Beitrag

Strafbarkeit des sog. Stealthing

Zum gegen den erkennbaren Willen des Sexualpartners heimlich ohne Kondom ausgeführten Geschlechtsverkehr (sogenanntes „Stealthing“).

(Leitsatz des Gerichts)

BGH, Beschl. v. 13.12. 20223 StR 372/22

I. Sachverhalt

Geschlechtsverkehr heimlich ohne Kondom ausgeübt

Das LG hat den Angeklagten u.a. wegen sexuellen Übergriffs verurteilt. Der Angeklagte und eine Besucherin wollten geschlechtlich verkehren. Nach einvernehmlichem Oralverkehr ging der Angeklagte an eine Kommode, holte sichtbar ein Kondom heraus und öffnete die Verpackung. Ihm kam es darauf an, dass die später Geschädigte davon ausging, er werde es beim Geschlechtsverkehr überziehen. Tatsächlich beließ er es aber ausgepackt und nicht abgerollt im Bett. Da die Besucherin sich kurz umdrehte, sah sie dies nicht und ging davon aus, er werde das Kondom benutzen. Ungeschützter Geschlechtsverkehr wäre für sie nicht in Frage gekommen. Der Angeklagte führte sodann einige Zeit bewusst ohne Kondom vaginalen Geschlechtsverkehr mit ihr durch. Später bemerkte sie, dass er kein Kondom trug, und verließ schließlich die Wohnung. Die Revision des Angeklagten blieb erfolglos.

II. Entscheidung

Nutzung eines Kondoms erheblich

Stimmt eine Person Geschlechtsverkehr ersichtlich nur unter der Voraussetzung zu, dass dabei ein Kondom genutzt werde, stünden ohne Präservativ vorgenommene sexuelle Handlungen ihrem erkennbaren Willen entgegen. Für die Frage, ob eine sexuelle Handlung dem maßgeblichen Willen zuwiderläuft, komme es auf die konkret vorgenommene Handlung an (BGH NStZ 2019, 407 Rn 7; OLG Hamm NStZ-RR 2022, 276). Ist in Bezug auf diese ersichtlich, dass die betroffene Person sie ablehnt, sei grundsätzlich nicht entscheidend, ob ein Einverständnis mit anderen sexuellen Handlungen besteht. Insoweit stellten Geschlechtsverkehr unter Nutzung eines Kondoms einerseits und ohne ein solches andererseits unterschiedliche sexuelle Handlungen dar. Der Gebrauch eines Präservativs betreffe die Art und Weise des Sexualvollzugs und führe zu einer anderen qualitativen Bewertung (OLG Schleswig NStZ 2021, 619 Rn 17 = StRR 7/2021, 27 [Stehr]; BayObLG NStZ-RR 2022, 43, 44). Hierfür spreche insbesondere die generelle Eignung, eine unerwünschte Schwangerschaft oder die Übertragung von Krankheiten zu verhindern. Dass hierdurch die Beurteilung eines sexuellen Kontakts mitgeprägt wird, zeige sich etwa daran, dass bei Sexualdelikten der Vollzug des Geschlechtsverkehrs ohne Verwendung eines Kondoms bereits nach früherer Rechtslage straferschwerend berücksichtigt werden konnte (BGH NStZ 1999, 505 f.). Die Bedeutung der Prävention gegen sexuell übertragbare Erkrankungen werde überdies dadurch deutlich, dass für den Bereich der Prostitution gemäß § 32 Abs. 1 ProstSchG eine Kondompflicht besteht. Dies ändere nichts daran, dass maßgebliches Rechtsgut des § 177 StGB die sexuelle Selbstbestimmung ist. Die Heranziehung der genannten Gesichtspunkte erweitere es nicht um Aspekte des Gesundheitsschutzes, sondern unterstreiche lediglich, dass ein qualitativer Unterschied zwischen der von der selbstbestimmungsberechtigten Person konsentierten und der tatsächlich vorgenommenen Sexualpraktik besteht. In der gegebenen Konstellation könne dahinstehen, welche Bedeutung ein etwaiger Irrtum bei der Bildung des – einvernehmlichen oder entgegenstehenden – Willens für die strafrechtliche Bewertung hat. Der Entscheidung der betroffenen Person, keinen ungeschützten Geschlechtsverkehr zu wollen, liege grundsätzlich keine Fehlvorstellung zugrunde, wenn der Täter vorspiegelt, diesem Wunsch nachzukommen; denn dadurch ändere sich nichts an der ablehnenden Haltung gegenüber einem Sexualkontakt ohne die Nutzung eines Kondoms. Die Täuschung wirke sich erst auf anderer Ebene dahin aus, dass die geschädigte Person die von ihr missbilligte sexuelle Handlung geschehen lässt, da sie ihren Bedeutungsgehalt und den Verstoß gegen ihren – ersichtlich fortdauernden – entgegenstehenden Willen nicht erkennt. Dies stelle indes für sich genommen keine Einwilligung in die konkrete sexuelle Handlung, den ungeschützten Geschlechtsverkehr, dar.

