerichte nicht dazu, die Rechtmäßigkeit von originär im Ausland geführten Ermittlungsmaßnahmen anhand der Vorschriften des ausländischen Rechts auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen.

Beweisverwertungsverbote würden nur in Ausnahmefällen eingreifen, etwa wenn die im Ausland erhobenen Beweise unter Verletzung völkerrechtlich verbindlicher und dem Individualrechtsgüterschutz dienender Garantien, wie etwa Art. 3 oder Art. 6 EMRK, oder unter Verstoß gegen die allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätze im Sinne des „ordre public“ gewonnen wurden oder aber wenn die Ermittlungshandlung der Umgehung nationaler Vorschriften diente. Es müsse also ein so schwerer Mangel vorliegen, dass der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens erschüttert ist. Nur das könne ein deutsches Gericht prüfen und feststellen. Diese Ansicht haben in Bezug auf „ANOM“-Verfahren verschiedene Oberlandesgerichte im Rahmen von Haftvorlagen bzw. Beschwerdeentscheidungen geteilt und sich so positioniert, dass die „ANOM“-Daten mit hoher Wahrscheinlichkeit bzw. vorläufig als verwertbar angesehen werden.

Zwar habe der BGH in Bezug auf den Krypto-Messengerdienst „EncroChat“ entschieden, dass die durch die französischen Ermittlungsbehörden gewonnenen Erkenntnisse aus der Telekommunikationsüberwachung mittels „EncroChat“ im Ergebnis verwertbar seien (BGH, Beschl. v. 8.2.2022 – 6 StR 639/21). Die in der Rechtsprechung zu den „EncroChat“-Fällen vertretene Ansicht, dass kein „Befugnis-Shopping“ im Sinne einer planmäßigen Umgehung eigener nationaler Vorschriften durch den Bezug von Beweisen aus dem Ausland vorliege, könne aber nicht für den vorliegenden Fall übernommen werden. Denn bei den „EncroChat“-Fällen stehe fest, dass sich der die Daten liefernde Server in Frankreich befand und dass durch das örtlich und sachlich zuständige französische (Ermittlungs-)Gericht die erforderlichen Beschlüsse zur Datenerhebung erlassen worden waren. So hätten die nationalen Gerichte die ihnen bereitgestellten französischen Beschlüsse auf eine eventuelle Verletzung völkerrechtlich verbindlicher und dem Individualrechtsgüterschutz dienender Garantien, wie etwa Art. 3 oder Art. 6 EMRK, oder auf einen eventuellen Verstoß gegen die allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätze im Sinne des „ordre public“ hin überprüfen können.

Hingegen scheitere in den „ANOM“-Verfahren eine solche Überprüfung daran, dass durch das FBI oder das amerikanische Justizministerium nicht einmal das den Server beherbergende Drittland genannt wird, geschweige denn die dort ergangenen gerichtlichen Beschlüsse zur Datenerhebung zur Verfügung gestellt werden. Die gerichtlichen Beschlüsse des Drittlands seien damit bislang nur vom Hörensagen bekannt. Mit diesem Umstand hätten sich die vorliegenden Entscheidungen der OLG ersichtlich nicht befasst. Angesichts der zeitlich frühen Befassung der OLG mit dem „ANOM“-Komplex könne diesen auch kaum der im hiesigen Verfahren erlangte Kenntnisstand vorgelegen haben, zumal zeitlich später erfolgte Rechtshilfemaßnahmen der GStA Frankfurt am Main und wesentliche erst Anfang 2023 erlangte Erkenntnisse von der GStA Frankfurt am Main zurückgehalten und erst im Laufe der Hauptverhandlung in einem anderen beim LG Memmingen parallel verhandelten Verfahren zur Verfügung gestellt worden sind.

