Beitrag

Strafbarkeit des sog. AGG-Hoppings

Zu den Voraussetzungen einer Strafbarkeit bei vorgespiegelten Bewerbungen auf diskriminierende Stellenangebote zur Erlangung von Entschädigungsansprüchen (sog. AGG-Hopping).

(Leitsatz des Gerichts)

BGH, Beschl. v. 4.5.20221 StR 3/21

I. Sachverhalt

Scheinbewerbungen eingereicht

Das LG hat den Angeklagten wegen versuchter und vollendeter Betrugstaten verurteilt. Der Angeklagte und sein als Rechtsanwalt tätiger Bruder fassten im Jahr 2011 den Entschluss, auf der Grundlage von Scheinbewerbungen des Angeklagten wiederholt Entschädigungsansprüche nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) geltend zu machen. Nach dem Tatplan sollte sich der 42-jährige Angeklagte zum Schein auf Stellenangebote bewerben, deren Ausschreibungen aus seiner Sicht Anhaltspunkte für eine Alters- oder sonstige Diskriminierung im Sinne des AGG boten. Nach Ablehnung der Bewerbung sollte sein Bruder die ausschreibenden Unternehmen in seiner Funktion als Rechtsanwalt anschreiben und sie im Namen des Angeklagten auffordern, an diesen wegen eines Verstoßes gegen das Diskriminierungsverbot im Auswahlverfahren eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG in Höhe von mindestens drei Bruttomonatsgehältern zu zahlen. Bei Ausbleiben der Zahlung sollte der behauptete Anspruch in aussichtsreichen Fällen gerichtlich weiterverfolgt werden, um auf diesem Wege die geforderte Entschädigung zu erhalten oder die beklagten Unternehmen zum Abschluss eines Vergleichs zu bewegen. Der Angeklagte hielt es für möglich und nahm billigend in Kauf, dass ein Anspruch auf Entschädigung auf der Grundlage einer bloßen Scheinbewerbung tatsächlich nicht bestand. In Umsetzung des Tatplans kam es zu zwölf Taten. Angaben zur subjektiven Ernsthaftigkeit der Bewerbung enthielten die Forderungsschreiben bewusst nicht; gleichwohl ging der Angeklagte davon aus, dass die verantwortlichen Personen der ausschreibenden Unternehmen hierüber bereits mit den außergerichtlichen Aufforderungsschreiben getäuscht werden und aufgrund ihres irrigen Eindrucks, die zuvor vom Angeklagten abgegebene Bewerbung sei ernsthaft gewesen, den geltend gemachten Anspruch erfüllen würden. Die Revision des Angeklagten war erfolgreich.

II. Entscheidung

Damalige Rechtsprechung des BAG im Fluss

Eine Täuschung durch den Angeklagten sei nicht festgestellt worden. Auch in der Geltendmachung einer Forderung, auf die kein Anspruch besteht, könne zwar eine schlüssige Täuschung über Tatsachen liegen (BGH NJW 2019, 1759, NStZ 2018, 215). Die Annahme einer schlüssigen Täuschung setze voraus, dass mit dem Einfordern einer Leistung ein Bezug zu einer unzutreffenden Tatsachenbasis hergestellt oder das Vorliegen eines den Anspruch begründenden Sachverhalts behauptet wird. Wann der Rechtsverkehr der Geltendmachung einer Forderung schlüssig zugleich die Behauptung bestimmter anspruchsbegründender Tatsachen beimisst, sei Tatfrage (BGH a.a.O.). Hier habe der Angeklagte mit dem Versenden der außergerichtlichen Aufforderungsschreiben nicht über die fehlende subjektive Ernsthaftigkeit seiner Bewerbung getäuscht; es mangele an einer konkludent erklärten unwahren Tatsachenbehauptung. Die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung zu allein pekuniär motivierten Entschädigungsklagen auf der Grundlage von Scheinbewerbungen stelle bei der Frage rechtsmissbräuchlichen Verhaltens auf den jeweiligen Einzelfall ab (BAG, Urt. v. 13.10.2011 – 8 AZR 608/10 Rn 53); sie ziele auch nicht auf ein Befolgen, sondern – vor dem Hintergrund einer atypischen Interessenlage – auf ein Abweichen von der gesetzlichen Rechtslage ab (BAG a.a.O. Rn 52). Mit dieser einzelfallbezogenen Korrektur der Rechtslage treffe sie aber gerade keine generelle Aussage zum normativen Gesamtzusammenhang und präge insoweit auch nicht den Empfängerhorizont. Da die von der Rechtsprechung aus Billigkeitsgründen und nach dem Grundsatz von Treu und Glauben entwickelten Versuche zur Eindämmung von Rechtsmissbrauch auch auf die Vorstellungen und Erwartungen des Rechtsverkehrs abstellen, gingen diese Entscheidungen den Erwartungen des Verkehrs nicht voraus, sondern folgen ihnen regelmäßig nach. Es gebe im angenommenen Tatzeitraum keine gefestigte arbeitsgerichtliche Rechtsprechung, die eine eindeutige rechtliche Einordnung der geltend gemachten Entschädigungsansprüche zuließ; die Rechtsprechung zur Behandlung von Entschädigungsklagen von Scheinbewerbern sei in den Jahren 2011 und 2012 vielmehr noch im Fluss gewesen und konnte auch deshalb keinen maßgeblichen Einfluss auf die Vorstellungen und Erwartungen der Beteiligten ausüben (wird näher ausgeführt unter Hinweis auf u.a. BAG NZA 2012, 667; EuGH NJW 2016, 2796). Dass das BAG seit der Entscheidung des EuGH in ständiger Rechtsprechung judiziert, dass dem Entschädigungsverlangen nach § 15 Abs. 2 AGG mit dem Rechtsmissbrauchseinwand (§ 242 BGB) entgegengetreten werden kann, sofern der Anspruchsteller sich nicht beworben hat, um die ausgeschriebene Stelle zu erhalten, sondern es ihm um das ausschließliche Ziel ging, Ansprüche auf Entschädigung geltend zu machen (BAGE 172, 78 Rn 66; 155, 149 Rn 32 ff.), sei als spätere Entwicklung für die Bewertung des normativen Gesamtzusammenhangs zur Tatzeit in Bezug auf die verfahrensgegenständlichen Taten ohne tragfähige Relevanz.

