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Keine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren bei Nichtherausgabe von Case-List und Statistikdatei

Für die Beurteilung der Verteidigungsrelevanz einer begehrten Information ist im Ausgangspunkt der Vortrag des Betroffenen maßgeblich, der jedoch einer Evidenzkontrolle standzuhalten hat (hier: Statistikdatei und Case-List eines Geschwindigkeitsmessgerätes).

(Leitsatz des Verfassers)

VerfGH Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 27.10.2022VGH B 57/21

I. Sachverhalt

Das AG hat den Betroffenen am 4.2.2019 (!) wegen Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 34 km/h zu einer Geldbuße von 120 EUR verurteilt. Die Messung wurde mit dem in einen Anhänger (Enforcement Trailer) eingebauten Messgerät PoliScan FM1 der Firma Vitronic vorgenommen. Die Verteidigung hatte bereits vor der Hauptverhandlung u.a. die Zurverfügungstellung der Statistikdatei mit Case-List sowie die Reparatur-, Wartungs- und Eichnachweise beantragt. In der Hauptverhandlung hat die Verteidigung den Antrag auf Einsicht in die Messunterlagen wiederholt, verbunden mit einem Aussetzungsantrag.

Das OLG Koblenz – Einzelrichter – hat den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde mit Beschluss vom 6.6.2019 als unbegründet verworfen. Der daraufhin erhobenen Landesverfassungsbeschwerde hat der VerfGH mit Urteil vom 15.1.2020 – VGH B 19/19 teilweise stattgegeben. Das OLG Koblenz habe gegen die Rechte des Betroffenen auf effektiven Rechtsschutz und auf den gesetzlichen Richter verstoßen, indem es willkürlich die Rechtsbeschwerde nicht zur Fortbildung des Rechts zugelassen und die Sache nicht dem BGH im Wege der Divergenzvorlage zur Entscheidung vorgelegt habe (vgl. auch Burhoff/Niehaus, in: Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 6. Aufl. 2021, Rn 240 f.).

Das OLG Koblenz ließ daraufhin die Rechtsbeschwerde zu, hob das Urteil des AG vom 4.2.2019 auf und verwies die Sache an das AG zurück. Dieses verurteilte den Betroffenen mit Urteil vom 18.1.2021 erneut – diesmal unter Berücksichtigung der Verfahrensdauer zu einer Geldbuße von 80 EUR. Der Betroffene stellte erneut einen Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde und rügte u.a. die Verletzung des Einsichtsrechts in die begehrten Messunterlagen sowie die Verwendung eines die Rohmessdaten löschenden Geschwindigkeitsmessgerätes. Das OLG Koblenz verwarf den Zulassungsantrag mit Beschluss vom 26.7.2021 als unbegründet. Dagegen wendet sich der Betroffene erneut mit der Landesverfassungsbeschwerde und rügt die Verletzung des Rechtsstaatsprinzips in Gestalt des Rechts auf ein faires Verfahren, des Willkürverbots und der Garantie eines effektiven Rechtsschutzes.

II. Entscheidung

Der VerfGH gibt der Verfassungsbeschwerde statt und verweist die Sache zur erneuten Entscheidung an das AG Wittlich, das sich nunmehr zum dritten Mal mit der dem Betroffenen zur Last gelegten Ordnungswidrigkeit vom 13.10.2017 zu befassen haben wird.

Reparatur- und Wartungsunterlagen; „Lebensakte“; zeitliche Begrenzung auf den Eichzeitraum

Die Verfassungsbeschwerde hat Erfolg, weil der Verteidigung auch im zweiten Rechtsdurchgang die vorhandenen Reparatur- und Wartungsunterlagen des konkreten Messgerätes nicht im erforderlichen Umfang zugänglich gemacht worden sind (Rn 42). Die Information, ob nach der Messung (längstens bis zum Ablauf der am Tattag maßgeblichen Eichfrist) Reparaturen oder Wartungen am Messgerät durchgeführt wurden, sei zur Aufdeckung einer Funktionsbeeinträchtigung des Messgeräts nicht schlechthin ungeeignet. Das entspricht der jüngeren Rechtsprechung des VerfGH (Beschl. v. 13.12.2021 – VGH B 46/21 = VRR 1/2022, 20 ff. [Niehaus]).

Keine Verteidigungsrelevanz der Case-List bzw. Statistik-Datei; „Evidenzkontrolle“

Hinsichtlich der von der Verteidigung beantragten Überlassung der Case-List bzw. der Statistik-Datei verneint der VerfGH eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (Rn 31 ff.). Diesen Unterlagen fehle die erforderliche Verteidigungsrelevanz. Für diese sei im Ausgangspunkt zwar der Vortrag des Betroffenen maßgeblich, der jedoch einer „Evidenzkontrolle“ standzuhalten habe (Rn 33). Der Betroffene habe nicht dargelegt, inwiefern die Auflistung aller Messungen eines Messeinsatzes in verschiedenen Geschwindigkeitsbereichen Rückschlüsse auf die Qualität der konkreten Einzelmessung zulasse (Rn 38).