Für einen Beschuldigten bestehe bei dieser Sachlage in Ermangelung eines gerichtlichen Beschlusses keine Möglichkeit, den Beschluss zu überprüfen und sich gegen den Beschluss gerichtlich zur Wehr zu setzen. Der zwischen den Mitgliedstaaten der EU etablierte Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung im Sinne eines gegenseitigen Vertrauens der Mitgliedstaaten darauf, dass ihre jeweiligen nationalen Rechtsordnungen in der Lage sind, einen gleichwertigen und wirksamen Schutz der auf Unionsebene und in der Grundrechtscharta anerkannten Grundrechte zu bieten, darf sich für den Beschuldigten nicht dergestalt negativ auswirken, dass er keine Möglichkeit hat, die Ursprungsmaßnahme (hier in Bezug auf die Datenerhebung in dem Drittstaat) gerichtlich überprüfen zu lassen. Es bestehe für den Beschuldigten demnach eine mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens nicht zu vereinbarende Rechtsschutzlücke. Unabhängig davon bestehe auch für die nationalen Gerichte wie vorliegend für die Kammer im Rahmen eines Strafverfahrens keine Möglichkeit, zu überprüfen, ob bei Erlass des Beschlusses bzw. der Beschlüsse die rechtsstaatlichen Mindestgrundsätze eingehalten worden sind.

Wenn keinerlei Beschlüsse vorliegen, um die Einhaltung der rechtsstaatlichen Mindestanforderungen zu prüfen, unter welchen Umständen die Daten erlangt wurden und ob die Daten manipuliert wurden, müsse von einer Beweislastumkehr ausgegangen werden, sodass die Staatsanwaltschaft nachweisen müsse, dass rechtsstaatliche Grundsätze gewahrt wurden und kein Beweisverwertungsverbot vorliege. So habe auch der EGMR in seinem Urteil vom 23.10.2014 (54648/09 [Furcht/Deutschland], MW 2015, 3631) ausgeführt, dass es der Strafverfolgungsbehörde obliegt, zu beweisen, dass keine zu einem Beweisverwertungsverbot führende Situation vorgelegen habe. Ferner habe der EGMR festgestellt, dass dieser Beweislast nur schwerlich genügt werden könne, wenn die Ermittlungsmaßnahme nicht förmlich genehmigt war, und auf die Notwendigkeit eines verständlichen und vorhersehbaren Verfahrens für die Genehmigung von Ermittlungsmaßnahmen und deren ordnungsgemäße Überwachung hingewiesen.

Die Kammer weist noch darauf hin, dass es – anders als bei den „EncroChat“-Fällen, in denen bekannt sei, dass der Server in Frankreich gestanden habe und überprüfbare Beschlüsse eines französischen Ermittlungsgerichts existieren – bei den „ANOM“-Verfahren nicht ausgeschlossen werden könne, dass es sich bei dem vom FBI unter Verschluss gehaltenen Drittland sogar um Deutschland handelt. Das würde zu dem paradoxen Ergebnis führen, dass ein sich mit einem „ANOM“-Verfahren befassendes deutsches Gericht daran gehindert wäre, einen nach den nationalen Vorschriften der StPO zur Telekommunikationsüberwachung und von einem deutschen Ermittlungsrichter erlassenen Beschluss zur Erhebung von Kommunikationsdaten zu überprüfen, obwohl die Ermittlungsmaßnahme in Deutschland erfolgt sei. Damit läge eine bewusste und vorsätzliche Umgehung der maßgeblichen Vorschriften der StPO zur Kommunikationsüberwachung vor, die die Unverwertbarkeit der erhobenen Beweise zur Folge haben müsse.

In Ermangelung hinreichender Informationen zur Auswahl des Drittstaats durch das FBI, zu den zwischenstaatlichen Absprachen und zu den im Drittstaat ergangenen gerichtlichen Beschlüssen könne außerdem ein sog. Befugnis-Shopping im Sinne einer planmäßigen Umgehung der eigenen nationalen Vorschriften nicht ausgeschlossen werden. Es bestehe die Möglichkeit, dass die deutschen Behörden durch ein planmäßiges Vorgehen zur Umgehung der maßgeblichen Vorschriften der StPO zur Kommunikationsüberwachung an der vorn FBI betriebenen Datengewinnung in einem anderen Land der Europäischen Union mitgewirkt haben, oder aber auch, dass das FBI zur Umgehung der in den USA geltenden maßgeblichen Vorschriften zur Kommunikationsüberwachung einen Drittstaat ausgewählt habe, in dem niedrigere Hürden für die Anordnung einer Kommunikationsüberwachung als in den USA gelten, um dort gezielt Daten zu erheben. Für die zweitgenannte Möglichkeit spreche insbesondere der Umstand, dass die erhobenen „ANOM“-Daten Staatsbürger der USA oder in den USA ansässige bzw. aufhältige Personen nicht betreffen. Die US-Behörden legten insbesondere Wert darauf, dass amerikanisches Hoheitsgebiet nicht tangiert wird.

