Beitrag

Gebührenrechtliche Auswirkungen der rückwirkenden Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung

Die Aufhebung des Beschlusses über die Pflichtverteidigerbestellung hat grundsätzlich keine Auswirkungen auf bereits entstandene Gebühren.

(Leitsatz des Verfassers)

AG Osnabrück, Beschl. v. 11.10.2021202 Ds (211 Js 11318/21) 235/21

I. Sachverhalt

Pflichtverteidigerbestellung wird in der Beschwerde aufgehoben

Die Staatsanwaltschaft hat am 22.4.2021 Anklage gegen die Angeschuldigte wegen Bedrohung zum Jugendschöffengericht Osnabrück erhoben. Bei Übersendung der Anklageschrift an die Angeschuldigte wies das AG darauf hin, dass ihr ein Pflichtverteidiger zu bestellen sei und sie Gelegenheit zur Benennung eines Rechtsanwalts/einer Rechtsanwältin binnen einer Woche habe. Weiterhin wurde angekündigt, dass für den Fall der Nichtbenennung ein Pflichtverteidiger durch das Gericht bestellt werde. Mit Schreiben vom 29.4.2021 meldete sich der Rechtsanwalt für die Angeschuldigte zur Akte und beantragte seine Bestellung als Pflichtverteidiger. Im weiteren Verlauf erfolgte auf Antrag der Staatsanwaltschaft dann eine Eröffnung des Verfahrens vor dem Strafrichter. Die Staatsanwaltschaft beantragte, von einer Beiordnung wegen nicht mehr bestehender Voraussetzungen abzusehen; das AG ordnete gleichwohl den Verteidiger mit Beschluss vom 17.6.2021 bei. Auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft hat das LG die Pflichtverteidigerbestellung aufgehoben.

Kostenbeamter lehnt Festsetzung der gesetzlichen Gebühren ab

Den Antrag des Rechtsanwalts auf Festsetzung seiner Pflichtverteidigervergütung hat der Kostenbeamte abgelehnt. Hiergegen richtete sich die Erinnerung des Rechtsanwalts, zu der der Bezirksrevisor gehört worden ist. Er hat Zurückweisung des Rechtsmittels beantragt. Das Rechtsmittel hatte hingegen Erfolg.

II. Entscheidung

Nrn. 4100, 4106 VV RVG bleiben erhalten

Nach Auffassung des Amtsrichters hat die nachträgliche Aufhebung des Bestellungsbeschlusses vom 17.6.2021 hier keine Auswirkung auf die dem Rechtsanwalt zustehenden Pflichtverteidigergebühren. Für die Entstehung eines Vergütungsanspruchs gegen die Staatskasse sei grundsätzlich der Bestellungsakt nach § 48 Abs. 1 S. 1 RVG entscheidend. Mit der Ausführung anwaltlicher Tätigkeiten auf Basis einer Beiordnung entstehen die Grund- und Verfahrensgebühren nach Nr. 4100, 4106 VV RVG (vgl. Gerold/Schmidt/Burhoff, RVG, 25. Aufl., VV 4100 Rn 12).

Rechtsgedanke des § 15 Abs. 4 RVG

Eine zeitlich nachfolgende Aufhebungsentscheidung hinsichtlich der Pflichtverteidigerbestellung habe grundsätzlich keine Auswirkungen auf diese bereits entstandenen Gebühren. Dies folge aus der Vorschrift des § 15 Abs. 4 RVG, wonach nachträgliche Änderungen hinsichtlich der Angelegenheit ohne Bedeutung für den Vergütungsanspruch seien. Diese Norm gelte nach ihrem Sinn und Zweck auch für die Staatskasse (vgl. Volpert, in: Burhoff/Volpert, RVG Straf- und Bußgeldsachen, 6. Aufl. 2021, Teil A: Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse [§§ 44, 45, 50] Rn 2400). Eine Ausnahme vom normierten Grundsatz könne sich gemäß § 15 Abs. 4 RVG nur aus dem RVG selbst ergeben, wofür hier keine Anhaltspunkte ersichtlich seien.

