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Anspruch auf Einsichtnahme in Messunterlagen („Lebensakte“)

Bei einer Verteidigung gegen einen Bußgeldbescheid wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung sind dem Betroffenen u.a. die Unterlagen zu Wartungen oder Reparaturen an dem verwendeten Messgerät, die zum Teil auch als „Lebensakte“ bezeichnet werden, vorzulegen.

(Leitsatz des Verfassers)

VerfGH Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 13.12.2021 – VGH B 46/21

I. Sachverhalt

Das AG hat den Betroffenen am 23.9.2020 wegen fahrlässiger Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften verurteilt. Die Messung wurde mit dem Messgerät Poliscan Speed M1 vorgenommen. Die Verteidigung hatte bereits vor der Hauptverhandlung u.a. Einsicht in die Wartungs-, Instandsetzungs- und Eichunterlagen beantragt und hat diesen Antrag in der Hauptverhandlung wiederholt – verbunden mit einem Aussetzungsantrag bis zur Aushändigung und Überprüfung der Unterlagen. Das AG hat einen Anspruch auf Einsichtnahme verneint. Das Führen einer sog. Lebensakte für das Messgerät sei in Rheinland-Pfalz nicht vorgeschrieben und eine solche werde auch nicht vorgehalten. Das OLG Koblenz hat den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde als unbegründet verworfen. Eine Versagung des rechtlichen Gehörs i.S.d. § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG liege nicht vor. Die Vorschrift sei auch nicht erweiternd dahin auszulegen, dass hiervon auch ein behaupteter Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren erfasst werde. Die Zulassung der Rechtsbeschwerde zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung oder aus Gründen der Rechtsfortbildung (§ 80 Abs. 1 Nr. 1 OWiG) komme ebenfalls nicht in Betracht. Ungeachtet dessen übersteige die Herausgabe der begehrten Wartungs-, Instandsetzungs- und Eichunterlagen das vom BVerfG als schützenswert erachtete Informationsinteresse. Zudem habe die Verteidigung nicht vorgetragen, dass sie sich – über das Anschreiben der Bußgeldstelle hinaus – um Herausgabe der Unterlagen etwa beim Hersteller oder bei der die konkrete Messung durchführenden Polizeidienststelle bemüht habe.

II. Entscheidung

Der VerfGH hebt das Urteil des AG, das noch vor dem Beschluss des BVerfG vom 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18 – ergangen ist, und den Beschluss des OLG Koblenz wegen Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren auf und verweist die Sache zur erneuten Entscheidung an das AG.

Einsichtsrecht in die Messunterlagen entsprechend dem Beschl. des BVerfG v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18

Nach dem Beschl. des BVerfG v. 12.11.2020 (2 BvR 1616/18, VRR 1/2021, 4) hat der Betroffene im Fall der Verwendung standardisierter Messverfahren einen aus dem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK) hergeleiteten Anspruch auf Zurverfügungstellung bzw. Einsicht auch in nicht bei den Akten befindliche Messunterlagen, die er für die Prüfung des Tatvorwurfs benötigt (vgl. Burhoff/Niehaus, in: Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 6. Aufl. 2021, Rn 225 ff.). Das BVerfG hat diese Rechtsprechung inzwischen mehrfach bestätigt (Beschl. v. 28.4.2021 – 2 BvR 1451/18, StRR 9/2021, 30 = VRR 9/2021, 18) und vom 4.5.2021 (2 BvR 868/20, DAR 2021, 385, und 2 BvR 277/19). Denn erst durch die Anerkennung des Einsichts- und Überprüfungsrechts werde der Betroffene in die Lage versetzt, seine Verfahrensrechte hinreichend wahrzunehmen, da es ihm im Fall der Verwendung standardisierter Messverfahren obliegt, konkrete Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der Messung vorzutragen. Die Anerkennung der Grundsätze über den Einsatz standardisierter Messverfahren steht und fällt daher mit der Anerkennung des Einsichtnahme- und Überprüfungsrechts der Verteidigung (Cierniak, zfs 2012, 664, 672; Cierniak/Niehaus, DAR 2014, 2, 7; dies., DAR 2018, 541).

Einsichtsrecht auch in die „Lebensakte“ mit zeitlicher Beschränkung auf den Eichzeitraum

Dieses Einsichtsrecht erstreckt sich auf die Reparatur- und Wartungsunterlagen. Insoweit stelle aber in zeitlicher Hinsicht der Eichzeitraum die maßgebliche Grenze für das berechtigte Informationsbegehren des Betroffenen dar (vgl. OLG Zweibrücken DAR 2021, 402; Krenberger, NZV 2021, 209, 210). Reparaturen oder Wartungen vor der letzten Eichung wiesen keinen Zusammenhang mit der konkreten Messung auf; sie seien durch die Eichung gleichsam überholt. Liegen demgegenüber keine Reparatur- und Wartungsunterlagen vor, weil nach der letzten Eichung und nach der streitgegenständlichen Messung keine Wartungen oder Reparaturen an dem Messgerät durchgeführt worden sind, könne von der Bußgeldbehörde schon faktisch lediglich eine Erklärung hierüber gefordert werden (vgl. Ropertz, NZV 2021, 500, 502).