Letztlich war die Kammer auch nicht davon überzeugt, dass gegen jeden Erwerber bzw. Nutzer eines „ANOM“-Kryptohandys ein Anfangsverdacht der Begehung von Straftaten bestehe. Vielmehr handele es sich bei der von den Ermittlungsbehörden aufgestellten These, dass jeder Erwerber bzw. Nutzer dem kriminellen Milieu zuzuordnen sei und ausschließlich strafbare Inhalte auf den Kryptohandys generiert werden, um einen pauschalisierten Generalverdacht. Im Ergebnis laufe diese auf einem Generalverdacht beruhende, vollumfassende Überwachung aller Aktivitäten der „ANOM“-Nutzer auf eine anlasslose Massenüberwachung und damit eine im Kern geheimdienstliche Maßnahme hinaus. So erlangte Informationen können nicht zur Verwertung im Strafverfahren umgewidmet werden, da eine solche Maßnahme nach der StPO nicht zulässig ist und auch mit grundgesetzlichen Wertungen nicht in Einklang zu bringen sei (vgl. BVerfG NJW 2002, 2235, 2256).

III. Bedeutung für die Praxis

1. Auch die vom LG Memmingen angeführten OLG sind in ihrer Rechtsprechung bisher im Rahmen von Haftvorlagen bzw. Beschwerdeentscheidungen davon ausgegangen, dass die „ANOM“-Daten mit hoher Wahrscheinlichkeit bzw. vorläufig als verwertbar anzusehen sind (OLG Jena, Beschl. v. 17.1.2022 – 3 Ws 476/21; OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 22.11.2021 – 1 HEs 427/21, StraFo 2022, 203; Beschl. v. 22.11.2021 – 1 HEs 427/21; Beschl. v. 14.2.2022 – 1 HEs 509/21 u.a.; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 29.11.2021 – HE 1 Ws 313-315/21; OLG Saarbrücken, Beschl. v. 30.12.2022 – 4 HE 35/22; OLG Stuttgart, Beschl. v. 21.12.2021 – H 6 Ws 176–177/21). Das LG Memmingen hat sie nun also als unverwertbar angesehen und sich mit der Begründung des von ihm angenommenen Beweisverwertungsverbots viel Mühe gemacht. Ebenso hat inzwischen das OLG München entschieden (Beschl. v. 19.10.2023 – 1 Ws 525/23).

2. Aber: Der Krieg ist für den Angeklagten und seinen Verteidiger noch nicht gewonnen, sondern nur eine erste Schlacht. Denn die Staatsanwaltschaft hat die landgerichtliche Entscheidung natürlich nicht hingenommen und Revision eingelegt. Wir werden zu der Frage also demnächst etwas vom 1. Strafsenat des BGH hören. Das ist dann aber ggf. auch nur das nächste Wort. Kommt der BGH zu einem anderen Ergebnis, wird der Angeklagte im Zweifel gegen ein dann ihn verurteilendes Urteil Verfassungsbeschwerde einlegen. Ob das Wort aus Karlsruhe dann das letzte ist, wird man sehen. Vielleicht äußert sich ja auch der EGMR noch zu diesen Fragen.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

Vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis nach längerer Zeit

Eine vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis ist unverhältnismäßig, wenn sie mehr als 13 Monate nach dem Unfallereignis erfolgt und die bisherige Sachbehandlung durch die Ermittlungsbehörde und das Gericht zudem eklatant gegen das Beschleunigungsgebot verstößt.

