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Neufassung der Kostenentscheidung durch den BGH; Unbilligkeit der Belastung des Angeklagten

1. Fehlt es an Feststellungen des Gerichts zur Sache oder sind die Feststellungen unvollständig, so ist das Revisionsgericht im Rahmen der Überprüfung einer Kosten- und Auslagenentscheidung des Tatgerichts nach Bruchteilen im allgemeinen nicht gehalten, sich die für eine Kosten- und Auslagenentscheidung nach Bruchteilen maßgeblichen Feststellungen anhand des Akteninhalts selbst zu erschließen und ggf. dann eine neue Bruchteilsentscheidung zu treffen, die sodann den konkreten Umständen des Falls Rechnung trägt.

2. Zur Frage, ob es unbillig ist, den Angeklagten mit besonderen Verfahrensauslagen, die zur gesetzlich gebotenen Aufklärung der Tat unerlässlich waren, und mit besonderen notwendigen Auslagen, die durch eine sachlich gebotene Verhandlung vor dem Schwurgericht entstanden sind, zu belasten.

(Leitsätze des Verfassers)

BGH, Beschl. v. 27.7.20221 StR 145/22

I. Sachverhalt

Erhebliche Abweichung zwischen Anklage und Urteil

Das LG hatte die – im zweiten Rechtsgang – nicht revidierende Mitangeklagte N. sowie die Angeklagten D. und P. im ersten Rechtsgang wegen versuchten Mordes verurteilt. Gegen die Mitangeklagte N. hatte das LG eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten, gegen die Angeklagte D. eine solche von einem Jahr und neun Monaten sowie gegen den Angeklagten P. eine solche von einem Jahr und sechs Monaten verhängt; die Vollstreckung der gegen die Angeklagten D. und P. verhängten Freiheitsstrafen hatte es zur Bewährung ausgesetzt. Auf die Revision der Mitangeklagten N. hatte der BGH dieses Urteil – unter Erstreckung auf die Angeklagten D. und P. gemäß § 357 S. 1 StPO – mit den Feststellungen aufgehoben (BGH, Urt. v. 19.8.2020 – 1 StR 474/19, NJW 2021, 326 = StraFo 2021, 80). Im zweiten Rechtsgang hat das LG die Angeklagten D. und P. dann wegen unterlassener Hilfeleistung verurteilt und gegen die Angeklagte D. eine Freiheitsstrafe von vier Monaten und gegen den Angeklagten P. eine solche von zwei Monaten verhängt, deren Vollstreckung es jeweils zur Bewährung ausgesetzt hat. In der Kostenentscheidung hatte das LG u.a. bestimmt, dass die Angeklagten ihre eigenen notwendigen Auslagen selbst sowie von den übrigen Verfahrenskosten als Gesamtschuldner ein Drittel zu tragen hätten. Dagegen haben die Angeklagten Revision eingelegt, die keinen Erfolg hatte. Die von den Angeklagten ebenfalls erhobenen Kostenbeschwerden hatten hingegen teilweise Erfolg.

II. Entscheidung

Neufassung der Kostenentscheidungen durch den BGH

Der BGH hat die o.a. Kostenentscheidung des LG aufgehoben und hinsichtlich der Angeklagten D. dahingehend neu gefasst, dass die Staatskasse die besonderen Auslagen des Verfahrens und die besonderen notwendigen Auslagen der Angeklagten, die wegen des Verdachts des (versuchten) Mordes und der fahrlässigen Körperverletzung bzw. der fahrlässigen Tötung entstanden sind, und die Angeklagte nur im Übrigen ihre notwendigen Auslagen und als Gesamtschuldner die Verfahrenskosten zu tragen haben. Hinsichtlich des Angeklagten P. hat es die Kostenentscheidung dahingehend neu gefasst, dass die Staatskasse die besonderen Auslagen des Verfahrens und die besonderen notwendigen Auslagen des Angeklagten, die wegen des Verdachts des (versuchten) Mordes entstanden sind, und der Angeklagte nur im Übrigen seine notwendigen Auslagen und als Gesamtschuldner die Verfahrenskosten zu tragen haben. Zur Begründung bezieht sich der BGH auf die Ausführungen des GBA zu den Kostenbeschwerden. Der GBA hatte zu der Kostenbeschwerde der Angeklagten D. ausgeführt:

