Beitrag

Wiederinvollzugsetzung des Haftbefehls nach neuen Taten (Wiederholungsgefahr)

1. Ein Haftbefehl wegen Wiederholungsgefahr kann nach § 116 Abs. 4 StPO wieder in Vollzug gesetzt werden, wenn der Beschuldigte neue gleichartige Straftaten begeht und dadurch das in ihn gesetzte Vertrauen zerstört.

2. Die neuen Taten müssen weder gegenüber dem gleichen Geschädigten erfolgen noch im gleichen Verfahren verfolgt werden. Stets ist aber zumindest ein dringender Tatverdacht erforderlich.

(Leitsätze des Gerichts)

LG Würzburg, Beschl. v. 12.12.20221 Qs 192/22

I. Sachverhalt

Neue Tat nach Außervollzugsetzung

Das AG hat gegen den Beschuldigten Haftbefehl mit dem Haftgrund der Wiederholungsgefahr wegen mehrerer Taten der gefährlichen Körperverletzung erlassen. Im Beschwerdeverfahren wurde der Haftbefehl u.a. mit der Auflage eines Kontaktverbots zum Tatopfer außer Vollzug gesetzt. Seitens der StA wurde Anklage unter anderem wegen der im Haftbefehl genannten Taten sowie weiterer Taten zum Nachteil der Geschädigten E im Zeitraum Juni 2020 bis September 2021 zum AG erhoben. Die StA hat sodann beantragt, den außer Vollzug gesetzten Haftbefehl wegen neuer Erkenntnisse in einem weiteren Ermittlungsverfahren gegen den Angeschuldigten wieder in Vollzug zu setzen. Aus der glaubhaften Aussage der weiteren Geschädigten Z ergebe sich der Tatverdacht einer weiteren gefährlichen Körperverletzung. Erschwerend komme hinzu, dass der Modus Operandi der drohenden und demütigenden Verhaltensweise gegen Frauen nahezu identisch sei, obwohl den Angeschuldigten und die Geschädigte Z nicht einmal eine besonders enge bzw. vergleichbar lange Beziehung verbunden habe. Es sei aufgrund der gleichgelagerten Vorgehensweise sehr wahrscheinlich zu erwarten, dass das besonders herausgehobene gewalttätige Verhalten des Angeschuldigten bei jeder neuen Bekanntschaft wieder aufflammen werde. Das AG hat diesen Antrag abgelehnt. Die Beschwerde des StA war erfolgreich. Das LG hat den Haftbefehl wieder in Vollzug gesetzt.

II. Entscheidung

Grundlagen des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO

Die im Hinblick auf das Freiheitsgrundrecht des Angeschuldigten besonders hohen Anforderungen an den Widerruf der Haftverschonung nach § 116 Abs. 4 StPO seien vorliegend erfüllt. Das in § 116 Abs. 4 StPO zum Ausdruck kommende Gebot, die Aussetzung des Vollzugs eines Haftbefehls durch den Richter nur dann zu widerrufen, wenn sich die Umstände im Vergleich zu der Beurteilungsgrundlage zur Zeit der Gewährung der Verschonung verändert haben oder veränderte Umstände erst nach der Entscheidung bekannt geworden sind, gehöre zu den bedeutsamsten (Verfahrens-)Garantien, deren Beachtung Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG fordere und mit grundrechtlichem Schutz versieht. Ist ein Haftbefehl einmal unangefochten außer Vollzug gesetzt worden, so sei jede neue haftrechtliche Entscheidung, die den Wegfall der Haftverschonung zur Folge hat, nur unter den einschränkenden Voraussetzungen des § 116 Abs. 4 StPO möglich. Nach diesen Grundsätzen seien die einzelnen Widerrufsgründe wegen der wertsetzenden Bedeutung des Freiheitsgrundrechts eng auszulegen. Insbesondere bei der Auslegung des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO, nach dem der erneute Vollzug eines Haft- oder Unterbringungsbefehls nur in Betracht kommt, wenn neu hinzugetretene Tatsachen die Verhaftung erforderlich machen, seien strenge Maßstäbe anzusetzen. Der erneute Vollzug eines Haft- oder Unterbringungsbefehls komme nur in Betracht, wenn – auch zeitlich vor dem Aussetzungsbeschluss entstandene – schwerwiegende Tatsachen nachträglich bekannt werden, die das Gericht, hätte es sie im Zeitpunkt der Aussetzungsentscheidung gekannt, zur Ablehnung der Verschonung veranlasst hätten. Entscheidend sei, ob durch die neu hinzugetretenen Tatsachen die Vertrauensgrundlage für die Aussetzungsentscheidung entfallen ist. Ob dies der Fall ist, erfordere vor dem Hintergrund der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG eine Beurteilung sämtlicher Umstände des Einzelfalls. Die neu hervorgetretenen Umstände müssten sich jeweils auf die Haftgründe beziehen. Selbst wenn die Voraussetzungen des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO unter Berücksichtigung dieser Grundsätze vorliegen, bleibe infolge des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit stets zu prüfen, ob statt einer Rücknahme der Haftverschonung nicht mildere Mittel in Betracht kommen (BVerfG StRR 2/2021, 33 [Deutscher])).