(Leitsatz des Verfassers)

LG Stuttgart, Beschl. v. 4.8.20239 Qs 39/23

I. Sachverhalt

In einem Verfahren mit dem Vorwurf des unerlaubten Entfernens vom Unfallort (§ 142 StGB) – Tatzeit war der 2.6.2022 – geschieht im Hinblick auf eine vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis nichts. Am 20.6.2023 beantragt die Staatsanwaltschaft dann einen Strafbefehl und beantragt, der Angeklagten nach § 111a StPO vorläufig die Fahrerlaubnis zu entziehen. Das AG erlässt am 23.6.2023 den Strafbefehl, hinsichtlich der Fahrerlaubnis geschieht nichts. Der Verteidiger äußert sich am 10.7.2023 zur beantragten vorläufigen Entziehung und legt am 17.7.2023 zudem für die Angeklagte Einspruch gegen den zwischenzeitlich zugestellten Strafbefehl ein.

Zwei Tage später, am 19.7.2023, beschließt das AG die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis und führt aus: Zwar liege das verfahrensgegenständliche Unfallereignis bereits mehr als 13 Monate zurück, jedoch überwiege das öffentliche Interesse an der Sicherheit des Straßenverkehrs die Interessen der Angeklagten als Fahrerlaubnisinhaberin.

Dagegen legt die Angeklagte Beschwerde ein, die beim LG Erfolg hat:

II. Entscheidung

Zwar sei, so das LG, die Angeklagte der ihr zur Last gelegten Tat dringend verdächtig. Dagegen erscheine auf der Rechtsfolgenseite insbesondere aufgrund der seither vergangenen Zeit fraglich, ob die von § 111a Abs. 1 StPO vorausgesetzten dringenden Gründe für die Annahme, dass der Angeklagten mit Abschluss des Verfahrens die Fahrerlaubnis entzogen werden wird, gegeben seien.

Das AG habe sich in dem angefochtenen Beschluss lediglich mit der seit dem verfahrensgegenständlichen Unfallereignis vergangenen Zeit knapp auseinandergesetzt, ansonsten aber ausschließlich belastende Umstände in den Blick genommen. Unberücksichtigt geblieben sei der Umstand, dass sich die Angeklagte, soweit ersichtlich, seither im Straßenverkehr beanstandungsfrei verhalten habe. Darüber hinaus habe das AG nicht in seine Erwägungen einbezogen, dass die Angeklagte sich am 3.6.2022, mithin lediglich rund 14 Stunden nach dem Unfallereignis, auf das zuständige Polizeirevier begeben und dort ihre Unfallbeteiligung eingeräumt habe.

Angesichts dieses Ablaufs spreche einiges dafür, dass trotz des möglicherweise beträchtlichen Sachschadens ein die Regelvermutung des § 69 Abs. 2 StGB widerlegender Ausnahmefall gegeben ist. Denn in der Rechtsprechung sei anerkannt, dass dies insbesondere in Betracht komme, wenn im Hinblick auf einen die Feststellungen nachträglich ermöglichenden Täter die Anwendung des § 142 Abs. 4 StGB daran scheitert, dass der Sachschaden nicht unerheblich gewesen sei oder es sich um einen Unfall im fließenden Verkehr gehandelt habe und tätige Reue deshalb ausscheide (vgl. LG Aurich NZV 2013, 53; LG Gera StV 2001, 357; LG Zweibrücken, Beschl. v. 11.3.2003 – Qs 31/03; AG Bielefeld NZV 2014, 378; s. auch Fischer, StGB, 70. Aufl. 2023, § 142 Rn 30).

