Beitrag

Unerreichbarkeit eines Zeugen

Zur Unerreichbarkeit eines Zeugen im Falle mehrmonatiger ergebnisloser Fahndung aufgrund eines (internationalen) Haftbefehls.

(Leitsatz des Gerichts)

BGH, Beschl. v. 1.11. 20226 StR 219/22

I. Sachverhalt

„Beweisantrag“: Zeuge mit unbekanntem Aufenthalt

Das LG hat den Angeklagten wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge verurteilt. Bei den Geschäften soll er unter Einsatz eines EncroChat-Accounts Betäubungsmittel von S erworben haben, die S zuvor aus Spanien nach Deutschland eingeführt haben soll. Die Verteidigung hat zum Beweis der Tatsache, dass „nicht der Angeklagte, sondern ein anderer, nicht aus Griechenland stammender Mensch den EncroChat-Account genutzt hat“, beantragt, den gesondert verfolgten S zu vernehmen. Diesem sei der Nutzer des Accounts persönlich bekannt, was namentlich Chatprotokolle belegten. Zwar sei der Zeuge derzeit nicht unter seiner Meldeanschrift anzutreffen. Sein „anwaltlicher Vertreter“ sei aber mit einer „Vollmacht ausgestattet worden“, von der auch die Entgegennahme von Ladungen umfasst sei. Der Vertreter der StA erklärte hierzu, dass sich der Zeuge vor den Ermittlungsbehörden verborgen halte; nach ihm werde mit einem internationalen Haftbefehl – bislang ergebnislos – gesucht. Die Strafkammer lehnte den Antrag wegen Unerreichbarkeit des Zeugen ab. Die Revision des Angeklagten wurde als unbegründet verworfen.

II. Entscheidung

Beweisantrag?

Es könne dahinstehen, ob es sich bei dem Beweisbegehren überhaupt um einen Beweisantrag gehandelt hat (§ 244 Abs. 3 S. 1 StPO), der eine Bescheidung nach § 244 Abs. 3 S. 3 StPO ermöglicht hat. Grundsätzlich sei der Zeuge als Beweismittel im Antrag mit vollständigem Namen und genauer Anschrift zu benennen; nur wenn der Antragsteller dazu nicht in der Lage ist, genüge es, im Einzelnen den Weg zu beschreiben, auf dem dies zuverlässig ermittelt werden kann (BGHSt 40, 3, 7 = NJW 1994, 169). Zweifelhaft erscheine indes, ob den Formerfordernissen eines Beweisantrags bei einem an seiner früheren Meldeadresse nicht mehr zu ladenden Zeugen der pauschale Hinweis auf eine nicht näher beschriebene Ladungsvollmacht als hinreichender Ansatz für gerichtliche Nachforschungen genügt. Ohne näheren Vortrag, etwa zum Umfang der Vollmacht, dem Zeitpunkt ihrer Erteilung und zum Kontakt des Vollmachtnehmers zum Zeugen (BGH NStZ 2010, 403), dürfte dem Tatgericht eine sinnvolle Prüfung des Ablehnungsgrundes der Unerreichbarkeit regelmäßig verschlossen sein.

Grundlagen: Unerreichbarkeit eines Zeugen

Die Strafkammer sei ohne Rechtsfehler von einer Unerreichbarkeit des Zeugen ausgegangen (§ 244 Abs. 3 S. 3 Nr. 5 StPO). Unerreichbar sei ein Zeuge, wenn das Tatgericht unter Beachtung der ihm obliegenden Sachaufklärungspflicht alle der Bedeutung des Zeugnisses entsprechenden Bemühungen zur Beibringung des Zeugen vergeblich entfaltet hat und keine begründete Aussicht besteht, dass der Zeuge in absehbarer Zeit als Beweismittel herangezogen werden kann (BGHSt 22, 118, 120; BGHSt 32, 68, 73 = NJW 1984, 2772; BGH StraFo 2007, 109 = StRR 4/2017, 13 [Burhoff]). In die tatgerichtliche Bewertung dürften die Gesamtumstände, die dem Erscheinen und der Aussage des Zeugen in der Hauptverhandlung entgegenstehen, einbezogen werden. Ist das Gericht nach gewissenhafter Prüfung der maßgebenden Umstände davon überzeugt, dass der Zeuge einer Vorladung zur Hauptverhandlung keine Folge leisten werde, so sei es nicht verpflichtet, vor der Ablehnung eines Beweisantrags den aussichts- und zwecklosen Versuch einer Ladung zu unternehmen (BGH NJW 1979, 1788; NJW 1990, 1124, 1125). Dies gelte gleichermaßen, wenn Bemühungen zur Herbeischaffung des Beweismittels von vornherein für aussichtslos gehalten werden dürfen (BGH ROW 1961, 252, 253).

