Zu Inhalt und Reichweite des Verbots einer Verschleifung strafrechtlicher Tatbestandsmerkmale (Art. 103 Abs. 2 GG).
(Leitsatz des Gerichts)
BVerfG, Beschl. v. 9.2.2022 – 2 BvL 1/20
I. Sachverhalt
Das AG hat dem BVerfG nach Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob die Vorschrift des § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB verfassungsgemäß ist. Nach seiner Auffassung verstößt die Norm gegen den in Art. 103 Abs. 2 GG verankerten Bestimmtheitsgrundsatz.
II. Entscheidung
§ 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB sei mit dem Grundgesetz vereinbar. Art. 103 Abs. 2 GG gewährleistet, dass eine Tat nur bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Für den Gesetzgeber enthalte Art. 103 Abs. 2 GG in seiner Funktion als Bestimmtheitsgebot die Verpflichtung, wesentliche Fragen der Strafwürdigkeit oder Straffreiheit im demokratisch-parlamentarischen Willensbildungsprozess zu klären und die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret zu umschreiben, dass Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln lassen. Das Bestimmtheitsgebot verlange daher, den Wortlaut von Strafnormen so zu fassen, dass die Normadressaten im Regelfall bereits anhand des Wortlauts der gesetzlichen Vorschrift voraussehen können, ob ein Verhalten strafbar ist oder nicht. Für die Strafgerichte konkretisiere der Satz „nulla poena sine lege“ den Grundsatz der Gewaltenteilung aus Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG. Sie dürften nicht korrigierend in die Entscheidung des Gesetzgebers über die Strafbarkeit eingreifen. Sie seien allerdings gehalten, weit gefassten Tatbeständen innerhalb der Wortlautgrenze durch eine präzisierende Auslegung Konturen zu geben. Dabei seien die Strafgerichte verpflichtet, die einzelnen Tatbestandsmerkmale nicht so zu definieren, dass die vom Gesetzgeber dadurch bewirkte Eingrenzung der Strafbarkeit im Ergebnis wieder aufgehoben wird. Einzelne Tatbestandsmerkmale dürften innerhalb ihres möglichen Wortsinns nicht so weit ausgelegt werden, dass sie vollständig in anderen Tatbestandsmerkmalen aufgehen, also zwangsläufig mit diesen mitverwirklicht werden (Verbot der Verschleifung von Tatbestandsmerkmalen; vgl. BVerfGE 126, 170 = NJW 2010, 3209). Eine Pflicht auch des Strafgesetzgebers, Tatbestandsmerkmale so zu formulieren, dass keines in einem anderen aufgeht, enthalte Art. 103 Abs. 2 GG hingegen nicht. Angesichts seines aus dem Demokratieprinzip folgenden Einschätzungs- und Ermessensspielraums könne es dem Gesetzgeber nicht verwehrt sein, ihm zur Klarstellung wichtige, wenn auch ineinander aufgehende und damit im Ergebnis „verschleifende“ Tatbestandsmerkmale ausdrücklich in den Gesetzestext aufzunehmen. Um die Anforderungen des Bestimmtheitsgebots zu erfüllen, genüge es, dass der Gesetzgeber die Strafnormen so fasst, dass sich für den Normadressaten nach allgemeinen Maßstäben Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände erkennen und durch Auslegung ermitteln lassen.
Nach diesen Maßstäben sei § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB mit dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG zu vereinbaren. § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB lasse die erfassten Rechtsgüter der Sicherheit des Straßenverkehrs, des Lebens, der körperlichen Integrität und des Eigentums ebenso deutlich werden wie die besonderen Gefahren, vor denen der Gesetzgeber sie schützen will. Hinsichtlich des Bezugspunkts der Tatbestandsmerkmale der groben Verkehrswidrigkeit und Rücksichtslosigkeit bestünden hinreichende Anknüpfungspunkte für eine methodengerechte Auslegung. Insbesondere kann der ausdrückliche Verweis in den Gesetzesmaterialien auf § 315c Abs. 1 Nr. 2 StGB – der ebenfalls als Bezugspunkt einen in der Norm aufgeführten Verkehrsverstoß voraussetzt – zur Auslegung herangezogen werden. Der vom Gesetzgeber neu eingeführte Begriff der „höchstmöglichen Geschwindigkeit“ könne im Rahmen seines Wortsinns methodengerecht ausgelegt werden. Zur Bestimmung der Parameter, nach welchen sich die „höchstmögliche Geschwindigkeit“ bemisst, könnten die Gesetzesmaterialien herangezogen werden, welche ausdrücklich auf die Straßen-, Sicht- und Wetterverhältnisse verweisen. Ferner lasse die Formulierung des Absichtsmerkmals eine Auslegung zu, nach der es nicht darauf ankommt, ob sich der Täter allein