Jedenfalls unterliegt der Beschluss nach Auffassung des LG aber deshalb der Aufhebung, weil die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis, die mehr als 13 Monate nach dem Unfallereignis erfolgt sei, aufgrund dieser Zeitspanne nicht verhältnismäßig sei und die bisherige Sachbehandlung zudem eklatant gegen das Beschleunigungsgebot verstoße. Zwar könne die Fahrerlaubnis grundsätzlich auch noch in einem späteren Verfahrensabschnitt vorläufig nach § 111a StPO entzogen werden. Eine feste Grenze, ab deren Erreichen oder Überschreiten die Anordnung der Maßnahme ausscheidet, existiere nicht. Erfolge die vorläufige Entziehung erst längere Zeit nach der Tatbegehung, sei jedoch, da es sich bei § 111a StPO um eine Eilentscheidung handele, die Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes besonders sorgfältig zu prüfen. Von diesen Maßstäben ausgehend sei die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis nicht gerechtfertigt. Denn obwohl die Fahrereigenschaft der Angeklagten bereits einen Tag nach dem Unfallereignis festgestanden habe und sich der Verdacht eines erheblichen Sachschadens schon aufgrund des Schadensbildes vor Ort geradezu aufgedrängt habe, sei das Verfahren insbesondere nach dem Abschluss der polizeilichen Ermittlungen aus allein von der Justiz zu verantwortenden Gründen über Monate hinweg nicht betrieben worden. Das zuständige Polizeipräsidium habe der Staatsanwaltschaft die Verkehrsunfallanzeige am 18.8.2022 vorgelegt. In der Folge sei der Verteidigung Akteneinsicht gewährt worden, woraufhin mit Schriftsatz vom 23.9.2022 eine Stellungnahme erfolgt sei. Anschließend sei auch einem für eine Versicherungsgesellschaft tätigen Rechtsanwalt Akteneinsicht gewährt worden. Dieser habe die Akten am 13.10.2022 zurückgereicht.

In den folgenden acht Monaten sei nichts geschehen. Nachvollziehbare oder gar in der Sphäre der Angeklagten oder der Verteidigung liegende Gründe hierfür seien nicht ersichtlich. Insoweit unterscheide sich der vorliegende Sachverhalt grundlegend von jenem, der der vom AG zitierten Entscheidung des OLG Stuttgart (Beschl. v. 22.10.2021 – 1 Ws 153/21, StRR 7/2022, 26 = VRR 12/2021, 19) zugrunde gelegen habe. Denn dort hätten sowohl der Angeklagte als auch dessen Verteidiger durch eine Vielzahl von Verschleppungshandlungen (Erschwerung von Zustellungen durch Geltendmachung verschiedener Meldeadressen, unterlassene Rücksendung von Empfangsbekenntnissen und dadurch erzwungene Terminsaufhebung, offensichtlich unbegründete Ablehnungsgesuche usw.) einen Abschluss des Verfahrens in missbräuchlicher Weise zu verhindern versucht. Vorliegend hätten hingegen die Angeklagte und ihre Verteidiger nichts dergleichen getan, sondern im Gegenteil bereits einen Tag nach dem verfahrensgegenständlichen Ereignis die Fahrereigenschaft offenbart und überdies auch eingeräumt, dass die Angeklagte den Unfall verursacht habe. In der Folge sei eine weitere Sacheinlassung erfolgt. Verzögerungshandlungen seien demgegenüber nicht ansatzweise erkennbar.

Dies gebiete – so das LG – die Aufhebung des angefochtenen Beschlusses, zumal hinzukomme, dass die Angeklagte nicht vorbestraft sei, seit dem verfahrensgegenständlichen Ereignis keine neuen Verkehrsübertretungen bekannt geworden seien und sich der Tatvorwurf im Laufe des Verfahrens abgeschwächt habe, nachdem die Staatsanwaltschaft den ursprünglich ebenfalls im Raum stehenden Vorwurf der fahrlässigen Körperverletzung fallen gelassen habe und insoweit nach § 170 Abs. 2 StPO verfahren sei.“

III. Bedeutung für die Praxis

1. M.E. zutreffend. Denn 13 Monate nach der Tat wird man die vorläufige (!) Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 111a StPO schon gründlicher begründen müssen, als es das AG hier getan hat.

2. So weit, schon mal so gut. Das LG hat aber noch einen drauf gesetzt und dem AG mit auf den Weg gegeben: „Die Strafkammer weist überdies darauf hin, dass es grundsätzlich bedenklich erscheint, wenn eine Maßnahme nach § 111a StPO nicht bereits dann ergriffen wird, sobald der dringende Verdacht insbesondere einer Katalogtat nach § 69 Abs. 2 StGB vorliegt, sondern – bei unveränderter Sachlage – viele Monate später in einem unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der Einlegung eines Einspruchs gegen einen zwischenzeitlich erlassenen Strafbefehl. Denn durch die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis soll die Allgemeinheit vor den Gefahren durch ungeeignete Kraftfahrer schon vor dem Urteil geschützt werden (statt aller Meyer-Goßner/Schmitt, 66. Aufl, 2023, § 111a Rn 1). Das Schutzbedürfnis der Allgemeinheit hängt indes nicht davon ab, ob gegen einen Strafbefehl Einspruch eingelegt wird oder nicht.“

