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Praxisforum 2022_12: StGB/Nebengebiete

Einstweilige Anordnung gegen vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis

Das Vorliegen der Voraussetzungen von § 111a Abs. 1 S. 1 StPO, § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB haben Staatsanwaltschaft und Gerichte in der verfassungsrechtlich gebotenen Weise zu prüfen. Denn auch vorläufige Eingriffe in Freiheitsrechte können nicht mit vagen Annahmen und nicht näher plausibilisierten oder angreifbaren Schätzungen von Strafverfolgungsbehörden gerechtfertigt werden, sondern bedürfen einer hinreichenden tatsächlichen Grundlage.

(Leitsatz des Verfassers)

VerfGH Saarland, Beschl. v. 8.11.2022Lv 13/22

I. Sachverhalt

Der beruflich als Busfahrer und in der Freiwilligen Feuerwehr seines Heimatortes ehrenamtlich tätige Angeschuldigte fuhr mit einem von ihm gesteuerten Linienbus. Dabei soll er einen an einer verengten Straßenstelle verbotswidrig geparkten Pkw bei einem Rangiermanöver im Bereich der linken hinteren Stoßstange gestreift und sich sodann vom Unfallort entfernt haben. An dem angeblich hierdurch beschädigten Wagen wurde im Bereich der Ecke des rechten hinteren Kotflügels und des Radkastens ein rund 40 cm hoher Streifschaden festgestellt. Lackanhaftungen fehlten. Nach den polizeilichen Feststellungen fanden sich dort lediglich „aufgrund der regennassen Witterung Schmutzanhaftungen“. Eine Spurensicherung wurde nicht durchgeführt. Der Sachschaden wurde polizeilich auf 3.000 EUR geschätzt. Die geschädigte Halterin wurde benachrichtigt. Sie meldete sich nach drei Wochen bei der Polizei und gab als Information über das vermeintliche Geschehen an, sie werde ihren Wagen in einer Werkstatt reparieren lassen und – was bislang auch auf Nachfrage hin nicht geschehen ist – die Reparaturrechnung nachreichen.

Zeuginnen und Zeugen haben angegeben, das Unfallereignis akustisch und optisch bemerkt und gesehen zu haben, dass sich der Beschwerdeführer aus dem Busfenster in Richtung des geparkten Fahrzeugs gebeugt habe, dann jedoch weitergefahren sei. Rund eine Stunde später wurde der Beschwerdeführer festgestellt. An dem Linienbus wurde ein – längerer, aus der Farbbildaufnahme allerdings nicht klar zu erkennender – Streifschaden festgestellt. Der Beschwerdeführer bestritt, einen Zusammenstoß mit dem geparkten Fahrzeug bemerkt zu haben.

Die Staatsanwaltschaft hat den Erlass eines Strafbefehls wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort und zugleich die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis beantragt. Das AG hat beiden Anträgen stattgegeben. Der Angeschuldigte hat gegen den ihm zugestellten Strafbefehl Einspruch erhoben. Die gegen die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis erhobene Beschwerde hat das LG mit der Begründung verworfen, es sei „nichts dagegen zu erinnern, dass das Amtsgericht bei seiner zum jetzigen Zeitpunkt zwangsweise vorläufigen Betrachtung die von der Polizei geschätzte Schadenshöhe von 3.000 EUR seiner Entscheidung zugrunde gelegt“ habe. Die Staatsanwaltschaft betreibt nunmehr die Vollstreckung des Beschlusses über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis.

Der Angeschuldigte hat Verfassungsbeschwerde eingelegt. Der VerfGH Saarland hat auf die Verfassungsbeschwerde hin eine einstweilige Anordnung erlassen und die Wirksamkeit der Beschlüsse des AG und LG ausgesetzt.

II. Entscheidung

Der VerfGH moniert, dass AG und LG die Voraussetzungen für eine (vorläufige) Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 111a StPO i.V.m. § 69 StGB) nicht in der verfassungsrechtlich gebotenen Weise geprüft haben. Denn auch vorläufige Eingriffe in Freiheitsrechte könne man nicht mit vagen Annahmen und nicht näher plausibilisierten oder angreifbaren Schätzungen von Strafverfolgungsbehörden rechtfertigen. Vielmehr bedürften diese einer hinreichenden tatsächlichen Grundlage (vgl. zu den verfassungsrechtlichen Voraussetzungen einer vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis BVerfG, Beschl. v. 8.11.2017 – 2 BvR 2129/16, zfs 2018, 47 = StRR 3/2018, 14 = VRR 3/2018, 14–15). Dem würden die angegriffenen Entscheidungen – im Verfahren und nach gegenwärtigem Sachstand auch im Ergebnis – nicht gerecht.

Es sei nicht erkennbar, dass Staatsanwaltschaft, AG und LG sich aus den Akten ergebenden offenkundigen Zweifeln nachgegangen seien und bestehende, naheliegende und bessere Erkenntnismöglichkeiten einer Prüfung der entscheidenden Schadenhöhe genutzt hätten. Vielmehr stützten sich die Grundrechtseingriffe allein auf eine nicht näher begründete polizeiliche Schätzung. Eine solche, meist auf vielfältigen Erfahrungswerten beruhende Schätzung zugrunde zu legen sei zwar nicht unzulässig. Das sei indessen anders, wenn die Schätzung im Grenzbereich der Annahme eines bedeutenden Sachschadens – dessen Bestimmung in den Grenzen willkürfreien Verhaltens fachgerichtliche Aufgabe sei – liege oder wenn – zum Zeitpunkt der Beantragung oder des Erlasses des Beschlusses über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis – Anhaltspunkte vorlägen, die die Notwendigkeit weiterer Ermittlungen auf die Hand legen. Aus welchen Gründen sich die Staatsanwaltschaft mit dem Ausbleiben einer solchen – zunächst angeordneten – Feststellung begnügt habe, sei unerfindlich.

