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Einsicht in Messunterlagen – Daten der gesamten Messreihe

Zur Unzulässigkeit einer Divergenzvorlage zum BGH.

(Leitsatz des Verfassers)

BGH, Beschl. v. 30.3.2022 – 4 StR 181/21

I. Sachverhalt

Das AG hat den Betroffenen wegen fahrlässiger Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 35 km/h zu einer Geldbuße von 120 EUR verurteilt. Die Messung wurde mit dem Messgerät ES 3.0 der Firma ESO vorgenommen. Der Verteidiger beantragte vor der Hauptverhandlung u.a. Einsicht in „die Falldatensätze der gesamten tatgegenständlichen Messreihe mit Rohmessdaten/Einzelmesswerten sowie Statistikdatei und Caselist“. Zur Begründung hat er ausgeführt, aus einer Analyse der Messreihe könne sich ergeben, dass andere Messungen fehlerhaft sind oder technisch nicht nachvollzogen werden können, was Rückschlüsse auf die tatgegenständliche Messung zulasse. Dies gelte insbesondere für die Aspekte atypischer Fotopositionen, einer Divergenz zwischen der Anzahl der erfassten Messungen und der generierten Falldatensätze, der Annulierungsrate des Geräts, möglicher Bewegungen des Messgeräts während der Messung sowie einer eventuellen Nutzung von Messpunkten außerhalb des Messbereichs. Die Verwaltungsbehörde verweigerte die Übersendung dieser Daten. Der Antrag der Verteidigung auf gerichtliche Entscheidung (§ 62 OWiG) war beim AG erfolglos. In der Hauptverhandlung beantragte die Verteidigung die Aussetzung des Verfahrens unter Bezugnahme auf die nicht gewährte Einsicht in die Messunterlagen. Das AG wies den Antrag zurück und verurteilte den Betroffenen.

Das OLG Zweibrücken beabsichtigte, die Rechtsbeschwerde des Betroffenen als unbegründet zu verwerfen, sah sich daran jedoch durch den Beschluss des OLG Jena vom 17.3.2021 (1 OLG 331 SsBs 23/20, VRR 5/2021, 19) gehindert und legte daher im Wege der Divergenzvorlage (§ 121 Abs. 2 GVG, § 79 Abs. 3 S. 1 OWiG) dem BGH die Frage vor, ob in der Verweigerung der Einsichtnahme in dritte Verkehrsteilnehmer betreffende Daten („gesamte Messreihe“) auch dann ein Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens liegt, „wenn eine Relevanz der betreffenden Daten für die Beurteilung der Zuverlässigkeit des verfahrensgegenständlichen Messvorgangs und damit für die Verteidigung des Betroffenen nicht erkennbar ist“ (Beschl. v. 4.5.2021 – 1 OWi 2 SsRs 19/21, VRR 7/2021, 22).

II. Entscheidung

Der BGH hält die Vorlage in Übereinstimmung mit der Stellungnahme des Generalbundesanwalts für unzulässig und gibt die Sache daher an das OLG Zweibrücken zurück. Die Annahme einer in rechtlicher Hinsicht bestehenden Divergenz durch das vorlegende OLG Zweibrücken beruhe auf einem nicht mehr vertretbaren Verständnis der Entscheidung des OLG Jena vom 17.3.2021 und sei daher für den BGH im Vorlegungsverfahren nicht bindend.

Dem Beschluss des OLG Jena sei gerade nicht zu entnehmen, dass jedwedem Informationsverlangen eines Betroffenen ohne gerichtliche Prüfung seiner Berechtigung nachzukommen sei. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus der erst nach dem Vorlegungsbeschluss ergangenen Entscheidung des OLG Stuttgart vom 3.8.2021 (zfs 2021, 647). Denn auch das OLG Stuttgart nehme hinsichtlich der vom Betroffenen begehrten Informationen über die Daten der gesamten Messreihe eine eigene Bewertung von deren Verteidigungsrelevanz vor und bejahe eine potentielle Beweisbedeutung.