Das ist m.E. sehr vornehm ausgedrückt. Man hätte auch anders schreiben können. Nämlich. Retourkutschen halten wir nicht. Und dass die vorläufige Entziehung eine Retourkutsche war, liegt m.E. auf der Hand. Dafür spricht der Ablauf. Monatelang passiert nichts. Aber dann wird – zwei Tage nach Einspruchseinlegung – die Fahrerlaubnis vorläufig entzogen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

Vom Strafbefehlsantrag abweichende Kostenentscheidung

Das Gericht kann einen Strafbefehl mit einer vom Antrag der Staatsanwaltschaft abweichenden Kostenentscheidung erlassen; § 408 Abs. 3 S. 2 StPO steht dem nicht entgegen.

(Leitsatz des Gerichts)

AG Kehl, Beschl. v. 18.7.20232 Cs 308 Js 17340/22

I. Sachverhalt

Die StA hatte den Erlass eines Strafbefehls u.a. mit dem Vorwurf des tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte beantragt. Der Angeklagte habe sich tätlich der Ingewahrsamnahme durch die Polizei wegen Trunkenheit widersetzt und die Polizeibeamten dabei beleidigt. Da der Angeklagte nach den Feststellungen der Polizei am Tattag gegen 0:55 Uhr „volltrunken“ auf dem Gehweg gelegen sei und sich in „einem die freie Willensausübung ausschließenden Zustand“ befunden habe, gab das AG die Sache wegen Bedenken hinsichtlich der Schuldfähigkeit des Angeklagten an die StA zurück und regte an, den Vorwurf auf (fahrlässigen) Vollrausch umzustellen, was die Staatsanwaltschaft mit Verweis auf die Blutalkoholkonzentration, die für die um 3:48 Uhr entnommene Blutprobe 1,77 ‰ betrug, ablehnte.

Das daraufhin vom AG eingeholte Sachverständigengutachten kam zum Ergebnis, dass – nach Aktenlage – von einer maximalen Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit von 2,54 ‰ und einer erheblichen Minderung des Steuerungsvermögens auszugehen sei, wobei ihre vollständige Aufhebung nicht ausgeschlossen werden könne.

Der erneuten, nunmehr zusätzlich auf das Gutachten gestützten Anregung des Gerichts, den Vorwurf auf Vollrausch umzustellen, kam die StA zwar dann mit dem Antrag vom 6.6.2023 unter Vorlage eines entsprechend neu gefassten Entwurfs des Strafbefehls nach. Der Auffassung des AG, dass es hinsichtlich der Kostenentscheidung im Strafbefehl angezeigt erscheine, die Auslagen für das Gutachten gemäß § 465 Abs. 2 StPO der Staatskasse aufzuerlegen, verschloss sie sich indes, sodass der von ihr vorbereitete Strafbefehlsentwurf hinsichtlich der Kosten vorsah, dass der Angeklagte „die Kosten des Verfahrens und [seine] notwendigen Auslagen zu tragen“ habe; eine Kostentragungspflicht des Angeschuldigten einschließlich der Kosten für das rechtsmedizinische Gutachten sei nicht zu beanstanden, weil vorliegend keine abweichende Entscheidung aus Gründen der Billigkeit geboten sei, wie es bei einem sog. fiktiven Freispruch oder bei Reduzierung des Tatvorwurfs auf ein minder schweres Delikt der Fall sei.

Das AG hat den Strafbefehl erlassen, aber eine vom Entscheidungsentwurf der StA abweichende Kostenentscheidung getroffen.