Insoweit könne dahinstehen, ob sich aus den Lichtbildern des Busses überhaupt ein kompatibler Streifschaden ergebe und wie die Divergenzen der Schadenbereichshöhen – 40 bis 74 cm bei dem Pkw, 44 bis 80 cm bei dem Bus – zu erklären sein können. Es könne auch dahinstehen, was mit „Schmutzanhaftungen infolge der regennassen Witterung“ gemeint sein solle und wie sich innerhalb der kurzen Zeit zwischen dem (angezeigten) Unfallgeschehen und der polizeilichen Feststellung „Verschmutzungen“ eines frischen Blechschadens durch „Regen“ ergeben haben können. Nicht ohne Weiteres erklärlich sei auch, dass bei einem Blechschaden dieses angeblichen Schadenausmaßes mit – soweit ersichtlich – Lackabschürfungen auf einer Höhe von 34 cm keinerlei Lackanhaftungen des überwiegend rot lackierten Busses verblieben sein sollen. Nicht ohne Weiteres erklärlich sei auch, warum sich die Geschädigte über nunmehr mehr als ein halbes Jahr hinweg nicht gemeldet und die Reparaturrechnung vorgelegt hat. Vor allem hätten die Strafverfolgungsbehörden auf der Hand liegende Ermittlungen unterlassen, die ihren Grundrechtseingriff hätten rechtfertigen – oder untersagen – können: Die Staatsanwaltschaft hat zwar die zuständige Polizeibehörde unter Hinweis auf die Möglichkeit zwangsweiser Vorführung aufgefordert, die Zeugen nachzuvernehmen, sich dann aber damit begnügt, dass die Geschädigte sich nicht gemeldet habe und, was nicht näher erläutert sei, nicht erreichbar gewesen sein soll. Vor allem aber hätte mehr als nahegelegen, die Halterin und Selbstversichererin des Linienbusses, die pp.GmbH, die – bislang nicht beschieden – Akteneinsicht erbeten hatte, zu befragen, ob dort eine Schadenanzeige und ein Verlangen nach Übernahme näher bezifferter Instandsetzungskosten eingegangen sei. Dazu hätte ein Telefonat genügt. Vor diesem Hintergrund liege – beim gegenwärtigen Stand der Dinge – ein verfassungswidriger Grundrechtseingriff durch die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis eher nahe.

Die somit gebotene Abwägung der Folgen des Erlasses einer einstweiligen Anordnung mit jenen, die bei ihrem Ausbleiben einträten, falle zugunsten des Angeschuldigten aus. Im letzteren Fall wäre ihm für eine geraume Zeit die Erlaubnis zum Führen eines Kraftfahrzeugs im öffentlichen Straßenverkehr entzogen. Er würde damit voraussichtlich die Möglichkeit beruflicher Betätigung als Busfahrer und voraussichtlich auch Möglichkeiten zur Fortführung seines – gemeinwohlwichtigen – Ehrenamtes verlieren, ohne dass das rückwirkend auszugleichen wäre. Sollte sich die Verfassungsbeschwerde als unbegründet erweisen, könnten sowohl die vorläufige als auch eine etwaige endgültige Maßregel weiterhin ergriffen werden. Eine Gefährdung der Sicherheit des Straßenverkehrs durch zwischenzeitliche schwere Verkehrsverstöße des Angeschuldigten sei – anders als in Fällen der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Fahrens in fahruntüchtigem Zustand – nicht zu befürchten; Feststellungen zu einer verkehrsrechtlich einschlägigen Auffälligkeit des Angeschuldigten würden fehlen. Es komme hinzu, dass § 142 Abs. 1 StGB im Wesentlichen dem privaten Interesse an der Sicherung von Schadenersatzansprüchen dient, das, wie das Verhalten der angeblich Geschädigten zeigt, im Streitfall nicht besonders schutzwürdig erscheine.

III. Bedeutung für die Praxis

Ein für StA, AG und LG nicht so schöner Beschluss. Denn es zeichnet sich eine Klatsche ab. Und für den Verteidiger ein schöner Erfolg, der zeigt, dass man eben die Flinte nicht zu früh ins Korn werden darf. Allerdings darf man sich auch nicht zu früh und zu viel freuen und zu viel Hoffnung machen. In Fällen der Entziehung wegen einer Trunkenheitsfahrt besteht wohl wenig(er) Aussicht auf einen solchen Erfolg. Aber immerhin. Man kann es ja mal versuchen.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

Feststellungen bei der Drogenfahrt

Der Nachweis einer drogenbedingten Fahrunsicherheit i.S.v. § 316 StGB kann nicht allein durch einen bestimmten Blutwirkstoffbefund geführt werden.

(Leitsatz des Verfassers)

BGH, Beschl. v. 2.8.20224 StR 231/22

I. Sachverhalt

Das LG hat den Angeklagten u.a. wegen vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr verurteilt.

Nach den Feststellungen bewegte der unter dem Einfluss von Cannabis und Amphetamin stehende Angeklagte am 22.2.2021 seinen Pkw im öffentlichen Straßenverkehr. Um sich wegen seiner fehlenden Fahrerlaubnis einer Polizeikontrolle zu entziehen, beschleunigte er das Fahrzeug in der Innenstadt von G. auf bis zu 100 km/h und überholte andere Verkehrsteilnehmer. Durch deren Brems- und Ausweichmanöver konnten Zusammenstöße verhindert werden. Der Angeklagte fuhr sodann auf die Autobahn auf und dort „Schlangenlinien“, so dass die verfolgenden Polizeibeamten aufschließen konnten. Nach dem Verlassen der Autobahn überfuhr der Angeklagte eine rote Ampel. Er verlor schließlich beim Abbiegen am nächsten Ortseingang die Kontrolle über sein Fahrzeug, das in einem Graben zum Stehen kam.

Am 11.3.2021 flüchtete der Angeklagte unter den gleichen Umständen erneut vor der Polizei. Hierbei hielt er seinen Pkw im Stadtgebiet von S. zunächst an, um den Anschein zu erwecken, dem Anhaltesignal Folge zu leisten. Als auch der Streifenwagen anhielt, beschleunigte der Angeklagte sein Fahrzeug. Nach dem Abbiegen in einen Feldweg fuhr er sich – der Erwartung der ihm folgenden Polizeibeamten entsprechend – dort fest. Er setzte sodann seinen Pkw an dem stehenden Einsatzfahrzeug vorbei im Vertrauen darauf zurück, dieses nicht zu beschädigen. Es kam jedoch zu einer Kollision mit der geöffneten Beifahrertür des Streifenwagens. Der Angeklagte fuhr nach einer kurzen Fahrtstrecke eine Böschung hinunter, wo sich sein Fahrzeug im Bewuchs festsetzte.

Dem Angeklagten an den Tattagen entnommene Blutproben wiesen jeweils 320 Mikrogramm Amphetamin sowie bei der ersten Fahrt 3,4 Mikrogramm THC und bei der zweiten Fahrt 17 Mikrogramm THC pro Liter Blut auf.

