Beitrag

Rückwirkende Pflichtverteidigerbestellung ausnahmsweise möglich

Liegen die Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung vor und wird der Beiordnungsantrag noch vor rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens gestellt, ist es ausnahmsweise möglich und geboten, rückwirkend auf den Zeitpunkt der Antragstellung einen Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn der Antrag vor Verfahrensabschluss aus justizinternen Gründen nicht verbeschieden wurde.

(Leitsatz des Gerichts)

OLG Stuttgart, Beschl. v. 15.12.20224 Ws 529/22

I. Sachverhalt

Einstellung nach § 154 Abs. 2 StPO

Der (ehemalige) Angeklagte ist vom AG wegen versuchten Diebstahls verurteilt worden. Dagegen haben sowohl die Staatsanwaltschaft als auch der Verteidiger des Angeklagten Berufung eingelegt. Der Verteidiger hat die Berufungskammer darauf hingewiesen, dass sich der Angeklagte nach einer rechtskräftigen Verurteilung zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe in Haft befand, und zugleich seine Beiordnung als Pflichtverteidiger beantragt. Daraufhin regte der Vorsitzende der Berufungskammer bei der Staatsanwaltschaft die Einstellung des Verfahrens nach § 154 Abs. 2 StPO an. Die Staatsanwaltschaft stellte den Einstellungsantrag. Zu dem Hinweis der beabsichtigten Verfahrenseinstellung nahm der Verteidiger dahin Stellung, dass die Bestellung eines Pflichtverteidigers dennoch unverzüglich zu erfolgen habe. Das LG hat das Verfahren eingestellt. Die Beiordnung des Rechtsanwalts als Pflichtverteidiger lehnte es nach § 141 Abs. 2 S. 3 StPO ab, weil von Anfang an beabsichtigt gewesen sei, das Verfahren einzustellen. Die Voraussetzungen einer rückwirkenden Pflichtverteidigerbestellung lägen nicht vor. Dagegen hat der Angeklagte sofortige Beschwerde eingelegt, die Erfolg hatte.

II. Entscheidung

Voraussetzungen haben vorgelegen

Nach Auffassung des OLG hat die sofortige Beschwerde in der Sache Erfolg. Das OLG bejaht die Voraussetzungen für eine Pflichtverteidigerbestellung gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO. Denn der Angeklagte habe sich seit März 2022 in anderer Sache in Strafhaft befunden. Ein Absehen von der Pflichtverteidigerbestellung gemäß § 141 Abs. 2 S. 3 StPO sei entgegen der Auffassung des LG nicht möglich gewesen. Nach dieser Vorschrift könne eine Bestellung unterbleiben, wenn beabsichtigt sei, das Verfahren alsbald einzustellen, und keine anderen Untersuchungshandlungen als die Einholung von Registerauskünften oder die Beiziehung von Urteilen oder Akten vorgenommen werden soll. Der Anwendungsbereich dieser Vorschrift beschränke sich aber auf Fälle der Bestellung eines Pflichtverteidigers von Amts wegen (§ 141 Abs. 2 StPO). Auf Fälle einer Bestellung auf Antrag des Beschuldigten gemäß § 141 Abs. 1 StPO sei sie nicht – auch nicht entsprechend – anwendbar. Gegen eine unmittelbare Anwendung sprechen sowohl der Wortlaut als auch die systematische Stellung innerhalb des § 141 StPO. Eine entsprechende Anwendung komme mangels einer Regelungslücke nicht in Betracht (BeckOK-StPO/Krawczyk, § 141 Rn 23 m.w.N.).

Ausnahmsweise rückwirkende Bestellung

Obwohl zum Zeitpunkt der Antragstellung die Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung vorlagen, habe das LG dem Angeklagten nicht unverzüglich (§ 141 Abs. 1 S. 1 StPO) den Rechtsanwalt als Pflichtverteidiger beigeordnet, sondern bis November 2022 zugewartet, um dann das Verfahren einzustellen und den Beiordnungsantrag abzulehnen. In Fällen, in denen wie vorliegend die sachlichen Voraussetzungen für die Bestellung eines Pflichtverteidigers vorlagen und der Antrag auf Bestellung noch vor rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens gestellt, aber aus justizinternen Gründen nicht verbeschieden wurde, sei es nach Auffassung des Senats ausnahmsweise möglich und geboten, rückwirkend auf den Zeitpunkt der Antragstellung einen Pflichtverteidiger zu bestellen.