Richtiger Ansatz des LG …

Das LG habe im Ansatz zutreffend erkannt, dass bei der Verurteilung wegen unterlassener Hilfeleistung und vorläufigen Einstellung des weiteren Verfahrens gemäß §§ 154, 154a StPO aufgrund der zur Hauptverhandlung zugelassenen und den Vorwurf des Mordes durch Unterlassen in Tatmehrheit mit fahrlässiger Körperverletzung zum Gegenstand habenden Anklage ob des darin liegenden fiktiven Teilfreispruchs (vgl. BGH, Beschl. v. 11.6.1991 – 1 StR 267/91) vom gravierenden Ver- brechenstatbestand mit allein dazu eingeholten mehreren Sachverständigengutachten eine Entscheidung nach § 465 Abs. 2 StPO veranlasst gewesen sei. Im Grundsatz ebenfalls nicht fehlgehend habe es zu einer Bruchteilsentscheidung nach § 464d StPO optiert. In der Sache kann die Entscheidung aber gleichwohl keinen Bestand haben.

… aber § 465 Abs. 2 S. 3 StPO übersehen

So lasse sie bereits nicht erkennen, dass sich das LG der Regelung des § 465 Abs. 2 S. 3 StPO bewusst gewesen sei, welche eine Billigkeitsentscheidung nach § 465 Abs. 2 S. 1 StPO auch für die notwendigen Auslagen der Angeklagten zulässt. Jene Möglichkeit sei vom LG nicht erwogen worden, obgleich dazu wie bei den Verfahrenskosten Veranlassung bestanden habe. Weiter erschließe sich die konkrete Quotierung [1/3 Angeklagte D., P. und N. als Gesamtschuldner und 2/3 die Staatskasse] nicht, weil das LG nicht näher erläutert habe, von welchen Eckwerten es bei seiner Schätzung ausgegangen sei. Allein anhand der floskelhaft anmutenden Formulierung, mit der Abänderung des Schuldspruchs vom versuchten Mord durch Unterlassen in unterlassene Hilfeleistung sei ein erheblicher Erfolg erzielt worden, sei die Ermessensentscheidung des Tatrichters nicht durchschau- und überprüfbar. Insoweit wäre es vielmehr angezeigt gewesen, konkret bezogen auf den Tatvorwurf des versuchten Mordes durch Unterlassen die allein dadurch veranlassten besonderen Auslagen der Staatskasse und die notwendigen Auslagen der Angeklagten festzustellen und diese ins Verhältnis zu denjenigen Auslagen der Staatskasse und notwendigen Auslagen der Angeklagten zu setzen, die bei einer Eröffnung des Hauptverfahrens vor dem AG wegen des zur Verurteilung gelangten Straftatbestands angefallen wären (vgl. Gieg, in: Karlsruher Kommentar, 8. Aufl., § 465 Rn 5; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl. 2022, § 465 Rn 7; Bader, in: Kleinknecht/Müller/Reitberger, StPO, 103. EL, § 465 Rn 11; Degener, in: Systematischer Kommentar, StPO, 5. Aufl., § 465 Rn 22 ff.).