Das LG hat die Fahruntüchtigkeit des Angeklagten zunächst mit dessen geständiger Einlassung zum Konsum von Betäubungsmitteln und mit den Ergebnissen der Blutproben begründet. Im Übrigen hat es lediglich ausgeführt, dass die Feststellungen zum Fahrverhalten des Angeklagten auf dessen Einlassung – der ein Einfluss seiner Intoxikation nicht zu entnehmen ist („in Panik geraten“) und auf den Zeugenaussagen von Polizeibeamten beruhen.

II. Entscheidung

Diese Ausführungen waren nach Auffassung des BGH nicht ausreichend, so dass er das angefochtene Urteil insoweit aufgehoben hat. Der Nachweis einer drogenbedingten Fahrunsicherheit i.S.v. § 316 StGB könne – wovon auch das LG ausgegangen sei – nicht allein durch einen bestimmten Blutwirkstoffbefund geführt werden. Es bedürfe weiterer aussagekräftiger Beweisanzeichen, die im konkreten Einzelfall belegen, dass die Gesamtleistungsfähigkeit des Kraftfahrzeugführers so weit herabgesetzt gewesen sei, dass er nicht mehr fähig gewesen sei, sein Fahrzeug im Straßenverkehr eine längere Strecke, auch bei Eintritt schwieriger Verkehrslagen, sicher zu steuern (st. Rspr.; vgl. u.a. BGHSt 44, 219, 221 ff., BGH StraFo 2017, 113). Dies habe das Tatgericht anhand einer Gesamtwürdigung aller relevanten Umstände zu beurteilen (vgl. BGHSt 31, 42, 44 ff.; Pegel, in: MüKo-StGB, 3. Aufl., § 316 Rn 53). Hier scheine das LG in dem grob fehlerhaften und risikoreichen Fahrverhalten des Angeklagten drogenbedingte Ausfallerscheinungen (vgl. hierzu BGHSt 31, 42, 45; König, in: LK-StGB, 13. Aufl., § 316 Rn 97) erblickt zu haben. Eine diese Annahme tragende Beweiswürdigung sei den Urteilsgründen jedoch nicht zu entnehmen. Diese wäre aber erforderlich gewesen, denn es verstehe sich unter den hier gegebenen Umständen auch nicht etwa von selbst, dass in dem festgestellten Fahrverhalten des Angeklagten eine drogenbedingte Fahrunsicherheit zum Ausdruck gekommen sei. Dabei hätte insbesondere in die Beurteilung einfließen müssen, dass das Fahrverhalten des Angeklagten in beiden Fällen darauf ausgerichtet gewesen sei, sich von ihn verfolgenden Polizeifahrzeugen abzusetzen. Die Strafkammer hätte nach Auffassung des BGH deshalb erörtern müssen, ob und inwieweit die fehlerhafte und riskante Fahrweise des Angeklagten nicht auf seinem Fluchtwillen beruhte (vgl. dazu BGH StraFo 2017, 113; Beschl. v. 11.2.2014 – 4 StR 520/13 m.w.N.). Die nicht weiter konkretisierte Feststellung, der Angeklagte sei auf der Autobahn „Schlangenlinien“ gefahren, sei für sich genommen noch nicht geeignet, seine Fahruntüchtigkeit bei der ersten Tat zu belegen, zumal die Strafkammer auch hier einen allein fluchtbedingten Grund für das Fahrverhalten des Angeklagten nicht ausgeschlossen habe.

Auch mit Blick auf die mitgeteilten Blutwerte verstehe sich – so der BGH – ein Indizwert des Fahrverhaltens des (konsumgewohnten) Angeklagten für seine jeweilige Fahruntüchtigkeit nicht von selbst. Zwar können die Anforderungen an Art und Ausmaß drogenbedingter Ausfallerscheinungen umso geringer sein, je höher die im Blut festgestellte Wirkstoffkonzentration ist (vgl. BGHSt 44, 219, 225; s. dazu auch BGH VRR 2012, 145 = StRR 2012, 151). Dem stehe aber entgegen, dass die Strafkammer bei der Prüfung der Schuldfähigkeit des Angeklagten jeweils nicht von einer „manifesten Intoxikation“ ausgegangen sei (vgl. auch BGHSt 44, 219, 225).

III. Bedeutung für die Praxis

Die Entscheidung führt die (zitierte) Rechtsprechung des BGH zu den sog. Fluchtfällen fort, bei denen der unter Alkohol- oder Drogeneinfluss stehende Beschuldigte vor der Polizei flieht, um sich dem Zugriff der Polizei zu entziehen. In den Fällen muss vom Tatgereicht immer erörtert werden, ob eine fehlerhafte und riskante Fahrweise des Angeklagten nicht (nur) auf seinem Fluchtwillen beruht, sondern eben auch auf den konsumierten Drogen oder dem Alkoholkonsum. Zwar ist der Tatrichter gehindert, auch bei einem Täter, der sich seiner Festnahme durch die Polizei entziehen will, in einer deutlich unsicheren, waghalsigen und fehlerhaften Fahrweise ein Beweisanzeichen für eine rauschmittelbedingte Fahruntüchtigkeit zu sehen, er muss dazu nur ausreichende Feststellungen treffen. An der Stelle kann die Verteidigung ansetzen. Eine Aufhebung bringt zumindest Zeitgewinn.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

Absicht zum Herbeiführen eines Unglücksfalls

Der Tatbestand des § 315b Abs. 1 StGB kann auch erfüllt sein, wenn die Tathandlung unmittelbar zu einer konkreten Gefahr oder Schädigung führt. In diesem Fall ist eine verkehrsspezifische Gefahr aber nur zu bejahen, wenn der Fortbewegung des von dem Eingriff betroffenen Fahrzeugs in einer Weise entgegengewirkt wird, dass gerade infolge der Dynamik des Straßenverkehrs eine konkrete Gefahr für die Fahrzeuginsassen oder das Fahrzeug entsteht.

(Leitsatz des Verfassers)

BGH, Beschl. v. 30.8.20224 StR 215/22

I. Sachverhalt

Nach den Urteilsfeststellungen des LG warf die Angeklagte in fünf Fällen jeweils einen Stein gezielt auf fahrende Kraftfahrzeuge, um diese zu beschädigen. In vier dieser Fälle trafen die Steine die Fahrzeuge und beschädigten sie teils erheblich. In einem der Fälle gelangte der Stein durch ein geöffnetes Fahrzeugfenster in das Wageninnere und verfehlte nur knapp den Kopf des Fahrers. Das LG hat diese Fälle rechtlich jeweils als vorsätzlichen gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr (§ 315b Abs. 1 Nr. 3 StGB) in Tateinheit mit Sachbeschädigung (§ 303 StGB) – wobei es in einem Fall jeweils beim Versuch blieb – gewertet. Dagegen hat die Angeklagte Revision eingelegt, die Erfolg hatte.

