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Pflichtverteidiger bei gemeinschaftlicher Tatbegehung mit einem Elternteil

1. Ist neben einem Minderjährigen eines seiner Elternteile angeklagt, mit diesem gemeinschaftlich eine Straftat begangen zu haben, so kann sich der Jugendliche in aller Regel nicht selbst verteidigen, weshalb auch dann ein Fall der notwendigen Verteidigung gegeben ist, wenn dem mitangeklagten Elternteil nicht die elterlichen Verfahrensrechte nach § 67 Abs. 4 JGG ganz oder teilweise zu entziehen waren.

2. Hat ein Jugendlicher eine Straftat gemeinsam mit einem Elternteil begangen, so bedarf es in der Regel einer besonders eingehenden Prüfung der Frage, ob der Jugendliche in der konkreten Konstellation und Situation die nach § 3 JGG erforderliche Reife hatte, eigenverantwortlich zu handeln. Es handelt sich insoweit um eine schwierige Sachlage, zumal dies zu thematisieren dem angeklagten Jugendlichen selbst kaum möglich und zumutbar ist.

3. Die Notwendigkeit der Beiordnung eines Pflichtverteidigers wird sich insofern auch über den Zeitpunkt hinaus erstrecken, mit dem der mitangeklagte Jugendliche volljährig wird. Dies gilt insbesondere dann, wenn seine finanzielle und familiäre Abhängigkeit fortbesteht.

(Leitsätze des Gerichts)

AG Eilenburg, Beschl. v. 19.10.20229 Ds 647 Js 1866/22 jug

I. Sachverhalt

Vater und minderjähriger Sohn angeklagt

Mit der Anklageschrift wird den beiden Angeklagten, einem Vater und seinem minderjährigen Sohn, der zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung 18 Jahre und 2 Wochen alt sein wird, zur Last gelegt, gemeinschaftlich eine andere Person verletzt zu haben. Im Ermittlungsverfahren waren die beiden Beschuldigten, der Sohn in Anwesenheit seiner Mutter, getrennt voneinander vernommen worden. Die Bestellung eines Verteidigers erfolgte nicht, ein Antrag auf Entzug elterlicher Verfahrensrechte war seitens der Staatsanwaltschaft nicht gestellt worden. Nach Zustellung der Anklage haben sich Verteidiger für beide Angeklagte gemeldet. Die Verteidigerin des Jugendlichen beantragt nunmehr namens und im Auftrag ihres Mandanten, ihm als Pflichtverteidigerin beigeordnet zu werden, woraufhin sie das Wahlmandat niederlegen werde. Die Staatsanwaltschaft ist einer Beiordnung entgegengetreten, weil für die zur Begründung angeführten sonstigen schwerwiegenden Nachteile keinerlei Anhaltspunkte bestünden. Das AG hat die Wahlverteidigerin als Pflichtverteidigerin bestellt.

II. Entscheidung

Unfähigkeit zur Selbstverteidigung

Das AG hat einen Fall der notwendigen Verteidigung bejaht. Denn der Angeklagte könne sich i.S.d. § 140 Abs. 2 S. 1 letzte Alt. StPO nicht selbst verteidigen. Allerdings treffe die vorliegende Konstellation den Wortlaut des § 68 Abs. 1 Nr. 1 JGG insofern nicht, als für einen Erwachsenen ein Verteidiger nicht zu bestellen wäre, wenn die Einschränkung der Verteidigungsfähigkeit eines Angeklagten gerade aus dessen Minderjährigkeit herrühre. Die Vorschrift sei dahingehend auszulegen, dass einem Beschuldigten nach § 68 Nr. 1 JGG ein Verteidiger zu bestellen ist, wenn ein Fall der notwendigen Verteidigung nach allgemeinem Strafrecht gegeben ist (so im Ergebnis auch OLG Brandenburg, Beschl. v. 28.11.2001 – 1 Ss 46/01, NStZ-RR 2002, 187; OLG Saarbrücken, Beschl. v. 3.5.2006 – 1 Ws 87/06, StV 2007, 9). Dem Sinn der Vorschrift nach sei einem jugendlichen Angeklagten ein Verteidiger dann zu bestellen, wenn er sich nicht ausreichend selbst verteidigen könne – wobei dabei zu berücksichtigen sei, ob und in welchem Grad die Erziehungsberechtigten in der Lage und fähig – und damit verpflichtet – seien, die ihrem Kind geschuldete Unterstützung zuteilwerden zu lassen (vgl. zu diesem Aspekt LG Koblenz, Beschl. v. 2.1.2019 – 2 Qs 120/18, StRR 8/2019, 19).