Eigene Sachentscheidung

Der Senat verweist darauf, dass er eingedenk der vorstehend skizzierten unzulänglichen Tatsachenfeststellung im Urteil nicht gehalten sei, sich die für eine Kosten- und Auslagenentscheidung nach Bruchteilen maßgeblichen Feststellungen anhand des Akteninhalts selbst zu erschließen und eine neue Bruchteilsentscheidung zu treffen, die sodann den konkreten Umständen des Falls im vorgenannten Sinne Rechnung trage. Vielmehr könnte er die in Rede stehende Kosten- und Auslagenentscheidung – schlicht – aufheben und an die Vorinstanz zurückverweisen (vgl. BGH, Beschl. v. 4.12.1974 – 3 StR 298/74, BGHSt 26, 29). Im Ergebnis erscheine ein Absehen von einer Sachentscheidung jedoch nicht angezeigt, weil der Senat nicht auf eine Bruchteilsentscheidung festgelegt sei. Eine solche nach § 464d StPO zugelassene Verteilung der Auslagen der Staatskasse und der notwendigen Auslagen der Angeklagten sei nicht verpflichtend. Sie stehe im pflichtgemäßen Ermessen und erlaubt gerade in Fällen wie dem vorliegenden, bei dem die abgrenzbaren besonderen Auslagen nicht einfach zahlenmäßig zu bestimmen seien, weiterhin die Anwendung der Differenzmethode (vgl. KK-StPO/Gieg, a.a.O., § 464d Rn 3). Bei Letzterer sei – lediglich – die Entstehungsursache der abzugrenzenden besonderen Auslagen im Rahmen der Kostenentscheidung zu benennen, worauf erst im Kostenfestsetzungsverfahren deren zahlenmäßige Bestimmung erfolgt (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 465 Rn 8).

Differenzmethode

Eine solche Kostenentscheidung nach dem Differenzverfahren sei veranlasst, weil diese ob der im Urteil für die Kostenentscheidung gemäß § 464 Abs. 3 S. 2 StPO bindend getroffenen Feststellungen – einfach – möglich sei. Eingedenk des eklatanten Auseinanderfallens des Anklagevorwurfs wegen eines der Zuständigkeit des Schwurgerichts unterfallenden Verbrechens und der Verurteilung wegen eines in die Zuständigkeit des Strafrichters fallenden Vergehens sowie der Einholung mehrerer Sachverständigengutachten ausschließlich zu der (für die Angeklagte günstig ausgegangenen) Frage der Kausalität der Medikamentenverwechselung für das Versterben des Geschädigten Pi. liege es offen zutage, dass auf den fiktiven Teilfreispruch sowohl abgrenzbare besondere Auslagen der Staatskasse als auch abgrenzbare besondere notwendige Auslagen der Angeklagten in beträchtlichem Umfang entfallen seien. Ebenfalls unzweifelhaft stelle es eine unbillige Härte (vgl. Degener, a.a.O., § 465 Rn 25) dar, wenn die Angeklagte mit jenen belastet würde.

III. Bedeutung für die Praxis

Bestätigung der bisherigen Rechtsprechung

Der BGH bestätigt mit der Entscheidung seine Auffassung im Beschluss vom 4.12.1974 (3 StR 298/74, BGHSt 26, 29), wonach er in den Fällen, in denen die getroffenen Feststellungen nicht ausreichen, um die tatrichterliche Kosten- und Auslagenentscheidung auf ihre Richtigkeit zu überprüfen, auf die Kostenbeschwerde zurückverweisen kann, aber nicht zurückverweisen muss. Er kann auch selbst entscheiden und ist – wie er ausdrücklich betont – auch nicht an die vom Tatgericht gewählte „Verteilmethode“ – hier nach Bruchteilen – gebunden, sondern kann einen anderen Verteilungsschlüssel wählen. Das war hier dann die Differenzmethode (vgl. dazu auch Burhoff/Volpert/Volpert, RVG Straf- und Bußgeldsachen, 6. Aufl. 2021, Teil A Rn 1527 ff.). Für den Verteidiger/Rechtsanwalt ist die Entscheidung im Übrigen mal wieder ein schöner Beleg dafür, dass man die Kostenbeschwerde nach § 464 Abs. 3 StPO nicht übersehen sollte, vor allem wenn zwischen Anklage und Urteil eine (erhebliche) Lücke klafft. Denn für den Angeklagten kann es in diesen Fällen um erhebliche Beträge gehen, wenn – wie hier – (mehrere) Sachverständigengutachten eingeholt worden sind, die, wenn von vornherein in geringerem Umfang angeklagt worden wäre, gar nicht hätten eingeholt werden müssen.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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