II. Entscheidung

Nach Auffassung des BGH wird die Annahme gefährlicher Eingriffe in den Straßenverkehr von den Feststellungen des LG nicht getragen. Der Tatbestand des § 315b Abs. 1 StGB setze den Eintritt einer verkehrsspezifischen Gefahr und – bei vorsätzlicher Begehung – einen hierauf gerichteten (natürlichen) Tatvorsatz voraus. Erforderlich sei daher in objektiver Hinsicht, dass die eingetretene konkrete Gefahr jedenfalls auch auf die Wirkungsweise der für Verkehrsvorgänge typischen Fortbewegungskräfte zurückzuführen ist. Dies sei der Fall, wenn eine der in § 315b Abs. 1 StGB bezeichneten Tathandlungen über die ihr innewohnende latente Gefährlichkeit hinaus zu einer kritischen Verkehrssituation geführt habe, in der eines der genannten Individualrechtsgüter im Sinne eines „Beinaheunfalls“ so stark beeinträchtigt war, dass es nur noch vom Zufall abhing, ob das Rechtsgut verletzt wurde oder nicht (vgl. BGH StRR 6/2022, 26 = VRR 4/2022, 19 m.w.N.). Der Tatbestand des § 315b Abs. 1 StGB kann aber auch erfüllt sein, wenn die Tathandlung – wie jedenfalls in den Vollendungsfällen hier – unmittelbar zu einer konkreten Gefahr oder Schädigung führt. In diesem Fall ist eine verkehrsspezifische Gefahr aber nur zu bejahen, wenn der Fortbewegung des von dem Eingriff betroffenen Fahrzeugs in einer Weise entgegengewirkt wird, dass gerade infolge der Dynamik des Straßenverkehrs eine konkrete Gefahr für die Fahrzeuginsassen oder das Fahrzeug entsteht (grundlegend BGHSt 48, 119, 124; BGH StRR 6/2022, 26 = VRR 4/2022, 19; VRS 140, 23 jeweils m.w.N.). Die vom LG festgestellten Steinwürfe der Angeklagten erfüllten diese Anforderungen nach Ansicht des BGH nicht. Denn den Feststellungen lasse sich nicht entnehmen, dass der (beabsichtigte) Schadenseintritt auf die für Verkehrsvorgänge typischen Fortbewegungskräfte zurückzuführen war.

III. Bedeutung für die Praxis

Die Entscheidung bringt nichts Neues zum gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr (§ 315 StGB), sondern bestätigt die dazu vorliegende Rechtsprechung des BGH (vgl. die zitierten Nachweise). Entscheidend in den „Werfer-Fällen“ ist, dass sich aus den tatsächlichen Feststellungen ergeben muss, dass sich die Absicht des Täters auf die Herbeiführung einer verkehrsspezifischen Gefahr richten muss, was hier – wiederum – nicht der Fall war (vgl. dazu auch die Fälle der Schüsse auf ein fahrendes Fahrzeug in BGH NZV 2016, 40). Dabei erscheint mir der BGH hier recht großzügig, da man ja eine verkehrsspezifische Gefahr zumindest damit hätte begründen können, dass die Steine in vier Fällen die Frontscheiben beschädigt haben und in einem Fall durch das geöffnete Seitenfenster in das Fahrzeuginnere gelangt waren (vgl. dazu auch BGH StRR 6/2022, 26 = VRR 4/2022, 19). Aber im Zweifel waren dem BGH nicht genügend Feststellungen zu den Auswirkungen auf die Verkehrsdynamik getroffen worden (vgl. VRS 140, 23 zum massiven Schlag eines Fußgängers auf den Kopf eines an ihm vorbeifahrenden Rennradfahrers).

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

Polizeiflucht als Alleinrennen

Allein der Umstand, dass der Angeklagte unter Missachtung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit und von Vorfahrtsregelungen vor der Polizei flüchtete, genügt nicht zur Annahme der nach § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB erforderlichen Absicht, auf einer nicht unerheblichen Wegstrecke die unter den konkret situativen Gegebenheiten maximal mögliche Geschwindigkeit zu erreichen.

(Leitsatz des Gerichts)

OLG Zweibrücken, Beschl. v. 14.10.20221 OLG 2 Ss 27/22

I. Sachverhalt

Der Angeklagte wurde am 3.6.2021 gegen 1.48 Uhr von einer Polizeistreife auf einem Parkplatz angetroffen, wo er mit seinem Pkw Mercedes-Benz mit durchdrehenden Reifen fahrend und um Parkplatzbegrenzungen driftend angekommen war. Als der Polizeibeamte an sein Fahrzeug herantrat, um ihn einer Personenkontrolle zu unterziehen, setzte der Angeklagte sein Fahrzeug abrupt aus der Parklücke zurück und beschleunigte den Pkw massiv, um eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen und sich so der polizeilichen Kontrolle zu entziehen. Mit weit überhöhter Geschwindigkeit missachtete er eine rot zeigende Wechsellichtzeichenanlage, befuhr die sich anschließende Straße mit einer deutlich über der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h liegenden Geschwindigkeit, ignorierte eine einmündende Vorfahrtsstraße und überfuhr mit mindestens 70 km/h eine weitere rot anzeigende Wechsellichtzeichenanlage. Nach einer Gesamtfahrtstrecke von 250 m bog der Angeklagte links ab. Dadurch verlor ihn der Polizeibeamte, der mit seinem Fahrzeug die Verfolgung aufgenommen hatte, aus dem Blick. Bei der anschließenden Nahbereichsfahndung wurde der Pkw von einer hinzugerufenen Streifenwagenbesatzung aufgefunden. Das LG hat diesen Sachverhalt rechtlich als verbotenes Kraftfahrzeugrennen gemäß § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB gewertet. Die dagegen gerichtete Revision hatte Erfolg.