Überwiegende obergerichtliche Rechtsprechung

Die überwiegende obergerichtliche Rechtsprechung habe eine rückwirkende Beiordnung bislang mit dem Argument ausgeschlossen, die Beiordnung eines Pflichtverteidigers diene der ordnungsgemäßen Verteidigung eines Angeklagten sowie der Gewährleistung eines ordnungsgemäßen Verfahrensablaufs. Sie erfolge nicht im Kosteninteresse eines Angeklagten oder im Interesse eines Verteidigers an einem Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse. Das Ziel einer effizienten Verteidigung könne nachträglich nicht mehr erlangt werden. Die rückwirkende Bestellung führe demnach nicht zu einem Mehr an Rechtsschutz des Angeklagten, sondern lediglich zur Schaffung eines Kostenanspruchs des Rechtsanwalts gegenüber der Staatskasse. Auch aus der Regelung des Art. 4 Abs. 1 der RL 2016/1919/EU (PKH-Richtlinie) folge nichts anderes, denn die Richtlinie sehe nicht vor, den Betroffenen in jedem Fall von Kosten freizuhalten. Der Anspruch auf Prozesskostenhilfe bestehe gemäß Art. 4 Abs. 1 PKH-Richtlinie nur, wenn die Bereitstellung finanzieller Mittel im Interesse der Rechtspflege erforderlich sei. Ein solches Erfordernis bestehe aber in rechtskräftig abgeschlossenen Fällen nicht mehr (OLG Braunschweig, Beschl. v. 2.3.2021 – 1 Ws 12/2; OLG Brandenburg, Beschl. v. 9.3.2020 – 1 Ws 19/20, NStZ 2020, 625; KG, Beschl. v. 9.4. 2020 – 2 Ws 30720; OLG Hamburg, Beschl. v. 16.9.2020 – 2 Ws 112/20; OLG Bremen, Beschl. v. 23.9.2020, NStZ 2021, 252 [offengelassen für den Fall rechtzeitiger Antragstellung]).

Auffassung der OLG Bamberg und Nürnberg

Teilweise werde die Ansicht vertreten, die rückwirkende Beiordnung sei jedenfalls dann zulässig, wenn der Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers rechtzeitig vor rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens gestellt werde, die Voraussetzungen für eine Beiordnung nach § 140 StPO gegeben seien und die Entscheidung aus allein in der Sphäre der Justiz liegenden Gründen nicht vor Verfahrensabschluss erfolge. Dies ergebe sich aus Art. 4 Abs. 1 der PKH-Richtlinie, wonach Verdächtigen und beschuldigten Personen, die nicht über ausreichende Mittel zur Bezahlung eines Rechtsbeistandes verfügten, ein Anspruch auf Prozesskostenhilfe zustehe, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich sei. Prozesskostenhilfe bedeute in diesem Zusammenhang die Bereitstellung finanzieller Mittel für die Unterstützung durch einen Rechtsbeistand, sodass das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand wahrgenommen werden könne (Art. 3 PKH-Richtlinie). Geregelt sei nunmehr also, dass nicht nur die tatsächliche Verteidigung, sondern auch die Bezahlung des Rechtsbeistands gesichert werden solle. Ziel und Zweck der Regelung sei eine effektive Unterstützung und Absicherung der Verfahrensbeteiligten. Dieser Zweck würde unterlaufen, wenn eine Pflichtverteidigerbestellung nur deswegen versagt werden könne, weil über den Antrag nicht vor Abschluss des Verfahrens entschieden werde. Nicht ohne Grund habe der Gesetzgeber in § 141 Abs. 1 S. 1 StPO das Unverzüglichkeitsgebot geschaffen. In der Vorschrift komme der besondere Beschleunigungsbedarf zum Ausdruck, den der Gesetzgeber für eine Pflichtverteidigerbestellung sehe. Auch ein Vergleich mit den Regelungen bzgl. der Bewilligung von Prozesskostenhilfe spreche für die Möglichkeit einer rückwirkenden Beiordnung. So komme nach § 397a Abs. 2 StPO bzw. § 404 Abs. 5 S. 1 StPO, § 114 Abs. 1 S. 1 ZPO eine rückwirkende Bewilligung von Prozesskostenhilfe nach Abschluss der kostenverursachenden Instanz grundsätzlich nicht in Betracht, etwas anderes gelte aber für den Fall, dass vor rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens ein Bewilligungsantrag mit den erforderlichen Unterlagen gestellt worden sei, der nicht bzw. nicht vorab verbeschieden worden sei, und der Antragsteller mit seinem Antrag bereits alles für die Bewilligung der Prozesskostenhilfe Erforderliche getan habe (BGH, Beschl. v. 18.3.2021 – 5 StR 222/20). Gründe, einen Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers anders zu behandeln als einen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe, seien nicht ersichtlich (OLG Bamberg, Beschl. v. 29.4.2021 – 1 Ws 260/21; OLG Nürnberg, Beschl. v. 6.11.2020 – Ws 962/20).

