Die bloße Möglichkeit, dass ein Untersuchungsgefangener Freiheiten missbraucht, reicht nicht aus, um Beschränkungen anzuordnen. Gerade bei Maßnahmen, die auch den Schutz der Familie betreffen, ist eine eingehende Prüfung der Notwendigkeit erforderlich.
(Leitsatz des Verfassers)
I. Sachverhalt
Telefonate mit den Eltern nur überwacht
Das AG hat im Juni 2019 gegen den Angeklagten einen Haftbefehl wegen des Verdachts einer schweren Sexualstraftat erlassen und diesen auf Fluchtgefahr gestützt. Das AG hat angeordnet, dass Telefonate mitgehört werden müssten. Da der Angeklagte wegen einer anderen Sache rechtskräftig gem. § 63 StGB in einer psychiatrischen Klinik untergebracht worden war, wurde der Haftbefehl in Überhaft vollstreckt. Um den Jahreswechsel 2019/2020 gestattete die Staatsanwaltschaft dem Angeklagten, Telefonate mit seinen Eltern zu führen. Verfahrensrelevantes durfte nicht besprochen werden. Bei Gesprächen mit seiner aus Frankreich stammenden Mutter musste ein Dolmetscher mithören. Im Sommer 2021 verurteilte das LG den Angeklagten zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren und ordnete Sicherungsverwahrung an. Die Verurteilung beruhte auf dem Geständnis des Angeklagten. Auf die Revision hat der BGH die LG-Entscheidung hinsichtlich der Rechtsfolge aufgehoben.
Manipulation der Eltern möglich
Der Angeklagte hat im Hinblick auf den rechtskräftigen Schuldspruch die Aufhebung der Telefonüberwachung beantragt. Das LG und das OLG haben das abgelehnt. Da der Angeklagte eine Unterbringung nach § 63 StGB anstrebe, bestehe auch jetzt noch die Gefahr, dass er seine Eltern manipulieren könne, dieses Ziel durch Aussagen zu seiner psychischen Verfassung zur Tatzeit zu unterstützen. Die dagegen gerichtete Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg.
II. Entscheidung
Maßstäbe für haftgrundbezogene Beschränkungen
Das BVerfG verweist auf seine Maßstäbe zur Beurteilung haftgrundbezogener Beschränkungen in der Untersuchungshaft, die es in zahlreichen Entscheidungen aufgestellt habe (vgl. zur Besuchsüberwachung zuletzt BVerfG, Beschl. v. 30.10.2014 – 2 BvR 1513/14 m.w.N.). Danach stelle nicht nur die akustische Besuchsüberwachung einen erheblichen Eingriff in den persönlichen, durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Lebensbereich sowohl des Gefangenen als auch des Besuchers dar, sondern das gelte auch für die akustische Überwachung der Telekommunikation, die gleichfalls die Vertraulichkeit des gesprochenen Wortes zwischen dem Untersuchungsgefangenen und seinen Gesprächspartnern berührt (vgl. KK/Schultheis, 8. Aufl. 2019, § 119 Rn 27; LR/Gärtner, StPO, 27. Aufl. 2019, § 119 Rn 38).
Reale Gefährdung von Haftzwecken?
Voraussetzung für die Zulässigkeit von Grundrechtseingriffen auf der Grundlage von § 119 StPO sei eine reale Gefährdung der in der Bestimmung bezeichneten Haftzwecke (vgl. BVerfGE 15, 288, 295; 34, 369, 380), der durch die Inhaftierung allein nicht ausreichend entgegengewirkt werden kann. Das Gericht müsse deshalb stets prüfen, ob für das Vorliegen einer solchen Gefahr im Einzelfall konkrete Anhaltspunkte bestehen (vgl. BVerfGE 35, 5 <10>; 42, 234, 236; 57, 170, 177). Die bloße Möglichkeit, dass ein Untersuchungsgefangener seine Freiheiten missbrauche, reiche bei einer den Grundrechten Rechnung tragenden Auslegung des § 119 Abs. 1 StPO nicht aus, um Beschränkungen anzuordnen (vgl. BVerfGE 35, 5, Beschl. v. 10.1.2008 – 2 BvR 1229/07 m.w.N.). Es sei zu prüfen, ob eine Besuchsbeschränkung unverzichtbar vom Zweck der Untersuchungshaft oder der Ordnung im Vollzug gefordert wird (vgl. BVerfG, Beschl. v. 31.8.1993 – 2 BvR 1479/93), was auch für eine Beschränkung der Telekommunikation mit engen Familienangehörigen gelte, wenn diese für den Betroffenen – wie hier – eine der wenigen Möglichkeiten zur Aufrechterhaltung des Kontakts mit seiner Familie darstellt. Bei der Anordnung von Beschränkungen in der Untersuchungshaft sei stets zu beachten, dass Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stehen und der in Art. 6 Abs. 1 GG enthaltenen wertentscheidenden Norm im Haftvollzug besondere Bedeutung zukomme.
