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Vernehmung eines Jugendlichen ohne Verteidiger und ohne Erziehungsberechtigte

Wird ein Jugendlicher nach einer unberechtigten Ingewahrsamnahme ohne Beisein eines Verteidigers oder seiner Erziehungsberechtigten vernommen, sind die von ihm bei dieser Vernehmung gemachten Angaben nicht verwertbar. (Leitsatz des Verfassers)

AG Westerstede, Beschl. v. 30.9.2020 – 43 Ls 203/20 (345 Js 15556/20)

I. Sachverhalt

Die Staatsanwaltschaft hat gegen einen Jugendlichen Anklage wegen Verstoßes gegen das BtMG erhoben. Das AG hat die Eröffnung des Hauptverfahrens aus tatsächlichen Gründen abgelehnt.

II. Entscheidung

Nach Ansicht des AG kann nicht davon ausgegangen werden, dass dem Beschuldigten in einer Hauptverhandlung eine Schuld an den angeklagten Taten nachzuweisen sein wird. Insgesamt sei aus Sicht des Gerichts in der Hauptverhandlung keine Aussage zu erwarten, die die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung begründe.

Die Anklage beruhe allein auf einer Einlassung des Beschuldigten in seiner Beschuldigtenvernehmung am 13.1.2020 hinsichtlich eines Raubdeliktes vor der Polizei in Nordenham. Der Verteidiger habe bereits angekündigt, dass sich der Beschuldigte nicht nochmals zur Sache einlassen werde. Hinsichtlich der angeklagten Taten gebe es keine weiteren Zeugen oder Ermittlungsansätze. Damit stünden dem Gericht in einer Hauptverhandlung keinerlei Beweismittel zur Verfügung, die eine Verurteilung wahrscheinlich erscheinen lassen.

Eine Einvernahme der den Beschuldigten vernehmenden Polizisten sieht das AG als nicht zulässig an. Insoweit greife ein Beweisverwertungsverbot. Denn die Erlangung des Geständnisses sei rechtsfehlerhaft erfolgt. Bereits die Festnahme des Beschuldigten sei mit Rechtsfehlern behaftet gewesen. Zwar sei die Polizei aufgrund des derzeit ermittelten Tatverdachts hinsichtlich eines schweren Raubes befugt gewesen, den Beschuldigten zur Identitätsermittlung vorläufig festzunehmen und ggf. den Erlass eines Haftbefehls zu beantragen. Hier sei der Beschuldigte aber nach erfolgter Identitätsfeststellung nicht entlassen und es sei auch weder ein Antrag auf Erlass eines Haftbefehls bei der zuständigen Staatsanwaltschaft angeregt noch bei dem zuständigen AG beantragt worden. Stattdessen habe man den Beschuldigten aufgrund von „Verdunkelungsgefahr“ polizeilich weiterhin festgehalten, weil er keine Angaben zum Sachverhalt machen wollte. Das Schweigen zu einem ihm vorgeworfenen Delikt sei aber sein Recht als Beschuldigter und stelle keine „Verdunklungsgefahr“ im Sinne des § 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO dar. Trotzdem sei der noch minderjährig Beschuldigte in Gewahrsam genommen und direkt als Beschuldigter vernommen worden, wo er nunmehr doch Angaben zu dem Raubsachverhalt machte. Hier sei allerdings von der Polizei übersehen worden, dass ein Fall der notwendigen Verteidigung vorgelegen habe, da dem Beschuldigten ein Verbrechenstatbestand zur Last gelegt wurde. Seit dem 1.1.2020 sei die Bestellung eines notwendigen Verteidigers für einen Jugendlichen bereits vor der polizeilichen Vernehmung erforderlich (§ 68a Abs. 1 JGG). Dies sei nicht geschehen. Auch seien weder die erziehungsberechtigten Eltern des Jugendlichen informiert oder hinzugezogen worden noch wurde der Jugendliche darüber belehrt, dass er ein Recht darauf habe, dass seine Eltern bei der Vernehmung anwesend sein dürfen bzw. er sich vorher mit diesen besprechen dürfe. An dem Fehlen der Belehrung ändere auch der Umstand nichts, dass der Jugendliche in der Vernehmung angeben hatte, er möchte nicht, dass seine Eltern an der Vernehmung teilnehmen. Der Jugendliche sei damit nach einer unberechtigten Ingewahrsamnahme ohne Beisein eines Verteidigers oder seiner Eltern vernommen worden. Innerhalb dieser Vernehmung sei er dann ohne erneute Belehrung, dass er nun zu einem anderen Straftatbestand als dem Raub befragt werden solle, und ohne Benennung der einschlägigen Strafnormen zu den bei ihm aufgefundenen Drogen vernommen worden. Hier machte der Jugendliche schlussendlich Angaben zu seinem vermeintlichen Drogenhandel.