Kein Rückgriff auf § 177 Abs. 2 Nr. 3 StGB

Ein Rückgriff auf den Tatbestand des § 177 Abs. 2 Nr. 3 StGB, der sexuelle Handlungen unter Ausnutzung eines Überraschungsmoments unter Strafe stellt, scheide aus, wenn die Tatbestandvoraussetzungen des § 177 Abs. 1 StGB erfüllt sind. Dieser sanktioniere nach der Konzeption der Neufassung sexuelle Handlungen, mit denen sich der Täter über einen erkennbaren entgegenstehenden Willen des Opfers hinwegsetzt, wohingegen § 177 Abs. 2 StGB Konstellationen erfassen solle, in denen ein entgegenstehender Wille des Opfers nicht erkennbar ist, weil eine entsprechende Äußerung dem Opfer aus den dort genannten Gründen entweder nicht möglich oder nicht zuzumuten ist. Bezogen auf ein und denselben Zeitpunkt schlössen § 177 Abs. 1 StGB und § 177 Abs. 2 Nr. 3 StGB deshalb einander aus, da § 177 Abs. 2 Nr. 3 StGB gerade voraussetzt, dass aufgrund der Überraschung kein entgegenstehender Wille, den § 177 Abs. 1 StGB objektiv erkennbar tatbestandsmäßig erfordert, gebildet und rechtzeitig kundgetan werden kann (BGHSt 64, 55 Rn 32 f. = NJW 2019, 2040). Dabei brauche ein entgegenstehender Wille nicht ausdrücklich erklärt zu werden. Eine konkludente Äußerung genüge (BGH NStZ 2019, 717 Rn 18).

Eventuell „Vergewaltigung“ (§ 177 Abs. 6 S. 2 Nr. 1 StGB)?

Es bedürfe keiner Erörterung, dass grundsätzlich die Verwirklichung des Regelbeispiels nach § 177 Abs. 6 S. 2 Nr. 1 StGB in Betracht kommt (BayObLG NStZ-RR 2022, 43, 44; Hoffmann, NStZ 2019, 16, 17 f.); denn durch dessen Nichtannahme sei der Angeklagte jedenfalls nicht beschwert.

III. Bedeutung für die Praxis

Frage geklärt

Der 3. Senat hat die erstmals vom OLG Schleswig (StRR 7/2021, 27) angesprochene Frage höchstrichterlich geklärt, ob das sog. Stealthing (Geschlechtsverkehr ohne Kondom gegen den erkennbaren Willen des Partners) als sexueller Übergriff strafbar ist. Das ist in sich durchaus nachvollziehbar begründet, führt aber zu einem Kuriosum: Die Vortäuschung, die Anti-Baby-Pille zu nehmen, führt nicht zu einer Strafbarkeit nach § 177 Abs. 1 StGB, da zwar auch hier die Eignung zur Verhinderung einer ungewollten Schwangerschaft vorgespiegelt wird, dies aber nicht die Art und Weise des Sexualverkehrs als solchem betrifft, was der BGH als maßgeblich ansieht, sondern lediglich die möglichen Folgen (i. Erg. ähnl. Fischer, StGB, 70. Aufl. 2023, § 177 Rn 2c–2e mit anderer Begründung).

RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum

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