Keine Pflicht zur Speicherung der Rohmessdaten

Soweit das AG ein Messergebnis verwertet hat, dessen der Messung zugrunde liegende Rohmessdaten nicht zum Zwecke der nachträglichen Überprüfbarkeit gespeichert worden sind, äußert sich der VerfGH nicht (erneut) zur umstrittenen Frage eines daraus resultierenden Verwertungsverbots, vgl. dazu VerfGH Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 22.7.2022 – VGH B 30/21, VRR 9/2022, 21 ff. [Niehaus]. In der vorgenannten Entscheidung hat der VerfGH insoweit einen Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren verneint (ablehnend Niehaus, a.a.O.; ders., DAR 2022, 610, 614; ebenso Weigel, DAR 2022, 503; vgl. auch Burhoff/Niehaus, in: Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 6. Aufl. 2021, Rn 242).

III. Bedeutung für die Praxis

Erhoffte Rechtssicherheit durch Beschluss des BVerfG nicht eingetreten

Die weitere Entscheidung des VerfGH belegt, dass sich die Hoffnung, nach dem Beschluss des BVerfG vom 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18, VRR 1/2021, 4 ff. möge jedenfalls für weite Bereiche der umstrittenen Frage des Einsichtsrechts in die Messunterlagen Rechtssicherheit eingekehrt sein, nicht erfüllt hat (vgl. Niehaus, DAR 2022, 610 ff.; Weigel, DAR 2022, 503; König, DAR 2022, 362, 371 [„Zustand beträchtlicher Rechtsunsicherheit“]; Staub, DAR 2022, 379, 384).

„Verteidigungsrelevanz“; Perspektive der Verteidigung maßgeblich

In der Sache vermag die Entscheidung des VerfGH nicht zu überzeugen (vgl. auch den Beschl. v. 22.7.2022 – VGH B 30/21, VRR 9/2022, 21 ff. [Niehaus]). Maßgeblich für die Frage der „Verteidigungsrelevanz“ der Messunterlagen ist die Sichtweise des Betroffenen und der Verteidigung, nicht diejenige der Bußgeldbehörde oder des Gerichts (BVerfG a.a.O. Rn 57; Burhoff/Niehaus, a.a.O. Rn 231). Weshalb aber den Reparatur- und Wartungsunterlagen (auch soweit sie den Zeitraum nach der verfahrensgegenständlichen Messung betreffen) die erforderliche „Verteidigungsrelevanz“ zukommen soll, nicht aber den weiteren Messunterlagen wie der Case-List bzw. Statistikdatei oder den (nicht gespeicherten) Rohmessdaten, vermag der VerfGH nicht überzeugend zu begründen. Wie bereits Cierniak in seinem grundlegenden Beitrag über „Prozessuale Anforderungen an den Nachweis von Verkehrsverstößen“ ausgeführt hat, kann der Betroffene bzw. ein von ihm beauftragter Sachverständiger „eine ganze Reihe von Auffälligkeiten nur durch die Betrachtung aller Aufnahmen ermitteln und auf diese Weise die konkrete Möglichkeit von Messfehlern substantiieren“ (zfs 2012, 664, 676 m.w.N. und mit technischen Beispielen). Weshalb es der VerfGH besser wissen will – nämlich dahingehend, dass insoweit „nicht einmal eine theoretische Aufklärungschance“ bestehe (Rn 31) –, bleibt das Geheimnis des VerfGH.

Verfassungsbeschwerde beim BVerfG anhängig (2 BvR 1167/20)

Es bleibt die Hoffnung, dass etwa die Entscheidung des BVerfG im Rahmen der bei ihm anhängigen Verfassungsbeschwerde (BVerfG – 2 BvR 1167/20) überzeugendere Lösungen, auch für die Praxis, ergeben wird.

Letztlich dürfte, auch angesichts des Rückzugs des VerfGH auf die Position, dass das Recht auf ein faires Verfahren nur Mindestgarantien enthalte (Rn 27), das Tätigwerden des Gesetzgebers in diesem praktisch außerordentlich bedeutsamen Bereich des Ordnungswidrigkeitenverfahrens erforderlich sein, wie dies vom Verkehrsgerichtstag 2020 (Arbeitskreis IV, Empfehlung Nr. 1) gefordert worden ist. Denn bei den aufgeworfenen Fragen handelt es sich um wesentliche Gesichtspunkte des Ordnungswidrigkeitenverfahrensrechts. Nachdem es der Rechtsprechung (bisher) – wie auch der Beschluss des VerfGH Rheinland-Pfalz erneut belegt – nicht gelungen ist, für die Praxis befriedigende und bundesweit akzeptierte Vorgaben zu entwickeln, kann die Regelung dieser wesentlichen Fragen nicht länger allein der Rechtsprechung überantwortet werden (Niehaus, DAR 2022, 610, 615).

RiLG Prof. Dr. Holger Niehaus, Düsseldorf

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