II. Entscheidung

Die Annahme des LG, der Angeklagte habe in der Absicht gehandelt, eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen, hält nach Auffassung des LG rechtlicher Überprüfung nicht stand. Die Beweiswürdigung erweise sich als lückenhaft. Bei einem verbotenen Kraftfahrzeugrennen i.S.d. § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB müsse die Tathandlung im Sinne einer überschießenden Innentendenz von der Absicht des Täters getragen sein, nach seinen Vorstellungen auf einer nicht unerheblichen Wegstrecke die unter den konkret situativen Gegebenheiten maximal mögliche Geschwindigkeit zu erreichen. Diese Absicht brauche nicht Endziel oder Hauptbeweggrund des Handelns zu sein. Es reiche vielmehr aus, dass der Täter das Erreichen der situativen Grenzgeschwindigkeit als aus seiner Sicht notwendiges Zwischenziel anstrebt, um ein weiteres Handlungsziel zu erreichen. Dies habe zur Folge, dass beim Vorliegen der weiteren tatbestandlichen Voraussetzungen auch sogenannte Polizeifluchtfälle von der Strafvorschrift erfasst werden, sofern festgestellt werden könne, dass es dem Täter darauf ankam, als notwendiges Zwischenziel für eine erfolgreiche Flucht über eine nicht ganz unerhebliche Wegstrecke die höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen. Dabei sei zu beachten, dass aus einer Fluchtmotivation nicht ohne Weiteres auf die Absicht geschlossen werden könne, die gefahrene Geschwindigkeit bis zur Grenze der situativ möglichen Geschwindigkeit zu steigern (BGHSt 66, 27 = VRR 4/2021, 13 = StRR 5/2021, 16; DAR 2021, 395; NStZ 2021, 615 = VRR 7/2021, 15 = StRR 10/2021, 25).

Das LG habe seine Überzeugung vom Vorliegen des Absichtselements ausschließlich auf die Bekundungen des den Angeklagten verfolgenden Polizeibeamten zu dessen Fahrverhalten gestützt. Es habe sich weder mit den auf der zurückgelegten Strecke unter den konkreten Gegebenheiten höchstmöglichen Geschwindigkeiten auseinandergesetzt, noch habe es dargelegt, inwieweit der Angeklagte versucht hat, diese zu erreichen. Allein der Umstand, dass der Angeklagte unter Missachtung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit und von Vorfahrtsregelungen vor der Polizei flüchtete, genüge nicht, um auf die zur Verwirklichung des Tatbestandes erforderliche Absicht zu schließen. Denn nach dem Willen des Gesetzgebers sollen bloße Geschwindigkeitsüberschreitungen nicht von der Strafbarkeit erfasst werden, selbst wenn sie erheblich seien (s. BT-Drucks 18/12964, S. 6). Soweit das LG darauf abgestellt habe, dass der Angeklagte mindestens 70 km/h gefahren sein müsse, weil der Zeuge 60 km/h gefahren sei und sich der Abstand zu dem Angeklagten „rasant“ vergrößert habe, würden die Urteilsgründe nicht erkennen lassen, ob das LG bei der Würdigung der Zeugenaussage und der darauf aufbauenden Schätzung der vom Angeklagten gefahrenen Geschwindigkeit berücksichtigt hat, dass der Zeuge bei Beginn der Flucht nicht in seinem Fahrzeug gesessen habe, sondern ausgestiegen und an den Pkw des Angeklagten herangetreten sei. Die Strafkammer hätte näher in den Blick nehmen müssen, ob und inwieweit die Bewertung der von dem Angeklagten gefahrenen und angestrebten Geschwindigkeiten dadurch erschwert gewesen sein könnte, dass der Zeuge die Verfolgung nicht unmittelbar nach Beginn der Fluchtfahrt habe aufnehmen können und der Angeklagte schon allein deshalb einen Vorsprung hatte.

III. Bedeutung für die Praxis

Mal wieder eine Entscheidung zur (Neu-)Regelung des § 315d StGB, die die inzwischen vorliegende Rechtsprechung des BGH umsetzt. Das wird auch deutlich an einem Hinweis des OLG für die „neue Hauptverhandlung“. Denn das OLG weist auf Folgendes hin:

1. Das objektive Tatbestandselement der unangepassten Geschwindigkeit meine jede der konkreten Verkehrssituation nach den straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften nicht mehr entsprechende Geschwindigkeit und erfasse sowohl Verstöße gegen die Gebote des § 3 Abs. 1 StVO als auch Überschreitungen der in § 3 Abs. 3 StVO geregelten allgemeinen Höchstgeschwindigkeit (BGHSt 66, 27; DAR 2021, 395 jeweils m.w.N.). Daher: Soweit der Senat in seiner früheren Entscheidung die Auffassung vertreten habe, dass nicht entscheidend auf die Überschreitung der am Tatort zugelassenen Geschwindigkeit abzustellen sei, sondern darauf, ob das Fahrzeug bei der gefahrenen Geschwindigkeit noch sicher beherrscht werden könne (Beschl. v. 19.5.2020 – 1 OLG 2 Ss 34/20, zfs 2020, 528), werde daran nicht festgehalten.

2. Und: Soweit die neue Verhandlung ergibt, dass sich der Angeklagte nicht wegen § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB strafbar gemacht hat, ist nach Auffassung des OLG zu prüfen, ob der Angeklagte wegen der Begehung verschiedener Verkehrsordnungswidrigkeiten, insbesondere wegen Geschwindigkeitsüberschreitungen (§ 49 Abs. 1 Nr. 3, § 3 StVO) sowie Vorfahrts- und Wechsellichtzeichenverstößen (§ 49 Abs. 1 Nr. 2, 8, §§ 8, 37 StVO) zu verurteilen ist. Das muss der Verteidiger beachten und ggf. die Frage der Verjährung prüfen. Hier war bis zur erstinstanzlichen Verurteilung am 14.12.2021 nicht verjährt, da verjährungsunterbrechenden Maßnahmen vorlagen, nämlich die sog. erste Vernehmung am 9.8.2021 (§ 33 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 OWiG) und der Erlass eines Strafbefehls am 21.9.2021 (§ 33 Abs. 1 S. 1 Nr. 15 OWiG). Seither ruhte die Verjährung (§ 32 Abs. 2 OWiG).

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

Benutzen eines E-Scooters als einfachen Tretroller

Wer einen unversicherten E-Scooter ohne Fahrerlaubnis im öffentlichen Straßenverkehr wie einen einfachen Tretroller mit bloßer Muskelkraft fortbewegt, verhält sich selbst dann weder strafbar noch ordnungswidrig, wenn er zuvor Drogen konsumiert hat, ohne Ausfallerscheinungen zu zeigen.

