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StRR-Kompakt 2022-02

Besetzungsrügenverfahren: Verfassungsbeschwerde

Die Entscheidung eines Tatgerichts, einem Besetzungseinwand nicht abzuhelfen und das Verfahren nach § 222b Abs. 3 S. 1 StPO dem Rechtsmittelgericht vorzulegen, ist als reines Verfahrensinternum nicht gesondert mit der Verfassungsbeschwerde angreifbar. Der im Besetzungsrügenverfahren ergangene Beschluss des OLG ist hingegen gesondert mit der Verfassungsbeschwerde angreifbar.

BVerfG, Beschl. v. 16.12.2021 – 2 BvR 2076/21 u. 2 BvR 2113/21

Beiordnung des Wahlverteidigers: erschlichene Entbindung des Pflichtverteidigers

Hat der Pflichtverteidiger im Hinblick auf § 143a Abs. 1 S. 1 StPO nach Erscheinen eines Wahlverteidigers um seine Entpflichtung gebeten, so begründet dies keinen „konsensualen Verteidigerwechsel“, wenn der eintretende Wahlverteidiger den geheimen Vorbehalt hat, nach Ausscheiden des bisherigen Pflichtverteidigers seine Beiordnung zu beantragen, weil er die Verteidigung nur als Pflichtverteidiger führen will. Im Falle der Beendigung des Mandats des Wahlverteidigers kommt es grundsätzlich nicht in Betracht, ihn als Pflichtverteidiger beizuordnen. Vielmehr wird regelmäßig der frühere Pflichtverteidiger wieder zu bestellen sein

KG, Beschl. v. 28.10.2021 – 3 Ws 276/21

Pflichtverteidiger: Betreuung

Die Existenz eines Betreuers mit dem Aufgabenkreis „Vertretung gegenüber Behörden“ macht regelmäßig die Mitwirkung eines Verteidigers erforderlich, und zwar auch dann, wenn es sich bei dem Betreuer um einen Rechtsanwalt handelt.

KG, Beschl. v. 20.12.2021 – 2 Ss 35/21

Pflichtverteidiger: nachträgliche Bestellung

Dem Beschuldigten ist zumindest dann nachträglich ein Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn die Entscheidung über den vor Beendigung des Verfahrens gestellten Antrag sachwidrig verzögert worden ist.

LG Bonn, Beschl. v. 6.12.2021 – 63 Qs 67/21

Durchsuchung/Beschlagnahme: Anordnungsvoraussetzungen

Den gesetzlichen Anforderungen einer außerhalb der mündlichen Verhandlung getroffenen richterlichen Durchsuchungs- oder Beschlagnahmeentscheidung (§§ 33 ff. StPO) wird nicht dadurch Genüge getan, dass der Richter in ein Formular oder ein von ihm gefertigtes unvollständiges Schriftstück Blattzahlen, Klammern oder Kreuzzeichen einsetzt, mit denen auf in den Akten befindliche Textpassagen Bezug genommen wird.

LG Münster, Beschl. v. 15.12.2021 – 11 Qs-540 Js 3944/21-68/21

Rechtlicher Hinweis: spätes Geständnis

Einem vom Gericht zu Beginn der Hauptverhandlung unterbreiteten Verständigungsvorschlag liegt regelmäßig – für alle Beteiligten ersichtlich – die Erwartung zugrunde, dass der Angeklagte zeitnah dazu ein Geständnis ablegt und damit die Verhandlungsdauer verkürzt. Ein solcher Vorschlag begründet nicht das für die Hinweispflicht nach § 265 Abs. 2 Nr. 2 StPO erforderliche Vertrauen dahingehend, dass die ursprüngliche Strafrahmenzusage auch für ein späteres Geständnis gilt.

BGH, Beschl. v. 23.11.2021 – 5 StR 300/21

Verständigung: Belehrung

Der Vorsitzende muss den Angeklagten bereits bei Unterbreitung eines Verständigungsvorschlags über die in § 257c Abs. 4 StPO geregelte Möglichkeit eines Entfallens der Bindung des Gerichts an die Verständigung belehren.

BGH, Beschl. v. 15.12.2021 – 6 StR 528/21

Berufungsverwerfung: schuldhaftes Ausbleiben des bevollmächtigten Verteidigers

Das Vertrauen eines Angeklagten darauf, sein Verteidiger werde absprachegemäß von der ihm erteilten Vertretungsvollmacht Gebrauch machen, entschuldigt die eigene Abwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung nicht. Nimmt der Verteidiger den Termin in solchen Fällen schuldhaft nicht wahr, ist die Berufung des Angeklagten zu verwerfen. Ein Wiedereinsetzungsantrag, der lediglich damit begründet wird, dass der Angeklagte seinen Verteidiger pflichtbewusst und sorgfältig mit der Vertretung beauftragt und sich auf dessen Erscheinen verlassen hat, ist unbegründet. Alle Tatsachen, auf die der Antragsteller sein Wiedereinsetzungsgesuch stützen möchte, müssen innerhalb der Frist des § 329 Abs. 7 S. 1 StPO dargelegt werden.

OLG Braunschweig, Beschl. v. 20.12.2021 – 1 Ws 276/21

Berufungsverwerfung: Übersetzung der Ladung

Ist der Angeklagte nicht der deutschen Sprache mächtig und ist seine Unterrichtung nicht auf andere Weise sichergestellt, liegt es nahe, dass sich aus dem Anspruch auf ein faires Verfahren die Pflicht zur Übersetzung der Ladung und des Warnhinweises gemäß §§ 216 Abs. 1 S. 1, 323 Abs. 1 S. 2 StPO ergibt. Unterbleibt die Übersetzung, führt dies nicht zur Unwirksamkeit der Ladung; der Anspruch auf ein faires Verfahren wird in der Regel durch die Möglichkeit zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewahrt.