Unabhängig davon, ob diese Angaben – vor allem hinsichtlich des Zeitrahmens und des Umfangs – glaubwürdig seien, können diese Angaben – so das AG – nicht durch die vernehmenden Polizeibeamten in eine Hauptverhandlung eingeführt werden. Denn das vorliegende Beweisermittlungsverbot ziehe in diesem konkreten Fall auch ein Beweisverwertungsverbot nach sich. So werde teilweise vertreten, dass bereits das bloße Fehlen der Belehrung auf das Recht der Besprechung mit seinem Erziehungsberechtigten vor der Vernehmung bzw. der rechtzeitigen Bestellung eines Verteidigers zu einem Verwertungsverbot führe (vgl. Schuhr, in: MüKo-StPO, 1. Aufl. 2014, § 136 Rn 65; Eisenberg/Kölbel, JGG Kommentar, 21. Aufl. 2020, § 67 Rn 11b–d in Verbindung mit § 70c Rn 28). Aber selbst wenn man der Auffassung folge, dass ein Verstoß gegen § 67 JGG oder §§ 104, 141a StPO nicht zu einem absoluten Beweisverwertungsverbot führe, sondern dies nach den allgemeinen Grundsätzen der Abwägungslehre zu beurteilen sei (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl. 2020, § 141a Rn 11), ziehen die Verstöße hier nach einer konkreten Einzelfallbetrachtung ein Beweisverwertungsverbot nach sich. Denn hier liege aufgrund der Kumulation der Verstöße ein schwerwiegender Rechtsverstoß vor. Da der Jugendliche rechtswidrig in Gewahrsam genommen und ihm suggeriert worden sei, er werde festgehalten, weil er von seinem Schweigerecht Gebrauch mache, und vor der Vernehmung weder seine Eltern benachrichtigt noch ihm ein Verteidiger bestellt worden sei, könne dies nur als ein schwerwiegender Verstoß eingeordnet werden. Solch eine Kumulation von Rechtsverstößen sei nicht hinzunehmen, so dass hier die so gewonnene Einlassung des Beschuldigten nicht durch die Vernehmung der Polizeibeamten als Beweismittel zur Verfügung stehe.

III. Bedeutung für die Praxis

1. Man mag es nicht glauben, wenn man es liest: Ein Jugendlicher wird festgehalten, weil er keine Angaben zur Sache machen will, dann wird er zu einem Verbrechenstatbestand ohne vorherige Bestellung eines Pflichtverteidigers und ohne Information der Erziehungsberechtigten vernommen und dann auch noch zu ganz anderen Vorwürfen befragt. Schlimmer geht nimmer. Aber offenbar ist es noch nicht schlimm genug, dass sich nicht eine Staatsanwaltschaft findet, die auch in einem solchen Fall auch noch Anklage erhebt. Es ist dann erst das AG, das mit einem mehr als deutlichen: „So nicht!“ die Eröffnung des Verfahrens ablehnt und so – wenn auch spät – wieder zur Rechtsstaatlichkeit zurückkehrt. Und ja: Ich habe § 68b JGG, § 141a StPO nicht übersehen, sehe aber nach dem vom AG mitgeteilten Sachverhalt keinerlei Ansatzpunkte, um die Voraussetzungen dieser Vorschriften zu bejahen.

2. In der Sache ist dem AG beizutreten. Es liegen eklatante Verstöße gegen die §§ 68 Nr. 1, 68a JGG vor. Und die sind m.E. auch so massiv – Festhalten des Beschuldigten, um ein Geständnis zu „erzwingen“ (?), Vernehmung ohne die vorherige Bestellung eines Pflichtverteidigers, keine Information der Erziehungsberechtigten (§§ 70a, 67 JGG) –, dass hier auch nach der von der h.M. vertretenen Abwägungslehre ein Beweisverwertungsverbot anzunehmen war. Alles andere würde einen rechtswidrigen Zustand nur manifestieren (vgl. auch Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 8. Aufl. 2019, Rn 2476 ff., 3461).

3. Der Verteidiger darf in solchen Fällen nicht übersehen, dass er, falls es doch zur Hauptverhandlung kommt, der Verwertung der Einlassung des Mandanten durch Vernehmung der vernehmenden Polizeibeamten in der Hauptverhandlung widersprechen muss (dazu Burhoff, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 9. Aufl. 2019, Rn 3740). Es empfiehlt sich, das auch im Ermittlungsverfahren zu tun, auch wenn die Rechtsprechung des BGH davon ausgeht, dass im Ermittlungsverfahren ein Widerspruch nicht erforderlich ist (BGH, Beschl. v. 6.6.2019 – StB 14/19, BGHSt 64, 89).

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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