mit der Absicht, eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen, fortbewegt oder noch weitergehende Beweggründe – wie beispielsweise die Flucht vor der Polizei oder den Wunsch nach öffentlicher Anerkennung durch späteres Einstellen eines Videos ins Internet – verfolgt. Soweit das Absichtsmerkmal mit Blick auf die Abgrenzung zu noch straffreiem, allerdings womöglich nicht umfassend normkonformem oder rücksichtsvollem Verhalten im Straßenverkehr verbleibende Randunschärfen enthält, sei es einer Präzisierung durch die Rechtsprechung innerhalb des Wortsinns zugänglich. Die vom BGH vorgenommene Interpretation des § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB sei eine mögliche und methodengerechte Auslegung der Strafnorm (BGHSt 66, 27 = NJW 2021, 1173 = VRR 4/2021, 13 = StRR 5/2021, 27 [jew. BurhoffBurhoff]). Wenn dieser davon ausgeht, dass sich die Zielsetzung des Täters nach seinen Vorstellungen auf eine unter Verkehrssicherheitsgesichtspunkten nicht ganz unerhebliche Wegstrecke beziehen müsse und sich nicht nur in der Bewältigung eines räumlich eng umgrenzten Verkehrsvorgangs erschöpfen dürfe, halte er sich im Rahmen der Wortlautgrenze des § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB und stelle methodengerecht auf die objektive Gefahrenlage ab. Er nehme Verhaltensweisen im Straßenverkehr von der Strafbarkeit aus, die nach den Vorstellungen des Täters zwar auf das Erreichen einer höchstmöglichen Geschwindigkeit zielen, sich aber subjektiv nur auf eine unter Verkehrssicherheitsgesichtspunkten unerhebliche Wegstrecke beziehen und damit im Grad der abstrakten Gefahr nicht mit einem Kraftfahrzeugrennen vergleichbar sind. Diese Auslegung stehe im Einklang mit gesetzessystematischen und teleologischen Erwägungen. Diese Interpretation des Straftatbestands des § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB habe eine Verschleifung von Tatbestandsmerkmalen, die der Gesetzgeber eingrenzend verstanden hat, nicht zur Folge. Insbesondere berücksichtige sie, dass das Absichtserfordernis nicht in der Definition der übrigen Tatbestandsmerkmale aufgehen darf. Dies sei für die beiden objektiven Tatbestandsmerkmale der nicht angepassten Geschwindigkeit und der groben Verkehrswidrigkeit bereits deshalb nicht der Fall, weil das Absichtserfordernis überschießend über die für diese beiden objektiven Tatbestandsmerkmale geforderte Vorsatzform des dolus eventualis hinausgehe. Das übersehe das vorlegende Gericht, welches sich letztlich auf eine eigene (verschleifende) Auslegung der Tatbestandsmerkmale des § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB beschränke, die es sodann am Verbot einer solchen Verschleifung misst.
Der Eingriff der Vorschrift des § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB in die allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG sei verhältnismäßig. Die Belange des Gemeinschaftsschutzes überwögen hier die Auswirkungen der Strafnorm des § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB auf die allgemeine Handlungsfreiheit. Dahinter müsse das Interesse, sich unter Verletzung der Straßenverkehrsordnung sowie der Missachtung von Rücksichtnahmepflichten gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern mit höchstmöglicher Geschwindigkeit fortbewegen zu wollen, zurücktreten.
III. Bedeutung für die Praxis
Der vom BVerfG negativ beschiedene Vorlagebeschluss stammt vom AG Villingen-Schwenningen (DAR 2020, 218 = VRR 3/2020, 18 = StRR 3/2020, 32 [jew. Deutscher]). Die Entscheidung des BVerfG ist wenig überraschend, nachdem der BGH zwischenzeitlich (a.a.O.) der recht problematischen Vorschrift in mehreren Entscheidungen höchstrichterlich Kontur gegeben hat, einschließlich der sog. Polizeifluchtfälle (NStZ 2021, 615 = VRR 7/2021, 15 = StRR 10/2021, 25 [jew. BurhoffDeutscher]). Vergleicht man den vorliegenden Beschluss mit früheren Entscheidungen (etwa BVerfGE 92, 1 = NJW 1995, 1141 zum Gewaltbegriff bei § 240 StGB), so wird hier dem Gesetzgeber ein recht weiter Spielraum eingeräumt, zumal es darum geht, bloß bußgeldrechtlich relevante hohe Geschwindigkeitsverstöße von strafbarem Verhalten abzugrenzen. Die Praxis wird mit diesen verbleibenden Unschärfen bei der Abgrenzung leben müssen und sich an diesen Vorgaben von BVerfG und BGH zu orientieren haben.
RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum