1. Die Heilung eines Zustellungsmangels nach § 51 Abs. 1 S. 1 OWiG i.V.m. Art. 9 BayVwZVG ist auch dann möglich, wenn eine Abschrift des zuzustellenden Dokuments nicht dem Zustellungsadressaten, sondern einem sonstigen Empfangsberechtigten zugeht.
2. Dies gilt selbst dann, wenn der Empfänger die Ermächtigung zur Empfangnahme erst nach Vornahme der fehlerhaften Zustellung erhält, sofern er das Schriftstück im Zeitpunkt der Bevollmächtigung noch in Besitz hat.
(Leitsätze des Gerichts)
I. Sachverhalt
Verfolgungsverjährung eingetreten?
Das AG hat den Betroffenen wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung verurteilt. Mit der Rechtsbeschwerde hat der Betroffene u.a. das Verfahrenshindernis der Verfolgungsverjährung geltend gemacht. Das BayObLG ist davon ausgegangen, dass die Verjährungsfrist unterbrochen worden ist.
II. Entscheidung
Unterbrechung, als Verteidiger Einspruch eingelegt hat
Das BayObLG führt aus: Der Betroffene habe die Geschwindigkeitsüberschreitung am 19.11.2020 begangen. Spätestens am 20.1.2021, dem Tag, an dem der Verteidiger Einspruch gegen den Bußgeldbescheid vom 5.1.2021 eingelegt habe, sei die Verjährung gemäß § 33 Abs. 1 S. 1 Nr. 9 Alt. 2 OWiG unterbrochen worden.
Zwar keine wirksame Zu- stellung an den Betroffenen …
Zwar könne – so das BayObLG – nicht davon ausgegangen werden, dass die Zustellung des Bußgeldbescheids, der am 8.1.2021 im Wege der Ersatzzustellung in den Briefkasten am Wohnort der Eltern des Betroffenen eingelegt worden sei, wirksam erfolgt sei. Denn nach den vom Verteidiger vorgebrachten Umständen, die mit entsprechenden Unterlagen untermauert worden seien, habe der Betroffene zum damaligen Zeitpunkt seinen früheren Wohnsitz bei den Eltern aufgegeben und war als Zeitsoldat in Berchtesgaden kaserniert. Eine Ersatzzustellung durch Einlegung in den Briefkasten nach § 51 Abs. 1 S. 1 OWiG i.V.m. Art. 3 Abs. 2 BayVwZVG, § 180 ZPO setze aber voraus, dass der Zustellungsadressat dort wohnhaft sei.
… aber Heilung durch Zustellung an Empfangsberechtigten
Allerdings sei der Zustellungsmangel gemäß § 51 Abs. 1 S. 1 OWiG i.V.m. Art. 9 BayVwZVG geheilt worden, als eine Abschrift des Bußgeldbescheids dem Verteidiger tatsächlich zugegangen sei. Nach Art. 9 BayVwZVG gelte die Zustellung eines Dokuments, das unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften übermittelt worden sei, in dem Zeitpunkt als bewirkt, in dem es dem Empfangsberechtigten tatsächlich zugegangen sei. Dies sei spätestens dann gegeben gewesen, als der Verteidiger eine Abschrift des Bußgeldbescheids erhalten habe. Nachdem die Rechtsbeschwerde trotz umfangreicher Ausführungen im Übrigen diesen Zeitpunkt nicht explizit benenne, sei davon auszugehen, dass den Verteidiger der Bußgeldbescheid vom 5.1.2021 frühestens am 6.1.2021 und spätestens an dem Tag erreicht habe, als dieser den Einspruch gegen den Bußgeldbescheid eingelegt habe, was am 20.1.2021 geschehen sei. Selbst unter Zugrundelegung des zuletzt genannten Datums sei die dreimonatige Verjährungsfrist gemäß § 33 Abs. 1 S. 1 Nr. 9 Alt. 2 OWiG rechtzeitig unterbrochen worden.
Zustellungswille
Zwar sei zur Heilung von Zustellungsmängeln nötig, dass ein Zustellungswille der Behörde vorgelegen habe (st.Rspr., vgl. nur BGH, Beschl. v. 20.10.2021 – XII ZB 314/21; OLG Celle VRS 140, 108; OLG Hamm DAR 2017, 642). Indes sei nicht erforderlich, dass der Zustellungsadressat und der tatsächliche Empfänger des Dokuments identisch seien. Es entspreche gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung zu der mit Art. 9 BayVwZVG vergleichbaren Vorschrift des § 189 ZPO (BGH NJW 2015, 1760) sowie zu der mit Art. 9 BayVwZVG inhaltlich identischen Bestimmung des § 8 VwZG (BFH NVwZ-RR 2001, 77; BVerwG NVwZ 1999, 178; ebenso: Engelhardt/App/Schlatmann, VwZG, 12. Aufl. 2021 § 8 VwZG Rn 3), dass die Heilung von Zustellungsmängeln nach diesen Bestimmungen auch dann eintrete, wenn der Bescheid nicht dem in ihm genannten Adressaten, sondern einer Person zugehe, an die die Zustellung hätte gerichtet werden können. Für dieses Ergebnis spreche die Ratio der Heilungsvorschriften. Gelange das zuzustellende Schriftstück zum richtigen Empfänger, habe die Zustellung ihren Zweck erreicht; die Versagung der Zustellung durch Heilung in diesen Fällen wäre eine unnötige Förmelei (BGH a.a.O.).
Verteidiger hat Bußgeldbescheid erhalten
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist nach Auffassung des BayObLG eine Heilung dadurch eingetreten, dass der Verteidiger eine Abschrift des Bußgeldbescheids nach § 51 Abs. 3 S. 5 OWiG erhalten hat. Entgegen der Auffassung der GStA sei der Verteidiger zur Empfangnahme von Zustellungen befugt gewesen, sodass an diesen auch die Zustellung hätte gerichtet werden können. Der Verteidiger sei nämlich bereits vor Erlass des Bußgeldbescheids vom 5.1.2021 sowohl rechtsgeschäftlich als auch gesetzlich gemäß § 51 Abs. 3 S. 1 OWiG zum Empfang von Zustellungen ermächtigt gewesen. Er habe mit am 30.12.2020 eingegangenem Schriftsatz vom 28.12.2020, also sogar vor Erlass des Bußgeldbescheids, eine schriftliche Vollmacht vom 9.12.2020 zu den Akten gereicht, die sich gemäß deren Ziffer 6 auf die Empfangnahme von Zustellungen erstreckte. Nach alledem komme es nicht mehr darauf an, dass es nach höchstrichterlicher Rechtsprechung sogar genügen würde, wenn der Verteidiger die rechtsgeschäftliche oder gesetzliche Ermächtigung zur Empfangnahme erst nach Vornahme der fehlerhaften Zustellung erhalten hätte, sofern er das Schriftstück im Zeitpunkt der Bevollmächtigung noch in Besitz gehabt habe, wobei die Heilung in einem solchen Fall in dem Zeitpunkt eintrete, zu dem die rechtsgeschäftliche Bevollmächtigung erteilt oder die gesetzliche Zustellungsvollmacht fingiert werde (vgl. BVerwG a.a.O.; BGH NJW 1989, 1154).
Weitere Unterbrechungen
Weitere Unterbrechungshandlungen hinsichtlich der ab dem Zeitpunkt der Heilung des Zustellungsmangels maßgeblichen sechsmonatigen Verjährungsfrist seien mit Eingang der Akten beim AG gemäß § 33 Abs. 1 S. 1 Nr. 10 OWiG i.V.m. § 69 Abs. 3 S. 1 OWiG am 13.3.2021 und mit der jeweiligen Anberaumung der Hauptverhandlung aufgrund der Verfügungen vom 22.3.2021 und 1.7.2021 gemäß § 33 Abs. 1 S. 1 Nr. 11 OWiG erfolgt.
III. Bedeutung für die Praxis
Warum wird die Vollmacht vorgelegt?
(Leider) eine zutreffende Entscheidung. Man fragt sich allerdings: Warum legt der Verteidiger eine schriftliche Vollmacht beim AG vor und eröffnet somit den (leichten) Weg zur Wirksamkeit der Ersatzzustellung an den Verteidiger? Die Vorlage der Vollmacht war doch – wie immer – nicht erforderlich (zur Vollmacht und den damit zusammenhängenden Fragen Burhoff, in: Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 6. Aufl. 2021, Rn 4067 ff., Burhoff, in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 9. Aufl. 2022, Rn 5026 ff. und Burhoff, in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 10. Aufl. 2022, Rn 3826 ff.). Ob das BayObLG ohne Vorlage der Vollmacht anders entschieden hätte, ist zwar nicht sicher. Zumindest wäre es aber nicht so einfach gewesen, da sich das BayObLG dann zumindest mit der (weiteren) Frage der rechtsgeschäftlichen Zustellungsvollmacht hätte auseinandersetzen müssen.