LG-Beschluss hat keine Begründungstiefe
Diesen Anforderungen seien die angegriffenen Entscheidungen nicht gerecht geworden. Die Begründungstiefe des landgerichtlichen Beschlusses, der vom OLG nicht beanstandet worden sei, genüge den verfassungsrechtlichen Anforderungen angesichts der insbesondere aufgrund der Anordnungsdauer der Beschränkungsmaßnahme schwerwiegend betroffenen Grundrechte des Beschwerdeführers nicht. Dies gelte unabhängig davon, ob die in Streit stehenden Beschränkungen der Untersuchungshaft auch in verfassungsgemäßer Weise hätten angeordnet werden können. Das LG führe nur unzureichend zur Gefährdung der Haftzwecke im Falle einer Aufhebung der Beschränkungsmaßnahme aus. Eine Gefährdung des Haftzwecks der Fluchtgefahr werde lediglich behauptet, die Annahme einer Verdunkelungsgefahr nicht hinreichend begründet. Konkrete Anhaltspunkte für Letztere erblicke das LG in einer möglichen Einwirkung des Beschwerdeführers auf seine Eltern, deren „Angaben zur psychischen Verfassung des Angeklagten vor und während der Tatzeit Bedeutung für das weitere Verfahren erlangen könnten“, und dem Umstand, dass er bereits angeordnete Überwachungsmaßnahmen erfolgreich umgangen habe. Angesichts des Umstands, dass die einmalige Umgehung der Überwachungsmaßnahme im Ermittlungsverfahren, als dem Beschwerdeführer der telefonische Kontakt zu seinen Eltern vollständig untersagt war, und vor Rechtskraft des Schuldspruchs erfolgte, hätte die Einschätzung, daraus unverändert eine grundsätzliche Bereitschaft des Beschwerdeführers zur gezielten Manipulation seiner Eltern abzuleiten, jedenfalls näherer Erläuterung bedurft. Zudem habe das LG nicht plausibel dargelegt, inwiefern eine vom Beschwerdeführer beeinflusste Aussage der Eltern im jetzigen Verfahrensstadium eine substanzielle Veränderung des Rechtsfolgenausspruchs hin zur Anordnung einer Maßregel nach § 63 StGB bewirken könnte. Der Schuldspruch sei nach einem Geständnis des Beschwerdeführers bereits rechtskräftig und die Möglichkeit seiner Unterbringung nach § 63 StGB sei bereits zu Verfahrensbeginn nicht zuletzt deswegen Gegenstand gutachterlicher Beurteilung, weil er derzeit nach § 63 StGB untergebracht sei. Ferner lasse die Befassung des LG mit den betroffenen Grundrechtspositionen des Beschwerdeführers keine dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der in Art. 6 Abs. 1 GG enthaltenen Wertentscheidung genügende Abwägung erkennen.
OLG behebt den Mangel nicht
Durch die Entscheidung des OLG sei dieser Begründungsmangel nicht behoben worden. Die knappe Feststellung, „das durch Art. 2 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 GG gewährleistete Interesse des Angeklagten an vertraulicher innerfamiliärer Kommunikation [habe] unter den gegebenen Umständen hinter dem staatlichen Interesse an einer Meidung missbräuchlicher Einwirkungen auf die neue Verhandlung über den Rechtsfolgenausspruch zurückzustehen“, bleibe hinsichtlich der abzuwägenden Grundrechtspositionen ebenfalls abstrakt und lasse eine substanzielle Auseinandersetzung mit der Angemessenheit beziehungsweise Zumutbarkeit der Überwachung der Telefonate, insbesondere mit Blick auf die fortgeschrittene Dauer der Maßnahme, vermissen.
III. Bedeutung für die Praxis
Weg nach Karlsruhe kann sich lohnen
Die Entscheidung zeigt mal wieder, was nach dem Erlass einer einstweiligen Anordnung in diesem Verfahren schon zu ahnen war: Der Weg nach Karlsruhe kann sich lohnen, vor allem, wenn wie hier die vom BVerfG in Haftsachen immer wieder eingeforderte „Begründungstiefe“ der Entscheidungen der Fachgerichte fehlt. Damit hatte es schon beim LG gehapert und erst recht dann wohl beim OLG, das sich in seiner Begründung auf nur einen Satz beschränkt hatte. Selbst wenn der Angeklagte die Früchte dieser Entscheidung möglicherweise nicht mehr lange wird genießen können, weil der BGH im zweiten Rechtsgang entschieden haben wird, sind solche Entscheidungen nicht nutzlos, sondern haben einen erzieherischen Effekt im Hinblick darauf, dass die Fachgerichte sich dann vielleicht doch mehr Mühe geben. Hoffentlich.