Fehlende Schutzbedürftigkeit/fehlender Vertrauensschutz

Ob für Fälle einer äußerst kurzfristigen Beiordnung, die ein bereits bestehendes Wahlmandat gleichsam „überlagere“, eine Ausnahme im Hinblick auf die ohnehin bereits entstandene Wahlverteidigervergütung und fehlende Schutzbedürftigkeit/fehlenden Vertrauensschutz zu begründen sei – so die Argumentation in der Stellungnahme des Bezirksrevisors –, bedurfte hier nach Auffassung des AG keiner Entscheidung: Es sei im vorliegenden Fall nicht ansatzweise ersichtlich, dass schon vor der Anhörung der Angeschuldigten zur Pflichtverteidigerbestellung ein Wahlmandat bestanden hätte. Im Gegenteil meldete sich der Verteidiger erst auf die Anhörung der Angeschuldigten zur Akte und beantragte seine Beiordnung. Eine Tätigkeit des Verteidigers im Vertrauen auf eine Wahlverteidigervergütung – und daher ggf. mangelnde Schutzbedürftigkeit im Hinblick auf eine potentiell aufhebbare Bestellung als Pflichtverteidiger – seien fernliegend. Der Rechtsanwalt habe sich von einer Mandantin bevollmächtigen lassen, welche ausdrücklich durch das AG auf eine notwendige Verteidigung hingewiesen worden sei. Dies lasse hinsichtlich der Bevollmächtigung nur den Schluss zu, dass diese vor dem Hintergrund der für sicher gehaltenen Bestellung als Pflichtverteidiger erfolgte. Bei Beginn der anwaltlichen Tätigkeit (und somit zum Zeitpunkt der Entstehung der Gebühren) sei sein Vertrauen auf die gerichtlich angekündigte – und letztlich ausgesprochene – Beiordnung schutzwürdig, auch wenn sich die maßgeblichen Umstände später geändert haben. Eine Abweichung vom Grundsatz der Vergütung auch bei nachträglicher Aufhebung des Beiordnungsbeschlusses sei daher nicht gerechtfertigt.

Gesetzlicher Kontext

Der gesetzliche Kontext spreche ebenfalls dafür, dass der Gebührenanspruch schon vor Bestandskraft der Beiordnung entstehe und bei nachträglicher Aufhebung erhalten bleibe. So sei es Ratio der Rückwirkungsvorschrift des § 48 Abs. 6 S. 1 RVG, das Tätigwerden schon vor Bestellung als Pflichtverteidiger ohne Verlust der entsprechenden Ansprüche gegen die Staatskasse ausdrücklich zuzulassen. Erst recht müsse dies bei einer später tatsächlich erfolgten und noch später wieder aufgehobenen Beiordnung gelten.

III. Bedeutung für die Praxis

Zutreffend

1. Die Entscheidung ist zutreffend. Der Rechtsanwalt ist im Vertrauen auf die durch das AG erfolgte Beiordnung tätig geworden. Damit waren die Nrn. 4100, 4106 VV RVG entstanden. Sie fallen dann später nicht wieder dadurch weg, dass die Pflichtverteidigerbestellung aufgehoben wird (so auch LG Kaiserslautern RVGreport 2019, 135 = JurBüro 2019, 245 = RVGprofessionell 2019, 111). Das würde, worauf das AG zutreffend hinweist, dem aus § 15 Abs. 4 RVG folgenden Grundsatz, dass nachträgliche verfahrensrechtliche Änderungen keinen Einfluss auf bereits entstandene Gebühren haben, widersprechen. Alles andere wäre – da ja zunächst eine wirksame Pflichtverteidigerbestellung vorgelegen hat – auch widersinnig und würde dazu führen, dass der Rechtsanwalt, der in gutem Glauben auf die Wirksamkeit der Bestellung tätig geworden ist, letztlich zum Nulltarif gearbeitet hätte. Das wäre ein wenig viel Sonderopfer. Man muss sich dies nur mal in den Fällen vor Augen führen, in denen der Rechtsanwalt nicht unmittelbar nach der Beiordnung wieder entpflichtet wird, also zu einem Zeitpunkt, in dem er noch nicht so viel Tätigkeiten erbracht hat. Dann würde das Loch in der Kasse ggf. noch größer. Im Übrigen: Hätte der Kostenbeamte Recht, würde das zudem bedeuten, dass vom Rechtsanwalt für den ehemaligen Mandanten während des Beiordnungszeitraums erbrachte Handlungen, z.B. Rechtsmitteleinlegungen, nachträglich unwirksam würden.

Klamottenkiste des Bezirksrevisors

2. Das gilt auch hinsichtlich der nicht tragenden „Hilfserwägungen“ des AG zu den Ausführungen des Bezirksrevisors. Mir erschließt sich nicht, was fehlende Schutzbedürftigkeit/fehlender Vertrauensschutz und ein ggf. zunächst begründetes Wahlanwaltsmandat mit den Pflichtverteidigergebühren zu tun haben sollen. Die Ansprüche des Verteidigers auf ggf. entstandene Wahlanwaltsgebühren und/oder auf die gesetzlichen Gebühren des Pflichtverteidigers sind, worauf man immer wieder hinweisen muss, unterschiedliche Gebührenansprüche, die nichts miteinander zu tun haben (BVerfG StraFo 2009, 274 = JurBüro 2009, 418 = NJW 2009, 2735 = RVGprofessionell 2009, 167 = StV 2010, 87; OLG Frankfurt am Main JurBüro 2011, 34; LG Magdeburg RVGreport 2014, 343 = StRR 2014, 269 = RVGprofessionell 2014, 135). Die Wahlanwaltsvergütung hat ihren Ursprung in der Begründung des Wahlmandats, die gesetzlichen Gebühren des Pflichtverteidigers in der Bestellung des Rechtsanwalts (§ 45 RVG). Ggf. erfolgt zwar eine Anrechnung der Wahlanwaltsvergütung auf die gesetzlichen Gebühren (§ 58 RVG). Das ändert aber an der Eigenständigkeit der beiden Gebührenansprüche nichts und hat schon gar nichts mit Schutzbedürftigkeit/Vertrauensschutz zu tun. Letzteres ist ein Argument aus der Klamottenkiste des hier mit der Sache befassten Bezirksrevisors, das er schnell dort wieder einpacken sollte. Es liegt neben der Sache. Da hilft dann auch nicht die Überlegung, dass ein Pflichtverteidiger ggf. nur beigeordnet wird, wenn der Angeschuldigte noch keinen Verteidiger hat. Denn: Im Antrag eines Wahlverteidigers auf Beiordnung als Pflichtverteidiger ist die Ankündigung der Niederlegung des Wahlmandats für den Fall der Beiordnung zu sehen (vgl. für das neue Recht der Pflichtverteidigung LG Aurich, Beschl. v. 5.5.2020 – 12 Qs 78/20; LG Freiburg, Beschl. v. 26.8.2020 – 16 Qs 40/20, NStZ 2021, 191; LG Magdeburg, Beschl. v. 20.2.2020 – 29 Qs 2/20; Beschl. v. 15.5.2020 – 21 Qs 47 u. 48/20; Beschl. v. 4.6.2020 – 25 Qs 47 u. 48/20, StraFo 2020, 371 = StRR 10/2020, 23 = StV 2021, 164; LG Passau, Beschl. v. 26.1.2021 – 1 Qs 6/21; AG Schwerin, Beschl. v. 25.8.2021 – 36 Gs 1449/21). Damit ist man dann wieder bei § 15 Abs. 4 RVG

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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