OLG Karlsruhe, Beschl. v. 16.1.2021 – 2 Rv 35 Ss 670/21

Strafzumessung: Berufungsverfahren

Die Bewertung der Tat und die Strafzumessung in der ersten Instanz sind zwar kein Maßstab für die Strafzumessung im Berufungsverfahren, weshalb eine Herabsetzung der Strafe im Fall der Verringerung des Schuldumfangs bzw. des Hinzutretens neuer Milderungsgründe nicht zwingend ist. Der Angeklagte hat aber einen Anspruch darauf, durch eine Begründung der Strafzumessung zu erfahren, warum er in der Berufungsinstanz ggf. trotz Hinzukommens erheblicher Strafmilderungsgründe gleich hoch bestraft wird wie in der Vorinstanz.

OLG Brandenburg, Beschl. v. 22.11.2021 – 1 OLG 53 Ss 97/21

BGH: Begriff des Kraftfahrzeugrennens; Teilnehmer

Ein Kraftfahrzeugrennen i.S.d. § 315d Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 StGB ist ein Wettbewerb zwischen wenigstens zwei Kraftfahrzeugführern, bei dem es zumindest auch darum geht, mit dem Kraftfahrzeug über eine nicht unerhebliche Wegstrecke eine höhere Geschwindigkeit als der andere oder die anderen teilnehmenden Kraftfahrzeugführer zu erreichen. Dabei macht es keinen Unterschied, ob die Teilnehmer zueinander in Bezug auf die Höchstgeschwindigkeit, die höchste Durchschnittsgeschwindigkeit oder die schnellste Beschleunigung in Konkurrenz treten. § 315d Abs. 2 StGB ist ein eigenhändiges Delikt. Ein Teilnehmer an einem nicht erlaubten Kraftfahrzeugrennen i.S.d. § 315d Abs. 1 Nr. 2 StGB erfüllt den Qualifikationstatbestand des § 315d Abs. 2 StGB in objektiver Hinsicht deshalb nur, wenn er durch sein eigenes Fahrverhalten während der Rennteilnahme eine konkrete Gefahr für eines der genannten Individualrechtsgüter verursacht und zwischen seinem Verursachungsbeitrag und dem Gefährdungserfolg ein innerer Zusammenhang besteht.

BGH, Urt. v. 11.11.2021 – 4 StR 511/20

Vertraulichkeit des Wortes: faktische Öffentlichkeit

Das im Zuge einer im öffentlichen Verkehrsraum vorgenommenen Diensthandlung geäußerte Wort eines Polizeibeamten ist in faktischer Öffentlichkeit gesprochen, wenn der Ort, an dem sich geäußert wird, frei zugänglich ist.

LG Hamburg, Beschl. v. 21.12.2021 – 610 Qs 37/21 jug.

Benutzung eines Mobiltelefons: Ablegen auf Oberschenkel

Die verbotswidrige Benutzung eines Mobiltelefons durch ein Halten i.S.v. § 23 Abs. 1a S. 1 StVO liegt nicht nur dann vor, wenn dieses mit der Hand ergriffen wird, sondern auch dann, wenn es auf dem Oberschenkel abgelegt wird.

BayObLG, Beschl. v. 10.1.2022 – 201 ObOWi 1507/21

Rohmessdaten bei ES 3.0: Vorlage an den BGH

Darf ein in einem standardisierten Messverfahren (hier: ESO-Einseitensensor ES 3.0 – Softwareversion 1.007.2) ermitteltes Messergebnis den Urteilsfeststellungen zu einer Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zugrunde gelegt werden, wenn zuvor dem Antrag des Betroffenen, ihm die vorhandenen Rohmessdaten der Tagesmessreihe, die nicht zur Bußgeldakte gelangt sind, zur Einsicht zu überlassen, nicht stattgegeben worden ist, oder beinhaltet dies eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) bzw. eine unzulässige Beschränkung der Verteidigung des Betroffenen (§ 79 Abs. 3 S. 1 OWiG i.V.m. § 338 Nr. 8 StPO)?

OLG Koblenz, Beschl. v. 1.2.2022 – 3 OWi 32 SsBs 99/21

Drogenfahrt: bestimmungsgemäße Einnahme als Medikament

Eine „bestimmungsgemäße“ Einnahme i.S.d. § 24a Abs. 2 StVG liegt nicht vor, wenn das Medikament (Cannabis) in Kombination mit einer der nach dem BtMG verbotenen Substanzen eingenommen wird.

AG Trier, Urt. v. 15.12.2021 – 36 OWi 8041 Js 35254/21

Zusätzliche Verfahrensgebühr: Absehen von der Einziehung

Zugunsten des nach Anklageerhebung mandatierten Anwalts fällt die Gebühr gemäß Nr. 4142 RVG VV nicht an, wenn die Staatsanwaltschaft noch im Ermittlungsverfahren verfügt hat, von der Einziehung abzusehen (§ 421 Abs. 3 StPO) und das Gericht später keine Wiedereinbeziehung anordnet (§ 421 Abs. 2 StPO).

LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 20.1.2022 – 12 Qs 1/22

Zusätzliche Verfahrensgebühr: Mitwirkung

Auch die Mitteilung des Rechtsanwalts, dass sich sein Mandant derzeit auf seinen ausdrücklichen Rat hin nicht zu der Sache äußern wird, genügt als Mitwirkung i.S.d. Nr. 5115 VV RVG.

AG Augsburg, Urt. v. 20.12.2021 – 21 C 2535/21

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