III. Bedeutung für die Praxis

1. Der VerfGH Rheinland-Pfalz bestätigt zunächst, dass im Rahmen des Anspruchs auf Einsichtnahme in die Messunterlagen auch ein Anspruch auf Einsicht in die Unterlagen zu Wartungen und Reparaturen oder sonstigen Eingriffen am Messgerät (einschließlich elektronisch vorgenommener Maßnahmen, also Softwareänderungen und -aktualisierungen) besteht, zu deren Aufbewahrung der Verwender eines Messgeräts nach § 31 Abs. 2 Nr. 4 MessEG verpflichtet ist (vgl. auch Burhoff/Burhoff/Niehaus, a.a.O., Rn 2868 ff.). Das entspricht im Übrigen auch der Rspr. etwa des OLG Zweibrücken (DAR 2021, 402; dazu Niehaus, DAR 2021, 377, 378). Gleichgültig ist dabei, ob die Sammlung dieser Unterlagen als „Lebensakte“ bezeichnet wird oder nicht (Burhoff/Burhoff/Niehaus, a.a.O., Rn 2872). Wird eine solche Sammlung entgegen § 31 Abs. 2 Nr. 4 MessEG nicht geführt, so obliegt der Bußgeldbehörde die Klärung der Frage, ob an dem Gerät nach der letzten Eichung Reparaturen vorgenommen worden sind (OLG Naumburg VRR 4/2016, 14 = DAR 2016, 215).

In zeitlicher Hinsicht beschränkt sich das Einsichtsrecht nach der Auffassung des VerfGH auf den Zeitraum zwischen der letzten Eichung vor der Messung und der ersten Eichung nach der Messung. Das Einsichtnahmerecht ist nicht auf den Zeitraum bis zur Messung begrenzt, denn auch aus nach der streitgegenständlichen Geschwindigkeitsmessung erfolgten Reparaturen können sich Rückschlüsse auf die Funktionsfähigkeit des Messgerätes zum Tatzeitpunkt ergeben.

Keine Festlegung im Streit über das Einsichtsrecht in die Messdaten vom gesamten Tattag

Da die Verfassungsbeschwerde bereits mit Blick auf die verweigerte Herausgabe der Wartungs- und Instandsetzungsunterlagen Erfolg hatte, musste sich der VerfGH hinsichtlich der weiteren von der Verteidigung aufgeworfenen Frage des Einsichtsrechts etwa in die Messdaten des gesamten Tattages (gesamte Messreihe über die Daten der konkreten Messung des Betroffenen hinaus) nicht festlegen (vgl. die Divergenzvorlage des OLG Zweibrücken VRR 7/2021, 22). Der VerfGH verneint aber auch insoweit ein Einsichtsrecht nicht ausdrücklich (etwa im Rahmen eines obiter dictums). Gleiches gilt für die weitere umstrittene Frage, ob es zu einem Beweisverwertungsverbot führt, wenn das verwendete Geschwindigkeitsmessgerät die Rohmessdaten nicht speichert (vgl. VerfGH Saarland VRR 8/2019, 11; vgl. auch Burhoff/Burhoff/Niehaus, a.a.O., Rn 236 ff. m.w.N.). Hinsichtlich der letzteren Frage hatte der VerfGH Rheinland-Pfalz in einem im Eilantragsverfahren ergangenen Beschluss vom 21.6.2021 (VGH A 39/21, DAR 2021, 554), immerhin ausgeführt, dass der dortigen Verfassungsbeschwerde der Erfolg nicht von vornherein versagt werden könne.

Fazit

Die offenbar auch weiterhin fortdauernde Verweigerung der Einsichtnahme in Messunterlagen jedenfalls in Teilbereichen (vgl. auch Cierniak/Niehaus, NStZ 2014, 527: „anachronistisch wirkende Blockadehaltung“), auch mittels teils nicht nachvollziehbarer Anforderungen an die Zulässigkeit einer Rechtsbeschwerde oder eines Zulassungsantrags – so erschließt sich nicht, inwiefern und weshalb sich die Verteidigung nach der Auffassung des OLG Koblenz „bei dem Gerätehersteller“ oder „der mit der konkreten Messung betrauten Polizeidienststelle“ um „entsprechende Unterlagen“ hätte bemühen sollen, da die Aufbewahrungspflicht nach § 31 Abs. 2 Nr. 4 MessEG den Geräteverwender trifft – stößt vor dem VerfGH zu Recht an verfassungsrechtliche Grenzen. Letztlich eröffnen die Fachgerichte durch die Verweigerung der Einsichtnahme erst die Möglichkeit erfolgreicher Rechtsmittel unter Berufung auf einen Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren. Die weitere Entwicklung in diesem Bereich bleibt – etwa mit Blick auf das anhängige Verfassungsbeschwerdeverfahren zur Frage der Rechtsfolgen, wenn die Rohmessdaten nicht gespeichert werden (BVerfG 2 BvR 1167/20) – abzuwarten.

RiLG Dr. Holger Niehaus, Düsseldorf

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