(Leitsatz des Gerichts)

LG Hildesheim, Urt. v. 20.9.202213 Ns 40 Js 25077/21

I. Sachverhalt

Dem Angeklagten ist zur Last gelegt worden, er habe am 13.5.2021 gegen 13:25 Uhr mit dem Elektrokleinstfahrzeug Typ Dualmoto Nanrobot 4 d plus (2000 Watt) (im Folgenden: E-Scooter) öffentliche Straßen unter dem Einfluss von Marihuana befahren, obwohl er wusste, dass er die zum Führen des Fahrzeugs benötigte Erlaubnis der Verwaltungsbehörde nicht hatte und das Fahrzeug auch nicht haftpflichtversichert war. Das AG hat den Angeklagten wegen vorsätzlichen Gebrauchs eines Fahrzeugs auf öffentlichen Wegen und Plätzen ohne erforderlichen Haftpflichtversicherungsschutz verurteilt und ihn vom Vorwurf des Fahrens ohne Fahrerlaubnis freigesprochen. Dagegen haben sowohl die Staatsanwaltschaft als auch der Angeklagte Berufung eingelegt. Ziel der Berufung der Staatsanwaltschaft war eine Verurteilung des Angeklagten auch wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis. Ziel des Rechtsmittels des Angeklagten war ein Freispruch insgesamt. Nur die Berufung des Angeklagten hatte Erfolg.

II. Entscheidung

Das LG weist darauf hin, dass es in der Berufungshauptverhandlung die erstinstanzliche Beweisaufnahme wiederholt und vertieft habe. Danach könnten aber die Indizien, die dafür sprechen, dass der Angeklagte den E-Scooter unter Einsatz seines Elektromotors gefahren habe, diejenigen Indizien, aus denen sich eine realistische Möglichkeit dafür ergebe, dass der elektrische Antrieb, wie der Angeklagte angebe, zur Tatzeit nicht funktionierte und er das – bauartbedingt auch dafür geeignete – Fahrzeug deshalb wie einen Tretroller mit bloßer Muskelkraft angetrieben habe, um ihn gerade wegen des Defekts zum privaten Verkäufer zu bringen, nicht zur Überzeugung der Kammer zu überwinden.

Das Benutzen des E-Scooters als einfachen Tretroller durch den Angeklagten erfülle – so das LG – auch keinen Straftatbestand oder zumindest den einer Verkehrsordnungswidrigkeit, und zwar weder unter dem Gesichtspunkt eines Vergehens nach dem PflVG noch unter dem Gesichtspunkt eines Fahrens ohne Fahrerlaubnis (§ 21 StVG) und auch nicht unter dem Gesichtspunkt des Fahrens unter Drogeneinfluss (§ 316 StGB).

§ 6 PflVG setze ein „Gebrauchen“ des Kraftfahrzeugs voraus. Gebrauchen bedeute die bestimmungsgemäße Benutzung des Kraftfahrzeugs zum Zweck der Fortbewegung (vgl. Lampe, in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, 239. EL Dezember 2021, § 6 PflVG Rn 10; Sandherr, in: Haus/Krumm/Quarch, Gesamtes Verkehrsrecht, 3. Aufl. 2021, § 6 PflVG Rn 24; jeweils m.w.N.). Rechtsprechung dazu, ob das Fortbewegen eines E-Scooters mit bloßer Tretkraft ein Gebrauchen i.S.v. § 6 PflVG darstelle, sei, soweit ersichtlich, bislang nicht veröffentlicht. Auch die Kommentarliteratur (vgl. Lampe, in: Erbs/Kohlhaas, a.a.O.; Sandherr, in: Haus/Krumm/Quarch, a.a.O.; Kretschmer, in: MüKo-StVR, 1. Aufl. 2016, § 6 PflVG Rn 28) verhalte sich dazu nicht. Zu den Fallgestaltungen, in denen ein Kraftfahrzeug mit bloßer Muskelkraft fortbewegt worden sei, werden im Wesentlichen – allesamt ältere – Entscheidungen zitiert: Das KG, Urt. v. 6.9.1973 – 3 Ss 125/73, VRS 25, 475, das das Fortbewegen eines – unversicherten – Mopeds (Fahrrad mit Hilfsmotor) mit Tretkraft als „Gebrauchen“ i.S.v. § 6 PflVG angesehen hat, das OLG Düsseldorf, Urt. v. 29.9.1981 – 2 Ss 426/81 – 219/81 II, VRS 62, 193, das entschieden habe, dass das Fortbewegen eines Mofas, indem sich der Fahrer auf dem Sattel sitzend mit den Füßen vom Erdboden abstößt, nicht unter § 24a StVG (Führen eines Kraftfahrzeugs nach Alkoholkonsum) falle, das KG, Beschl v. 31.1.1984 – 5 Ss 315/83 – 1/84, VRS 67, 154, in dem das KG ausführe, dass es sich um einen Gebrauch i.S.v. § 6 PflVG dann nicht handele, wenn das Fahrzeug abgeschleppt, von Tieren gezogen, von Menschen geschoben oder auf einem anderen Kraftfahrzeug transportiert worden sei. Alle diese Entscheidungen beruhen – so das LG – auf dem Grundsatz, dass die von Kraftfahrzeugen ausgehende typische Verkehrsgefahr i.d.R. fehle, wenn ein Kraftfahrzeug durch (betriebs-) fremde Kräfte – beispielsweise durch bloßes Schieben, Ziehen oder durch die eigene Körperkraft – im Verkehr bewegt werde. Bei der Anwendung dieses Grundsatzes auf einen E-Scooter ergebe sich, dass die typische Gefahr eines E-Scooters darin bestehe, dass er viel höhere, gleichbleibende Geschwindigkeiten erziele als ein einfacher Tretroller und dass der Fahrer dabei zudem anders als beim Tretroller keinen regelmäßigen Bodenkontakt und damit auch weniger körperliche Kontrolle über das Fahrzeug habe. Werde ein E-Scooter hingegen mit bloßer Muskelkraft benutzt, verhalte er sich nicht anders als ein für Erwachsene ausgelegter Tretroller. Darin liege auch der wesentliche Unterschied zum Moped, welches Gegenstand des KG, Urt. 6.9.1973 (VRS 25, 475) gewesen sei. Das KG habe dazu ausgeführt, dass die von dem Moped ausgehende Gefahr mit Rücksicht auf seine gegenüber einem Fahrrad schwierigere Handhabung, das größere Gewicht und das Vorhandensein eines Benzintanks nicht wesentlich geringer sei, wenn es statt mit Motorkraft mit Tretkraft fortbewegt werde.

