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Sechs-Monats-Frist: keine Verursachung durch vermeidbare Verzögerungen

1. Zur gebotenen Zahl und Dichte von gerichtlichen Terminsvorschlägen für eine anstehende Hauptverhandlung in einer Haftsache mit mehreren Angeklagten, in der bereits eine erste Abstimmung von gemeinsamen freien Terminen der Verteidiger gescheitert war.

2. Zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und Sicherstellung der Strafvollstreckung kann die Untersuchungshaft dann nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ihre Fortdauer durch vermeidbare justizseitige Verzögerungen verursacht ist. Eine Verursachung durch vermeidbare Verzögerungen liegt indes dann nicht vor, wenn die Verzögerung auch dann – durch nicht justizseitig verursachte Umstände – eingetreten wäre, wenn das Gericht das Verfahren hinreichend gefördert hätte.

(Leitsätze des Gerichts)

OLG Hamm, Beschl. v. 15.9.20225 Ws 243/22

I. Sachverhalt

Terminsvorschlag scheitert, weitere Termine nach mehr als sechs Monaten U-Haft

Der Angeklagte befindet sich seit dem 2.3.2022 ununterbrochen in Untersuchungshaft. Die StA hat am 23.5.2022 Anklage gegen ihn wegen schwerer Körperverletzung und gegen zwei weitere Angeklagte wegen Beihilfe beim LG erhoben. Das LG hat eine Frist zur Stellungnahme von drei Wochen festgesetzt. Am 18.7.2022 hat der Berichterstatter vermerkt, dass ihm die Akte nunmehr das erste Mal vorgelegen habe. Eine Entscheidung zu einem früheren Zeitpunkt sei der Kammer aufgrund Überlastung durch zahlreiche laufende Verfahren sowie der Erkrankungen des Vorsitzenden und dessen Stellvertreters nicht möglich gewesen. Die Kammer hat am selben Tag die Eröffnung des Hauptverfahrens vor dem AG beschlossen. Nach Eingang der Akten am 19.7.2022 hat das AG am 25.7.2022 Terminsvorschläge für den 25.8.2022, 15.9.2022 und 6.10.2022 unterbreitet. Während der Verteidiger des Angeklagten alle drei Termine hätte wahrnehmen können, war der Verteidiger eines Mitanklagen verhindert; der Verteidiger des anderen Mitangeklagten hat nicht reagiert. Unter dem 16.8.2022 schlug die Vorsitzende des Schöffengerichts sodann als weitere Termine den 17.10.2022, 31.10.2022, 10.11.2022, 17.11.2022, 21.11.2022, 24.11.2022 und dem 1.12.2022 vor. Mit Beschluss vom 16.8.2022 hat das AG die Fortdauer der Untersuchungshaft für erforderlich gehalten und die Akten gem. §§ 121, 122 StPO dem OLG zur Entscheidung vorgelegt. Das OLG hat die Voraussetzungen des Haftbefehls bejaht und die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus angeordnet.

II. Entscheidung

Keine Verzögerung in Ermittlungs- und Zwischenverfahren

Die besonderen Voraussetzungen des § 121 StPO für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus seien gegeben. Das in Haftsachen geltende Gebot der besonderen Verfahrensbeschleunigung sei insgesamt (noch) gewahrt. Das Ermittlungsverfahren und das Zwischenverfahren seien unverzüglich eingeleitet und durchgeführt worden. Ebenfalls als noch angemessen stellt sich die Verfahrensförderung nach Ablauf der dreiwöchigen Stellungnahmefrist zur Anklageschrift am 30.6.2022 bis zur Entscheidung über die Eröffnung dar. Der Senat vermöge zwar nicht zu beurteilen, ob insofern eine zügigere Sachbehandlung aus den im Vermerk des Berichterstatters vom 18.7.2022 genannten Gründen ausnahmsweise nicht möglich war. Einer weiteren Aufklärung der obwaltenden Umstände bedürfe es jedoch insofern nicht, da hierdurch entstandene etwaige Verfahrensverzögerungen durch die besonders beschleunigte Bearbeitung kompensiert wurden. Das Zwischenverfahren habe insgesamt etwa eineinhalb Monate und die Entscheidung über die Eröffnung nach Ablauf der Stellungnahmefrist etwa zweieinhalb Wochen gedauert. Im Hinblick auf die Schwere des Tatvorwurfs und den Umfang des Verfahrens sei diese Bearbeitungsdauer insgesamt noch nicht zu beanstanden.