Verteidigungsfähigkeit gegenüber einem Mitangeklagten

Der Angeklagte könne sich nicht ausreichend selbst verteidigen. Zur eigenen Verteidigungsfähigkeit gehöre es insofern nicht nur, sich gegenüber der Staatsanwaltschaft und ggf. einem Nebenkläger verteidigen zu können, sondern auch, sich gegenüber seinen Mitangeklagten behaupten zu können (vgl. u.a. OLG Brandenburg, Beschl. v. 28.11.2001 – 1 Ss 46/01, NStZ-RR 2007, 9). Dieser Aspekt des fairen Verfahrens gebiete die Bestellung eines Pflichtverteidigers zwar nicht immer schon dann, wenn einer der Mitangeklagten durch einen Verteidiger vertreten wird. Dies hätte nämlich zur Folge, dass in einer Konstellation mit mehreren Angeklagten der Fall der notwendigen Verteidigung allein durch ein geschicktes Prozessverhalten der Mitangeklagten herbeigeführt werden könnte, indem nämlich nacheinander alle Wahlverteidiger ihr Mandat niederlegen und auf die damit jeweils eingetretene prozessuale Unterlegenheit des von ihnen vertretenen Mandanten gegenüber den Mitangeklagten verwiesen werden könnte. Um eine solche rechtsmissbräuchliche Konstellation handele es sich aber dann nicht, wenn einer der Angeklagten von dem anderen finanziell und familiär abhängig ist. So habe der minderjährige Angeklagte, da er finanziell nicht selbstständig sei, keine Möglichkeit, sich unabhängig vom Willen seiner Eltern einen Verteidiger zu suchen.

Dilemma eines Jugendlichen

Vor allem aber stehe der Verteidigungsfähigkeit eines minderjährigen, von der Akzeptanz und Anerkennung seiner Eltern in besonderer Weise abhängigen Jugendlichen entgegen, dass er sich in einem für ihn nicht auflösbaren Dilemma befinden könne, einem Dilemma, wie es in dieser familiären Grundkonstellation, aber in anderer prozessualer Konstellation durch das Zeugnisverweigerungsrecht entschärft werden kann (zur Bestellung eines Pflichtverteidigers trotz Wiedereinräumung der verfahrensrechtlichen Rechtsstellung eines Elternteils LG Essen, Beschl. v. 25.8.2011 – 23 Qs 105/11, StV 2013, 39 [Ls.]). Diese Option stelle sich einem mitangeklagten Familienmitglied aber nicht. Das Dilemma, sich möglicherweise entweder einer ihm gegenüber erhobenen Schuldzuweisung, oder aber, im Gegenteil, gegen die Übernahme der Verantwortlichkeit durch einen ihn schützen wollenden Elternteil erwehren zu müssen, lasse sich gerade für einen Jugendlichen kaum adäquat lösen. In dieser Konstellation sei es unabdingbar, sich zumindest mit einer Vertrauensperson beraten und etwaige Problemlagen offenbaren und aussprechen zu können, um für sich selbst Klarheit gewinnen und sich die Sicht eines Dritten anhören zu können.

Notwendigkeit über Beginn der Volljährigkeit hinaus

Aus dieser Darstellung werde offenbar, dass diese Konstellation nicht einfach dadurch ein Ende findet, dass der Jugendliche volljährig wird. Dies würde nur die eng prozessrechtlich definierte Interessenskollisionskonstellation auflösen, die § 67 Abs. 4 JGG im Auge habe, dass nämlich ein Erziehungsberechtigter seine Verfahrensrechte zulasten seines mitangeklagten Kindes ausübe. Um eine solche Missbrauchskonstellation gehe es aber gar nicht, wo allein Fragen wie Loyalitätskonflikte oder emotionale Wahrnehmungsverzerrungen und ähnliches im Raum stehen, die eine adäquate Wahrnehmung eigener Interessen erschweren oder gar verunmöglichen.

Beteiligung einer Autoritätsperson

Darüber hinaus sei bei Taten unter Beteiligung einer Autoritätsperson, insbesondere eines Elternteils, die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Jugendlichen in besonderer Weise zu prüfen (OLG Hamm, Beschl. v. 24.10.2005 – 2 Ss 381/05, NStZ 2006, 520 = StV 2007, 8). Das Erfordernis einer solchen Prüfung erschwert die Sachlage in besonderer Weise, deren Erforderlichkeiten gerade ein selbst betroffener Jugendlicher nicht übersehen könne (vgl. dazu am Rande LG Amberg, Beschl. v. 4.2.2021 – 51 Qs 1/21, StRR 3/2021, 2 [Ls.] = StV 2022, 4 [Ls.]; LG Aachen, Beschl v. 8.7.2020 – 62 Qs-111 Js 146/20-41/20, StraFo 2021, 73 und umfassend Spahn, StraFo 2004, 82 ff.).

III. Bedeutung für die Praxis

Zutreffend

Die Entscheidung ist zutreffend. Gerade dann, wenn – wie es hier offenbar der Fall war – der Minderjährige auch finanziell noch von seinen Eltern abhängig ist, wird er kaum in der Lage sein, selbst für seine adäquate Verteidigung zu sorgen. Dieser Umstand und das vom AG aufgezeigte Dilemma, in dem der Minderjährige im Verhältnis zu seinen Eltern bzw. zum mitangeklagten Elternteil steckt, machen die Bestellung eines Pflichtverteidigers erforderlich (zum Pflichtverteidiger im JGG-Verfahren Burhoff, in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 9. Aufl. 2022, Rn 2703 ff. m.w.N. und in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 10. Aufl. 2022, Rn 2144 ff. m.w.N.).

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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