Gem. § 21 Abs. 1 Nr. 1 StVG mache sich strafbar, wer ohne die erforderliche Fahrerlaubnis „ein Kraftfahrzeug führt“. Nach ständiger Rechtsprechung des BGH (vgl. NJW 2015, 1124, 1125 m.w.N.) sei Führer eines Kfz, wer es unter bestimmungsgemäßer Anwendung seiner Antriebskräfte unter eigener Allein- oder Mitverantwortung in Bewegung setzt oder unter Handhabung seiner technischen Vorrichtungen während der Fahrtbewegung durch den öffentlichen Verkehrsraum ganz oder wenigstens zum Teil lenkt. Nach dieser Definition sei für die Benutzung eines E-Scooters als bloßen Tretroller § 21 StVG erst recht nicht einschlägig.

Auch für den Umstand, dass die dem Angeklagten eine Dreiviertelstunde nach der Verkehrskontrolle abgenommene Blutprobe Wirkstoffkonzentrationen aufwies, die den analytischen Grenzwert für THC von 1 ng/ml insgesamt über 90(!)-fach überschreiten, könne er letztlich nicht belangt werden, weil Voraussetzung für eine Ordnungswidrigkeit nach § 24a Abs. 2 StVG ebenfalls das Führen eines Kraftfahrzeugs wäre (siehe oben) und der Straftatbestand des § 316 StGB („Trunkenheit im Verkehr“) zwar nur das Führen eines „Fahrzeugs“ verlange, es für Fahruntüchtigkeit infolge von Drogenkonsum jedoch keine Wirkstoffgrenzen für „absolute“ Fahruntüchtigkeit gebe, vielmehr die Feststellung der Fahruntüchtigkeit anhand einer umfassenden Würdigung der Beweisanzeichen im Einzelfall erforderlich sei (vgl. Fischer, StGB, 69. Auf. 2022, § 316 Rn 39, 39a m.w.N.). Solche Beweisanzeichen für eine Fahruntüchtigkeit des Angeklagten sieht das LG nicht, was es im Einzelnen darlegt.

III. Bedeutung für die Praxis

Eine m.E. zutreffende Entscheidung, wobei aber nicht übersehen werden darf, dass der E-Scooter eben nur wie einfacher Tretroller mit bloßer Muskelkraft bewegt worden ist. Denn sonst kann ggf. die Strafbarkeit nach den vom LG geprüften Vorschriften vorliegen und damit auch die Entziehung der Fahrerlaubnis drohen (zum E-Scooter u.a. OLG Zweibrücken 8/2021, 25; LG Leipzig VRR 10/2022, 20).

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

Entzug der Fahrerlaubnis bei Trunkenheitsfahrt mit einem E-Scooter

Die Regelwirkung des § 69 Abs. 2 Abs. 2 Nr. 2 StGB kann bei einer Trunkenheitsfahrt mit einem E-Scooter widerlegt werden.

(Leitsatz des Verfassers)

LG Leipzig, Urt. v. 24.6.20229 Ns 504 Js 66330/21

I. Sachverhalt

Der Angeklagte wurde vom AG wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr zu einer Geldstrafe verurteilt. Das AG sah davon ab, dem Angeklagten die Fahrerlaubnis zu entziehen und gegen ihn eine Sperre für die Wiedererteilung der Fahrerlaubnis zu verhängen. Der Angeklagte fuhr mit einem E-Scooter, obwohl er infolge vorangegangenen Alkoholgenusses fahruntüchtig war (Blutalkoholkonzentration von 1,5 Promille). Schuldspruch und Strafausspruch sind rechtskräftig. Mit ihrer erfolglosen Berufung rügt die StA die unterlassene Entziehung der Fahrerlaubnis.

II. Entscheidung

Der E-Scooter sei ein „Elektrokleinstfahrzeug“ im Sinne der eKFV. Eine Ausnahmeregelung, wie sie § 1 Abs. 3 StVG für das Pedelec enthält, das nicht als Kfz i.S.d. StVG gilt, gebe es für den E-Scooter nicht. Folge sei, dass der E-Scooter als Kfz i.S.d. StVG und des § 69 StGB gilt. Die Regelwirkung aus § 69 Abs. 2 StGB könne durch vom Regelfall abweichende Umstände widerlegt werden. Dies sei hier der Fall. Schon nach Sinn und Zweck des § 69 StGB sei davon auszugehen, dass dieser seinen eigentlichen (ursprünglichen) Anwendungsbereich im Bereich der führerscheinpflichtigen Kfz hat, weil nur dort wegen der nötigen Erteilung einer Fahrerlaubnis überhaupt eine Eignungsprüfung stattfindet. Bei dem E-Scooter sei dies nicht der Fall; er könne führerscheinfrei genutzt werden und sogar von Personen, die gerade das 14. Lebensjahr vollendet haben. Der E-Scooter habe auch in der öffentlichen Wahrnehmung schlicht nichts gemein mit einem führerscheinpflichtigen Kfz, auch nicht mit einem Moped. Dazu mögen Bilder beigetragen haben, die zeigten, wie der damalige Bundesverkehrsminister mit einem solchen E-Scooter durch die Flure seines Ministeriums fuhr. Niemand käme ernsthaft auf die Idee, dort mit einem E-Bike, einem Pedelec, einem Mofa oder gar einem Moped zu fahren und sich dabei (erst recht als Bundesverkehrsminister) auch noch für die Presse fotografieren zu lassen. §§ 69, 69a StGB sollen die Allgemeinheit vor Kraftfahrern schützen, die sich durch eine Trunkenheitsfahrt als verantwortungslos erwiesen haben. Dabei gehe der Gesetzgeber davon aus, dass derjenige, der sich mit einer BAK von über 1,1 Promille an das Steuer seines (führerscheinpflichtigen) Fahrzeuges setzt, durchaus weiß, dass er eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer darstellt, wenn er in deutlich alkoholisiertem Zustand mit einem Kfz, das erhebliches Gewicht hat und erhebliche Geschwindigkeit erreicht, am Straßenverkehr teilnimmt. Der Schaden, der entsteht, wenn ein Kfz mit einem anderen kollidiert, sei aber offensichtlich und offenkundig nicht zu vergleichen mit dem Schaden, der entstehen könnte, würde ein E-Scooter, der eine maximale Geschwindigkeit von 20 km/h erreicht und ein Gewicht von vielleicht 25 kg aufweist, mit einem Auto kollidieren. Die Trunkenheitsfahrt mit einem E-Scooter gefährde primär den E-Scooter-Fahrer, nicht aber andere Verkehrsteilnehmer. Daher spreche manches dafür, dass schon die Regelwirkung als solche in Frage gestellt werden könnte.