Neue Umstände hier gegeben

Die vorliegende Anklageerhebung sei kein ausreichender Grund für eine Wiederinvollzugsetzung des Haftbefehls i.S.d. § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO (wird ausgeführt). Die nach der Aussetzungsentscheidung erfolgte weitere Tat des Angeschuldigten, die gefährliche Körperverletzung zum Nachteil der Geschädigten Z, sei ein neu hervorgetretener Umstand, welcher vorliegend die Verhaftung des Angeschuldigten erforderlich macht, § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO. Wenngleich die Intensität dieser Tat gegenüber den Taten im vorliegenden Verfahren im Hinblick auf die Verletzungsfolgen deutlich zurückbleibt, bestehe hierdurch dennoch der dringende Tatverdacht der gefährlichen Körperverletzung (die Beweiswürdigung wird näher ausgeführt). Dieser neue Umstand bezieht sich vorliegend auch auf den Haftgrund der Wiederholungsgefahr. Die Gefahrenprognose, dass sich das strafbare Verhalten des Angeschuldigten mit hoher Wahrscheinlichkeit fortsetzt und mithin eine Neigung des Angeschuldigten zur Begehung gleichartiger Anlasstaten zu erkennen ist, habe sich nunmehr in der erneuten gefährlichen Körperverletzung realisiert und gesteigert. Aus dem Verhalten des Angeschuldigten einer weiteren Geschädigten gegenüber zeige sich, dass sein aggressives und bedrohliches Verhalten nunmehr nicht „nur“ auf eine konkrete Einzelbeziehung beschränkt ist, sondern sich auch gegenüber weiteren Frauen fortsetzt, mit denen er (noch) nicht in einer partnerschaftlichen Beziehung steht. Daneben finde die nunmehr dem Angeschuldigten zur Last gelegte Tat nicht nur innerhalb eines häuslichen Umfelds, sondern im öffentlichen Raum statt. Ebenso zeigt sich im Gesamtverhalten des Angeschuldigten gegenüber der Geschädigten Z eine besorgniserregende Ähnlichkeit im Verhalten des Angeschuldigten gegenüber Frauen, sodass jederzeit mit einer weiteren Steigerung oder Wiederholung des aggressiven Verhaltens gegenüber bestehenden oder neuen Bekanntschaften des Angeschuldigten gerechnet werden muss. Damit werde deutlich, dass nunmehr auch gleichgelagerte Taten in einem erweiterten Personenkreis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu befürchten sind. Eine Verschärfung des Haftgrundes der Wiederholungsgefahr liege somit vor. Es sei anzunehmen, dass diese Umstände das OLG dazu bewogen hätten, keine Aussetzung zu bewilligen, wenn Kenntnis hiervon bestanden hätte.

Wegfall der Vertrauensgrundlage

Der neu hinzugetretene Umstand lasse vorliegend auch die durch die Aussetzungsentscheidung zugunsten des Angeschuldigten entstandene Vertrauensgrundlage entfallen. Der Angeschuldigte habe trotz der Aussetzungsentscheidung nicht darauf vertrauen können, dass weitere gleichgelagerte Taten gegenüber anderen Geschädigten als der Geschädigten E hingenommen und toleriert werden. Bereits aus der Aussetzungsentscheidung selbst werde deutlich, dass lediglich die bisherige Beschränkung auf Taten innerhalb einer konkreten Beziehung vorliegend die Aussetzung rechtfertigte. Dass erneute gleichgelagerte Taten eine Abweichung von der Aussetzungsentscheidung begründen, habe sich dem Angeschuldigten geradezu aufdrängen müssen. Die Wiederinvollzugsetzung des Haftbefehls sei auch aufgrund der dargestellten Umstände verhältnismäßig. Wenngleich das Gericht die deutlich zurückbleibende Intensität der weiteren Tat samt tatsächlich eingetretener geringerer Verletzungsfolgen nicht verkennt, überwiege angesichts des nunmehr deutlich erweiterten bedrohten Personenkreises vorliegend der Schutz der Allgemeinheit im Sinne des präventiven Charakters ausnahmsweise das Freiheitsrecht des Angeschuldigten.

III. Bedeutung für die Praxis

Nachvollziehbar, aber neuer Haftbefehl wäre besser

Es kommt gelegentlich in der Praxis vor, dass es nach Außervollzugsetzung eines Haftbefehls zu zeitlich danach begangenen Straftaten kommt. Mit Blick auf die strengen Vorgaben des BVerfG nach § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO wird in der Regel eine Wiederinvollzugsetzung des Haftbefehls nicht zulässig sein. Dies dürfte insbesondere bei den Haftgründen der Flucht- und Verdunkelungsgefahr der Fall sein, da die späteren Taten keinen wesentlichen Konnex zu diesen Haftgründen bilden. In solchen Fällen ist eher an den Erlass eines weiteren Haftbefehls wegen der späteren Taten zu denken, insbesondere dann, wenn altes und neues Verfahren sich in verschiedenen Verfahrensstadien befinden oder unterschiedliche Zuständigkeiten gegeben sind. Wegen des Konnexes zur Bezugstat kann sich das bei der Wiederholungsgefahr anders darstellen, wenn es sich wie hier um gleichartige Taten handelt. Diese Konstellation ist ersichtlich bislang nicht entschieden worden. Das LG Würzburg hat hier eine Wiederinvollzugsetzung angeordnet, aber zugleich klargemacht, dass es sich angesichts der strengen Vorgaben für § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO um eine Ausnahmeentscheidung handelt, die das LG nachvollziehbar mit den Umständen des vorliegenden Falls begründet. Gleichwohl gilt: Der Erlass eines neuen, dann wohl auch zu vollziehenden Haftbefehls wegen der späteren Tat wäre der sauberere Weg.

RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum

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