Soweit das OLG Zweibrücken einerseits und das OLG Jena sowie das OLG Stuttgart andererseits die potentielle Beweisbedeutung der im Rahmen der Geschwindigkeitsmessung insgesamt angefallenen Messdaten für die Beurteilung der Verlässlichkeit der den Betroffenen belastenden Einzelmessung unterschiedlich beurteilen, betreffe dies eine tatsächliche Frage (Tatfrage), die einer Vorlegung nach § 79 Abs. 3 S. 1 OWiG in Verbindung mit § 121 Abs. 2 GVG nicht zugänglich ist.

III. Bedeutung für die Praxis

Die Diskussion um das Recht auf Einsicht in die Messunterlagen (vgl. Burhoff/Niehaus, in: Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 6. Aufl. 2021, Rn 222 ff.) ist mit dem Beschluss des BGH vom 30.3.2022 um eine Fußnote reicher.

Die Vorlage des OLG Zweibrücken ist jedenfalls in der Gestalt der vom OLG formulierten Vorlegungsfrage mangels Divergenz unzulässig. Denn dass ein Einsichtsrecht in Daten bestünde, „wenn eine Relevanz der betreffenden Daten für die Beurteilung der Zuverlässigkeit des verfahrensgegenständlichen Messvorgangs und damit für die Verteidigung des Betroffenen nicht erkennbar ist“, hat niemand behauptet – weder das BVerfG (Beschl. v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18 Rn 57, VRR 1/2021, 4 ff.) noch das OLG Jena (Beschl. v. 17.3.2021, VRR 5/2021, 19). Entscheidend und umstritten ist vielmehr, ob die Messdaten der gesamten Messreihe eine solche Relevanz haben (vgl. dazu bereits Cierniak, zfs 2012, 664, 676) oder ob ihnen diese Relevanz von vornherein abgesprochen werden kann (eine Aussage, die das OLG in seiner Vorlegungsfrage impliziert hat. Dies dürfte erkennbar die eigentliche Stoßrichtung der Vorlage sein). Bei dieser Frage dürfte es sich aber – entsprechend den Ausführungen des BGH – um eine tatsächliche Frage („Tatfrage“) handeln, die auch dann, wenn sie abstrakt und unabhängig von den Umständen des Einzelfalls zu beantworten ist, dem Vorlegungsverfahren entzogen sein dürfte.

Unter dem letztgenannten Gesichtspunkt („Tatfrage“) ist fraglich, ob die weitere Vorlage des OLG Koblenz (Beschl. v. 1.2.2022 – 3 OWi 32 SsBs 99/21, VRR 3/2022, 29) die Zulässigkeitshürden des § 79 Abs. 3 S. 1 OWiG i.V.m. § 121 Abs. 2 GVG überwinden kann (anhängig beim BGH unter dem Az. 4 StR 84/22).

Es spricht daher einiges dafür, dass – wenn das OLG Zweibrücken entsprechend der von ihm bekundeten Absicht die Rechtsbeschwerde verwerfen sollte – es erneut einer Entscheidung des BVerfG bedürfen wird (das gegenwärtig ohnehin mit einer weiteren Frage aus dem genannten Problemkreis befasst ist, nämlich mit der Frage, ob es den Anforderungen des Verfassungsrechts entspricht, wenn die Rohmessdaten von vornherein nicht gespeichert werden, 2 BvR 1167/20), um die zwischen den OLG umstrittene Frage des Umfangs des Einsichtsrechts zu klären. Das BVerfG ist aber nur zur Entscheidung über Fragen des spezifischen Verfassungsrechts zuständig. Weshalb die OLG Zweibrücken und Koblenz sowie das BayObLG nicht schlicht den Vorgaben des BVerfG folgen, wonach es für die Relevanz der Daten, in die Einsicht begehrt wird, auf die Perspektive des Betroffenen und seines Verteidigers ankommt und nicht auf die Sichtweise der PTB oder des Gerichts (vgl. etwa AG Solingen, Beschl. v. 29.7.2021 – 23 OWi 163/21 (b)), erscheint im Ergebnis wenig nachvollziehbar.

RiLG Prof. Dr. Holger Niehaus, Düsseldorf

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