Jedenfalls sei aber der Umstand, dass es sich bei dem Fahrzeug um ein „Elektrokleinstfahrzeug“ handelte, maßgeblich heranzuziehen bei der Frage, ob hier nicht jedenfalls eine Ausnahme von der Regelwirkung begründet ist. Es möge hier dahingestellt bleiben, ob schon die Benutzung eines E-Scooters als „Elektrokleinstfahrzeug“ die Regelwirkung entfallen lässt, denn im konkreten Fall träten weitere Umstände hinzu, die diese Regelwirkung letztlich entfallen lassen. Der Angeklagte sei hier mit einer BAK von 1,5 Promille gefahren. Rechtsprechung dazu, ob diese BAK bei einem E-Scooter-Fahrer schon zur absoluten Fahruntüchtigkeit führen würde, liege bislang nicht vor. Die Übertragung der Rechtsprechung zur absoluten Fahruntüchtigkeit des Fahrers eines Pkw, eines Lkw, eines Busses, eines Motorrades oder eines Mopeds auf den Fahrer eines E-Scooters erwecke Bedenken. Kfz hätten ein höheres Gewicht und erreichten eine höhere Geschwindigkeit; sie stellten eine Gefahr für andere Verkehrsteilnehmer dar, die der Kfz-Führer beherrschen muss, so dass an seine Leistungsfähigkeit, vor allem an seine Fähigkeit, Gefahren zu erkennen und darauf zügig zu reagieren, im Interesse des Schutzes der anderen Verkehrsteilnehmer besondere Anforderungen zu stellen seien. Der E-Scooter sei extrem langsam und sehr leicht; bei einer Kollision erleiden primär der E-Scooter und sein Fahrer Schaden. Es möge daher naheliegender erscheinen, für die Grenze zur absoluten Fahruntüchtigkeit abzustellen auf die Rechtsprechung zum Fahrradfahrer, doch könne dies dahingestellt bleiben, weil der Schuldspruch in Rechtskraft erwachsen ist. Besondere Umstände bestünden darin, dass der Angeklagte nachts um 3:45 Uhr zu extrem verkehrsarmer Zeit unterwegs gewesen ist. Auf dem Gehweg habe sich niemand befunden. Der Angeklagte sei auf einem Radweg gefahren, der hinreichend breit ist neben den zwei Fahrspuren, die in jeder Fahrtrichtung vorhanden sind. Er habe keinerlei Ausfallerscheinungen aufgewiesen. Die Fahrtstrecke sei mit 20 Metern extrem kurz gewesen.

Zuletzt halte es das Gericht wegen des Übermaßverbotes auch für geboten, bei einer Trunkenheitsfahrt mit einem E-Scooter im besonderen Maße zu berücksichtigen, welche Folgen die Entziehung des Führerscheines hätte. Zum einen ergäbe sich bei Anwendung der §§ 69, 69a StGB die durchaus groteske Situation, dass der Angeklagte wegen des Fehlverhaltens mit dem E-Scooter zwar kein Auto mehr fahren, aber weiterhin mit einem E-Scooter unterwegs sein dürfte. Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass weite Teile der Bevölkerung auf den Führerschein und die Nutzung ihres führerscheinpflichtigen Fahrzeugs angewiesen sind. Ihnen ist durchaus bewusst, dass sie die Entziehung der Fahrerlaubnis riskieren, wenn sie im betrunkenen Zustand mit dem Auto (also einem führerscheinpflichtigen Kfz) fahren und dabei erwischt werden. Anderes gelte aber, wenn es sich um ein führerscheinfreies Fahrzeug handelt, dass sogar Personen ab 14 Jahren nutzen dürfen.

III. Bedeutung für die Praxis

Hier war erkennbar das gewünschte Ergebnis (das durchaus im konkreten Fall vertretbar erscheint, u. 3) Vater des Gedankens. Das LG mäandert mit den letztlich selben Argumenten einmal quer durch den Tatbestand des § 316 StGB (Grenzwert beim E-Scooter; offengelassen von BGH DAR 2021, 397 = VRR 7/2021, 18 = StRR 9/2021, 23 [jew. Burhoff]), Anwendungsvoraussetzung der Regelwirkung des § 69 Abs. 2 Nr. 2 StGB (alle oder nur fahrerlaubnispflichtige Kfz), Absehen von der indizierten Regelwirkung im Einzelfall und allgemeine Verhältnismäßigkeitserwägungen hin und her. Bezeichnenderweise findet sich auch keine einzige Fundstelle aus der vorhandenen Rechtsprechung. Und ob der Hinweis auf den früheren Bundesverkehrsminister Scheuer ein juristisch valides Argument darstellt …

Im Einzelnen:

1. Aus der Legaldefinition des Kfz in § 1 Abs. 2 StVG und dem Umstand, dass E-Scooter in der Ausnahmevorschrift des § 1 Abs. 3 StVG nicht aufgeführt sind, ergibt sich auch für diese die Anwendbarkeit des § 69 Abs. 1 und 2 StGB (a.A. AG Wuppertal DAR 2022, 155 m. Anm. Lauterbach, VRR 3/2022, 26 [Lauterbach]). Eine Beschränkung der Regelwirkung auf fahrerlaubnispflichtige Kfz ist dieser Vorschrift nicht zu entnehmen.

2. Für die bußgeldrechtliche Trunkenheitsfahrt nach § 24a StVG hat das OLG Zweibrücken (NStZ 2022, 493 = zfs 2021, 650 = VRR 8/2021, 25 [Deutscher]) festgestellt, dass der Art des geführten Kfz (E-Scooter) für die abstrakte Gefahr, die von einer Trunkenheitsfahrt für die Sicherheit des Straßenverkehrs ausgeht, keine derart bestimmende Bedeutung zukommt, dass dieser Umstand allein schon die Indizwirkung des Regelbeispiels nach §§ 25 Abs. 1 S. 2, 24a StVG entfallen lässt. Gleiches lässt sich im Grundsatz auch für § 69 StGB sagen. Das BayObLG (NZV 2020, 582 m. Anm. Lamberz = NStZ 2020, 736 = DAR 2020, 576 = VRR 10, 2020, 15 = StRR 1/2021, 35 [jew. Deutscher] hält daher bei dem alkoholisierten Führer eines E-Scooters die Annahme eines Regelfalls nach § 69 Abs. 2 Nr. 2 StGB für die Entziehung der Fahrerlaubnis für zulässig.

3. Die Regelwirkung wird daher nicht durch die Nutzung eines E-Scooters als solchem widerlegt. Eine Widerlegung ist aber im Einzelfall mit den hier vom LG angeführten Argumenten zum Maß der konkreten Gefährlichkeit (kurze Fahrtstrecke, Tatzeit, Tatort) durchaus möglich.

RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum

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