Anschluss an die „Mindermeinung“ bei den OLG

Das OLG hat sich der letztgenannten Ansicht angeschlossen. Soweit von der gegenteiligen Auffassung eingewandt werde, Art. 4 Abs. 1 PKH-Richtlinie mache den Anspruch auf Prozesskostenhilfe davon abhängig, dass die Bewilligung im Interesse der Rechtspflege erforderlich sei, und eine solche Erforderlichkeit bei rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren nicht mehr bestehe, überzeuge dies insbesondere im Hinblick auf Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK nicht, der ausdrücklich den mittellosen Beschuldigten erwähnt und damit auch das Kosteninteresse des Beschuldigten in seinen Schutzzweck aufnimmt (Kämpfer/Travers, in: MüKo-StPO, 2. Aufl., § 142 Rn 14). Auch in Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK werde das Recht einer angeklagten Person, unentgeltlich den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, davon abhängig gemacht, dass dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. Die „Erforderlichkeit im Interesse der Rechtspflege“ werde in diesem Zusammenhang aber im Anschluss an die englische Sprachfassung („interests of justice“) nicht auf die Gesichtspunkte der Rechtspflege im Sinne objektiv-organisatorischer Erfordernisse reduziert, sondern vielmehr i.S.v. Verfahrensgerechtigkeit gegenüber dem Angeklagten verstanden (Gaede, in: MüKo-StPO, 1. Aufl., EMRK Art. 6 Rn 209). Ein Anlass, den Begriff der „Erforderlichkeit der Rechtspflege“ in der PKH-Richtlinie anders zu interpretieren, bestehe nicht, zumal in den Vorbemerkungen der Richtlinie ausdrücklich auf Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK Bezug genommen werde. Zur Verfahrensgerechtigkeit in diesem Sinne gehöre es aber, die Entscheidung über die Bestellung eines Pflichtverteidigers danach zu treffen, ob ein Fall notwendiger Verteidigung vorliege und ein entsprechender Antrag rechtzeitig gestellt worden sei.

III. Bedeutung für die Praxis

Überzeugende Begründung

1. Das OLG schließt sich mit überzeugender Begründung der zutreffenden überwiegenden Ansicht in der Rechtsprechung der Instanzgerichte und eben auch OLG Bamberg (a.a.O.) und OLG Nürnberg (a.a.O.) an. Dem ist nichts hinzuzufügen (ebenso bereits Hillenbrand, StRR 3/2022, 5 ff. m.w.N.). Wegen weiterer Rechtsprechungsnachweise verweise ich auf die Zusammenstellung der Rechtsprechung bei Burhoff StraFo 2023, 2 ff. m.w.N.

Rechtzeitige Antragstellung erforderlich

2. Als Verteidiger muss man darauf achten, den Beiordnungsantrag rechtzeitig zu stellen. Denn nur dann, wenn der Antrag – rechtzeitig – gestellt ist, geht die Rechtsprechung von der Zulässigkeit der rückwirkenden Beiordnung aus. Eine nachträgliche Antragstellung hilft nicht mehr. Wird der Antrag nicht unverzüglich beschieden, sollte – schon aus Vorsichtsgründen – an die Bescheidung erinnert werden.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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