Keine Verzögerung hinsichtlich des ersten Terminsvorschlags

Schließlich sei die Sache zwar im Hauptverfahren nicht durchgängig mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung gefördert worden. Soweit eine unzureichende Verfahrensförderung anzunehmen ist, habe diese jedoch im Ergebnis zu keiner der Justiz anzulastenden Verfahrensverzögerung geführt, da es auch bei einer pflichtgemäßen Verfahrensförderung nicht zu einer schnelleren Durchführung des Hauptverfahrens gekommen wäre. Als noch hinreichend zügig stelle sich die Unterbreitung erster Terminsvorschläge seitens des AG dar. Diesen Terminsvorschlag habe das AG als gescheitert ansehen dürfen. Es sei nicht zu beanstanden, dass die Vorsitzende keine Terminsvorschläge für den Zeitraum ihres Erholungsurlaubs vom 19.9.2022 bis zum 3.10.2022 unterbreitete und keine Verhandlung durch ihren Vertreter in Erwägung gezogen hat. Der Angeklagte habe sich zu diesem Zeitpunkt „nur“ knapp über die Sechs-Monats-Grenze hinaus, nämlich sechseinhalb bis sieben Monate in Untersuchungshaft befunden. Für die Hauptverhandlung sollten mindestens zwei Termine sowie dreizehn Zeugen und gegebenenfalls elf weitere Zeugen in einem hinzuverbundenen Verfahren geladen werden. Die Notwendigkeit weiterer Hauptverhandlungstermine insbesondere aufgrund der Verhinderung von Zeugen habe nicht ferngelegen. Im vorliegenden Fall erweise sich daher die Entscheidung, keine Hauptverhandlungstermine im Zeitpunkt des Erholungsurlaubs vorzuschlagen, als vertretbar.

Vermeidbare Verzögerung beim zweiten Terminsvorschlag

Als nicht hinreichend stelle sich die Verfahrensförderung hingegen dar, soweit unter dem 16.8.2022 für den Zeitraum nach der Urlaubsrückkehr am 4.10.2022 nur zwei Terminsvorschläge für den Oktober 2022 unterbreitet wurden. Im Hinblick darauf, dass die Mitwirkung von drei Verteidigern zu koordinieren und die erste Terminsvorschlagsrunde bereits gescheitert war, sei es nunmehr geboten gewesen, durch eine Vielzahl von Terminsvorschlägen auf eine Terminsfindung hinzuwirken. Dabei sei auch zu beachten, dass Haftsachen den Nichthaftsachen vorgehen und mit größtmöglicher Beschleunigung zu betreiben sind. Diesem Erfordernis werde die am 16.8.2022 unterbreiteten Terminierungsvorschläge für den Monat Oktober 2022 nicht gerecht. Nach der vom Senat eingeholten dienstlichen Stellungnahme der Vorsitzenden stünden dieser als Sitzungstage der Montag und Donnerstag sowie der Freitag zu Verfügung. Weder sei die von der Vorsitzenden frei gewählte Einteilung, dass montags regelmäßig nur Einzelrichtersachen verhandelt werden, für die Unterbreitung von Terminsvorschlägen von Relevanz, noch stünden nach der dienstlichen Auskunft in diesem Zeitraum anderweitige Haftsachen an, welche der hiesigen Strafsache hätten vorgehen können. Allein an den regulären Sitzungstagen hätten als weitere Termine daher im Oktober neun weitere Termine vorgeschlagen werden können.

Keine Verursachung durch die vermeidbare Verzögerung

Diese nicht hinreichende Verfahrensförderung habe jedoch im Ergebnis nicht zu einer Verfahrensverzögerung geführt. Auf die Anfrage des Senats haben sämtliche Verteidiger mitgeteilt, an welchen Tagen eine Terminierung im Oktober 2022 hätte stattfinden können, wenn diese am 16.8.2022 vom AG angefragt worden wäre. Selbst bei der gebotenen Verfahrensförderung durch die Unterbreitung weiterer Terminsvorschläge wäre hiernach eine Terminierung unter Beteiligung der Verteidiger der Mitangeklagten im Oktober 2022 nicht zustande gekommen.