Hier ist der Zeuge unerreichbar

Das LG sei ohne Rechtsverstoß zu der Überzeugung gelangt, dass der Zeuge als Beweismittel unerreichbar und die Ladung aussichtslos gewesen sei. Die hierfür maßgebenden Erwägungen habe die Strafkammer noch zureichend in ihrem Ablehnungsbeschluss niedergelegt (BGH StV 1987, 45; StraFo 2011, 99). Eingedenk der durch die Anklageschrift mitgeteilten Informationen und des Stands der Beweisaufnahme habe hier weder die Bedeutung des Beweismittels noch die Dauer des ergebnislosen Fahndens einer Erwähnung bedurft. Rechtsfehlerfrei habe die Strafkammer mit Blick auf die besonderen Umstände des Falles weitere Bemühungen zur Aufenthaltsermittlung als zwecklos angesehen. Mit der mehr als fünfmonatigen ergebnislosen internationalen Fahndung – wegen grenzüberschreitender Betäubungskriminalität im „dreistelligen Kilogrammbereich“ – sei das effektivste Mittel, einer sich vor den Ermittlungsbehörden verborgen haltenden Person habhaft zu werden (BGH ROW 1961, 252, 253), über einen hinreichend aussagekräftigen Zeitraum (BGH NStZ 1982, 212) ausgeschöpft gewesen (BGH MDR 1975, 726; OLG München NStZ-RR 2007, 50, 51). Weitere Ermittlungsschritte seien daneben nicht geboten gewesen. Insbesondere habe es ohne näheren Vortrag außerhalb jeder Lebenswahrscheinlichkeit gelegen, dass sich belastbare Erkenntnisse zum Aufenthaltsort des sich verborgen haltenden Zeugen von dem – einer anwaltlichen Schweigepflicht unterliegenden – „Vertreter“ ergeben würden. Vor diesem Hintergrund seien in der Beschlussbegründung auch weitere Erwägungen, etwa zu rechtshilferechtlichen Fragen oder zu einem sicheren Geleit (BGH NStZ 1982, 212), entbehrlich gewesen.

Ladungsversuch über Anwalt nicht erforderlich

Schließlich habe die Strafkammer auch von einem Ladungsversuch über den im Antrag benannten „anwaltlichen Vertreter“ ohne Rechtsfehler unter Hinweis auf die mehrmonatige internationale Fahndung abgesehen. Eine Durchsetzung der Zeugenpflichten wäre vor dem Hintergrund des Antragsvorbringens tatsächlich wie rechtlich (§ 51 StPO) aussichtslos. Bei dieser Ungewissheit habe das Gericht trotz der Bedeutung der Sache nicht abzuwarten brauchen, ob einer späteren Ladung möglicherweise ein – denktheoretischer – Erfolg beschieden sein würde.

III. Bedeutung für die Praxis

Nachvollziehbar

Bevor die beantragte Ladung eines Zeugen, der sich nicht mehr an seiner bislang letzten bekannten ladungsfähigen Anschrift aufhält, wegen Unerreichbarkeit abgelehnt werden kann (§ 244 Abs. 3 S. 3 Nr. 5 StPO), muss das Gericht in aller Regel Bemühungen an den Tag legen, den aktuellen Aufenthalt des Zeugen zu ermitteln (Überblick zur Rspr. bei Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, 65. Aufl. 2022, § 244 Rn 62a, 63). Nur ausnahmsweise darf ein solcher Beweisantrag – so er denn überhaupt vorliegt – als von vorneherein aussichtslos zurückgewiesen werden. Angesichts der fünf Monate erfolgslosen internationalen Fahndung nach dem Zeugen ist es nachvollziehbar, dass der BGH hier einen solchen Ausnahmefall angenommen hat. Es ist allerdings deutlich erkennbar, dass der Senat von den allgemeinen Grundsätzen nicht abrücken will. Insbesondere ist für die Praxis bedeutsam, dass das Gericht eine eingehende, am Einzelfall orientierte Begründung für die Ablehnung eines solchen Antrags geben muss.

Ladung über den Anwalt?

Zutreffend weist der Senat darauf hin, dass die – allgemein – angebotene Ladung über den Anwalt des Zeugen schon angesichts dessen Schweigepflicht nicht genügt. Der Zeuge selbst ist zu laden (vgl. §§ 48, 51 Abs. 1 S. 1, 214 StPO), eine Ladungsvollmacht wie beim Verteidiger für den Angeklagten im Rahmen des § 145a Abs. 2 StPO gibt es beim Zeugen nicht. Will die Verteidigung tatsächlich auf dieses Pferd setzen, muss im Vorfeld mit dem Zeugenanwalt geklärt werden, ob dieser überhaupt aktuell mit dem Zeugen in Verbindung steht, bereit und willens ist, mit diesem einen Kontakt zu dem Gericht herzustellen, und ob der Zeuge – ggf. über sicheres Geleit entsprechend § 295 StPO – bereit ist, vor Gericht zu erscheinen, wobei Letzteres in Fällen wie diesem recht unwahrscheinlich sein dürfte. Diese Umstände müssten im Beweisantrag aufgeführt werden.

RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum

Diesen Beitrag teilen

Facebook
Twitter
WhatsApp
LinkedIn
E-Mail

Unser KI-Spezial

Erfahren Sie hier mehr über Künstliche Intelligenz – u.a. moderne Chatbots und KI-basierte…