Auch sonst keine eindeutige Verkehrsanschauung

Auch aus dem normativen Kontext ließen sich keine entsprechenden Erwartungen des Verkehrs ableiten. Dies gilt insbesondere mit Blick auf die Rechte der Beschäftigten und die Rechtsfolgen bei einem Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot, die in §§ 13 bis 16 AGG geregelt sind. Mit der Einführung des AGG habe der Schutz vor Diskriminierung verbessert werden sollen. Namentlich vor dem Hintergrund der vom Gesetzgeber gewollten und zur Umsetzung der EU-Vorgaben unverzichtbaren Rechtsdurchsetzung durch Private im Sinne eines „private enforcement“ könne dem außergerichtlichen Einfordern von Entschädigungsansprüchen nicht die konkludente Aussage entnommen werden, der Anspruchsteller verfolge nicht allein pekuniäre Motive, sondern habe ein ernsthaftes Interesse an der Stelle gehabt. Dies gelte umso mehr, als § 15 Abs. 2 AGG einen materiellen Schaden nicht voraussetzt und – als Ausdruck einer gesetzgeberischen Entscheidung – auch demjenigen einen Entschädigungsanspruch für immaterielle Schäden zubilligt, dem ein materieller Schaden nicht entstanden ist. Maßgeblich trete hinzu, dass der Gesetzgeber – anders als im Gesetz zum unlauteren Wettbewerb – im AGG nicht normiert hat, dass die Geltendmachung von Ansprüchen unzulässig ist, wenn sie unter Berücksichtigung der gesamten Umstände missbräuchlich sind. Anhaltspunkte, die in tatsächlicher Hinsicht die Annahme einer konkludenten Erklärung über die subjektive Ernsthaftigkeit der Bewerbung begründen könnten, zeigten die Urteilsgründe nicht auf. Damit bleibe die Tatfrage letztlich offen, aus welchen tatsächlichen Gesichtspunkten die Verkehrsanschauung aus der Geltendmachung der Entschädigung ableitet, die vorangegangene Bewerbung sei subjektiv ernsthaft gewesen. Eine allgemeine Erwartung, der andere werde sich redlich verhalten, kenne der Rechtsverkehr nicht; diese reicht für die Annahme entsprechender konkludenter Erklärungen auch nicht aus (BGHSt 51, 165 Rn 22 = NJW 2007, 782). Angesichts der festgestellten tatsächlichen Gesamtumstände vermögen allein die Aspekte, dass die ausschreibenden Unternehmen die Motivation für die Bewerbung nicht ohne weiteres überprüfen konnten und die Entschädigung mit einem Anwaltsschreiben eingefordert wurde, nicht die Annahme zu rechtfertigen, dass mit der Geltendmachung des Entschädigungsanspruchs die Ernsthaftigkeit der Bewerbung entgegen dem normativen Kontext miterklärt werde. Auch eine Versuchsstrafbarkeit bezüglich der außergerichtlichen Anforderungsschreiben sei hier nicht belegt (wird ausgeführt).

III. Bedeutung für die Praxis

Es bleiben Fragen

Die Schaffung gesetzlicher Ersatzansprüche führt naturgemäß auch zu deren Missbrauch entgegen der Zielsetzung der gesetzlichen Vorschriften. In seiner für BGHSt vorgesehen Entscheidung lehnt der BGH für die Fälle des sog. AGG-Hoppings in den Jahren 2011 und 2012 eine Strafbarkeit wegen Betrugs mangels entsprechender Verkehrsanschauung zum damaligen konkludenten Erklärungswert ab, sofern nicht besondere und vom Tatgericht hier nicht festgestellte Umstände hinzutreten. Das ist eingehend begründet, hinterlässt aber Unklarheiten. Besteht mittlerweile eine solche Verkehrsanschauung für Taten nach 2016? Dann wäre der Beschluss des BGH für die Praxis nurmehr von eingeschränkter Bedeutung. Oder führen die Aussagen zum Zweck des AGG (die auch nach 2016 bis jetzt gelten) auch heute noch zur Ablehnung einer konkludenten Erklärung zur Ernsthaftigkeit der Bewerbung, wobei nach der neueren Rechtsprechung des BAG der Missbrauchseinwand zulässig wäre? Dann handelte es sich um eine reine Tatfrage, die zu kaum vorhersehbaren Bewertungen führe. Aktuelle einschlägige Fälle werden daher trotz der vorliegenden Entscheidung als Einzelfälle schwierig zu behandeln sein.

RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum

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