Denkbare Abtrennung ändert daran nichts

Insofern sei bis zum jetzigen Verfahrensstadium nicht zu beanstanden, dass die Vorsitzende nicht durch Abtrennung des Verfahrens gegen den Angeklagten eine zügigere Terminierung ermöglicht hat. Soweit ein früherer Prozessbeginn an der Verhinderung des Verteidigers des nicht inhaftierten Angeklagten scheitert, sei zwar an die Möglichkeit der Trennung der Verfahren in diesem Zusammenhang zu denken. Die Trennung stehe gleichwohl im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts. In die Gesamtabwägung seien hierbei insbesondere der Freiheitsanspruch des Betroffenen und das Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit einzustellen. Danach sei einerseits zu berücksichtigen, dass der Angeklagte bis zum Beginn der Hauptverhandlung acht Monate und eine Woche in Untersuchungshaft verbracht haben wird. Zum anderen wären die Angeklagten der abgetrennten Verfahren ebenfalls zu laden gewesen und hätten von ihrem Recht auf Verweigerung der Aussage Gebrauch machen können. Insbesondere im Hinblick darauf, dass ein Mitangeklagter sich umfangreich gegenüber der Polizei eingelassen hat, wäre daher eine erhebliche Behinderung der Sachaufklärung zu besorgen gewesen. Wegen des gewichtigen Tatvorwurfs überwiege jedenfalls gegenwärtig das Strafverfolgungsinteresse noch den Freiheitsanspruch des Angeklagten, so dass dieser (noch) zurückzutreten habe. Gleiches gelte im Ergebnis für die Überlegung, dass die Pflichtverteidiger der Mitangeklagten von ihren Pflichten hätten entbunden werden können, um eine zügigere Durchführung des Verfahrens zu ermöglichen.

III. Bedeutung für die Praxis

Nicht überzeugend

In der Tagespresse wird immer wieder über die Haftentlassung wegen unzulässiger Überschreitung der Sechs-Monats-Frist bei dem Vorwurf von Kapitalverbrechen berichtet. Die Rechtsprechung der Obergerichte zu den Folgen vermeidbarer Verfahrensverzögerungen ist zu Recht strikt. Vor diesem Hintergrund sind zwar die Äußerungen des OLG Hamm zum Vorliegen einer vermeidbaren Verfahrensverzögerung hinsichtlich der nicht hinreichenden Anzahl und Dichte von vorgeschlagenen Terminen im Oktober 2022 (also nach Ablauf der Sechs-Monats-Frist) überzeugend, im Übrigen aber nicht. Hier sind einige vermeidbare Verzögerungen zusammengekommen:

  • die dreiwöchige (!) Frist zur Stellungnahme zur Anklage in einer Haftsache,

  • die sechswöchige Nichtförderung beim LG wegen „Überlastung“, was das BVerfG (etwa StV 2015, 39 = StRR 2014, 447 [Burhoff]) und die Obergerichte (Nw. bei Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl. 2022 § 121 Rn 22) in aller Regel als Argument nicht gelten lassen und

  • die zu geringen Anzahl und Dichte vorgeschlagener Termine.

Nun ist zwar anerkannt, dass eine Kompensation von Verzögerungen durch spätere besondere Beschleunigung möglich ist (BVerfG NJW 2006, 668). Hier nun aber beruft sich das OLG Hamm auf die hypothetische Überlegung, die Verhandlung habe an den gerichtlich im Oktober zusätzlich anberaumten Terminen wegen Verhinderung der Verteidiger der Mitangeklagten ohnehin nicht durchgeführt werden können. Diese Argumentation steht aber auf tönernen Füßen. Zum einen hat das BVerfG in der Entscheidung NStZ 1995, 459 Rn 11 solchen hypothetischen Überlegungen („wäre sowieso nicht möglich gewesen“) eine Absage erteilt. Zum anderen wirft das die Frage der anderweitigen Abwendbarkeit der Freiheitsbeeinträchtigung des Angeklagten auf, hier durch Abtrennung des Verfahrens gegen den inhaftierten Angeklagten. Hierzu meint das OLG, das sei nicht zielführend, weil die dann als Zeugen zu ladenden Mitangeklagten die Auskunft über § 55 StPO verweigern könnten. Dabei übersieht das OLG freilich, dass diesen Mitangeklagten bei einem gemeinsamen Verfahren das vergleichbare Schweigerecht als Angeklagte zusteht. Bei Nutzung des § 55 StPO ist auch an die Einführung der Angaben der Mitangeklagten im Ermittlungsverfahren durch Vernehmung des Vernehmungsbeamten zu denken, was im Übrigen auch bei einem einheitlichen Verfahren zur Absicherung möglicher Angaben naheliegt. Alles in allem bleibt der der Eindruck, dass die mehrfachen Verzögerungen „gesundgebetet“ worden sind. Der Beschluss des OLG Hamm ist vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des BVerfG und der Obergerichte als Einzelfallentscheidung ohne über den entschiedenen Fall hinausgehende Wirkung zu betrachten.

RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum

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