II. Entscheidung

Zwar bestimme § 408 Abs. 3 S. 2 StPO, dass der Richter nicht eigenmächtig einen Strafbefehl mit einem vom Antrag abweichenden Inhalt erlassen dürfe, sondern Hauptverhandlung anberaume, wenn er eine andere als die beantragte Rechtsfolge festsetzen wolle und die Staatsanwaltschaft bei ihrem Antrag beharre. Die Kostenentscheidung sei aber nicht Rechtsfolge in diesem Sinne, selbst wenn sie – wie hier – bereits in dem von der Staatsanwaltschaft vorbereiteten Entscheidungsentwurf enthalten sei. Vielmehr umfasse der eigentliche Strafbefehlsantrag neben der zu ahndenden Tat und ihrer rechtlichen Bewertung nur die Rechtsfolgen der Tat i.S.d. Dritten Abschnitts des Allgemeinen Teils des StGB.

Ursprünglich habe § 408 StPO in der § 448 der Strafprozessordnung vom 1.7.1877 (RGBl, S. 253) entsprechenden Fassung (RGBl I 1924, S. 322) bestimmt, dass der Antrag der Staatsanwaltschaft auf eine bestimmte Strafe zu richten (Abs. 1 S. 1) und die Sache zur Hauptverhandlung zu bringen sei, wenn der Amtsrichter eine andere als die beantragte Strafe festsetzen wolle und die Staatsanwaltschaft auf ihrem Antrag beharre (Abs. 2 S. 2 in Verbindung mit S. 1); zugleich habe § 464 Abs. 1 S. 1 StPO, wie immer noch, bestimmt, dass jeder Strafbefehl darüber Bestimmung treffen müsse, von wem die Kosten des Verfahrens zu tragen seien. An dieser inhaltlichen Trennung zwischen Strafbefehlsantrag und der – im Übrigen auch ohne Antrag der StA von Amts wegen zu treffenden (vgl. KK-StPO/Gieg, 9. Aufl. 2023, StPO § 464 Rn 1) – Kostenentscheidung hat sich seitdem nichts geändert. Lediglich der Anwendungsbereich des Strafbefehlsverfahrens sei durch das Zweite Gesetz zur Sicherung des Straßenverkehrs vom 26.11.1964 (BGBl I, S. 921) um die Festsetzung bestimmter Nebenfolgen sowie Maßregeln der Sicherung und Besserung neben der Strafe erweitert worden, wobei diese Aufzählung später zur sprachlichen Anpassung unter Übernahme des Begriffes aus dem Strafgesetzbuch (BT-Drucks 7/550, S. 300, 306) mit dem Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch vom 2.3.1974 (BGBl I S. 469) durch „Rechtsfolge“ ersetzt worden sei.

Die Kostenentscheidung beruhe auf § 465 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 und 2 StPO. Wegen seiner Verurteilung habe der Angeklagte grundsätzlich die Kosten des Verfahrens sowie seine notwendigen Auslagen zu tragen. Ihn mit den Auslagen für das Gutachten zu belasten, wäre jedoch – so das AG – jedenfalls im jetzigen Verfahrensstand unbillig, weil diese Auslagen nur entstanden seien, um die StA, die trotz gewichtiger Anhaltspunkte für die rauschbedingte Schuldunfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit zunächst auf ihrem Strafbefehlsantrag beharrte, davon zu überzeugen, dass lediglich hinreichender Tatverdacht wegen Vollrauschs bestehe.

III. Bedeutung für die Praxis

1. M.E. hat das AG seine Auffassung überzeugend begründet. Die Frage der Kostentragungspflicht ist keine Rechtsfolge der Tat, die durch den Erlass des Strafbefehls geahndet werden soll.

2. Im Übrigen: Das AG weist darauf hin, dass die Entscheidung über die Kosten und die notwendigen Auslagen für die StA gem. § 464 Abs. 3 S. 1 Hs. 2 StPO unanfechtbar ist, weil ihr – jedenfalls bei antragsgemäßem Erlass des Strafbefehls wie hier – kein eigenes Rechtsmittel gegen die Hauptentscheidung zusteht (MüKo-StPO/Eckstein, 1. Aufl. 2019, StPO § 410 Rn 41; LR-StPO, 27. Aufl. 2022, § 408 Rn 40; KK-StPO/Maur, 9. Aufl. 2023, § 408 Rn 16).

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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