Gemäß § 25 Abs. 2 Nr. 2 StPO sind während laufender Hauptverhandlung eintretende Befangenheitsgründe unverzüglich geltend zu machen. Dies bedeutet aber nicht „sofort“, sondern „ohne schuldhaftes Zögern“. (Leitsatz des Verfassers)
BGH, Beschl. v. 21.7.2020 – 5 StR 236/20
I. Sachverhalt
Das LG hat die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Die Revision des Angeklagten hatte mit einer Verfahrensrüge Erfolg. Gerügt worden war eine Verletzung des § 338 Nr. 3 StPO.
Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde: Die Hauptverhandlung war auf drei Verhandlungstage angesetzt, zu denen alle Verfahrensbeteiligten und die psychiatrische Sachverständige geladen wurden. Bereits Monate vorher hatte die Sachverständige zwei vorbereitende schriftliche Gutachten erstellt (Umfang 23 und 29 Seiten). Am ersten Hauptverhandlungstag wurde der Angeklagte vernommen, anschließend wurden bis in den Nachmittag sechs Zeugen gehört. Für den zweiten Hauptverhandlungstag waren ursprünglich wiederum sechs Zeugen geladen. Wie sich aus einer Mitteilung von diesem Tag ergab, konnte eine für mittags geladene Zeugin den Termin nicht wahrnehmen. Die psychiatrische Sachverständige erstattete zunächst bis 12.55 Uhr ihr Gutachten. Anschließend wurden weitere Zeugen und danach wieder die Sachverständige gehört. Sie wurde um 15.17 Uhr entlassen. Nunmehr verlas der Vorsitzende den Bundeszentralregisterauszug, die Beweisaufnahme wurde geschlossen.
Der Vorsitzende teilte dann mit, dass noch am selben Hauptverhandlungstag plädiert werden solle. Es folgte zwischen Gericht und Verteidigung ein Disput darüber, ob noch an diesem Tag plädiert werden könne und wieviel Zeit für die Vorbereitung des Plädoyers notwendig sei. Gemäß dem Antrag der Staatsanwaltschaft wollte der Vorsitzende eine Unterbrechung von 30 Minuten zur Vorbereitung der Plädoyers gewähren. Damit war der Verteidiger des Angeklagten nicht einverstanden und erhob Gegenvorstellung. Er erklärte, dass er für seine Vorbereitung aufgrund des Umfangs der Hauptverhandlung und insbesondere des psychiatrischen Gutachtens deutlich mehr Zeit benötige.
Anschließend wurde um 15.20 Uhr die Hauptverhandlung für 30 Minuten unterbrochen. Unmittelbar nach Wiedereintritt in die Hauptverhandlung stellte der Verteidiger für den Angeklagten ein Ablehnungsgesuch gegen den Vorsitzenden und begründete dies sinngemäß damit, dass der Verteidigung angesichts des Umfangs der Beweisaufnahme und der Bedeutung der Sache mit 30 Minuten ein zu kurzer Zeitraum für die Vorbereitung ihres Plädoyers eingeräumt worden sei. Die Gewährung von mehr Vorbereitungszeit würde nicht zu Verzögerungen führen, weil noch ein weiterer Hauptverhandlungstermin anberaumt sei. Zudem habe das Gericht mit dieser Planung gezeigt, dass es an einer Vernehmung der nicht erschienenen Zeugin nicht interessiert sei, obgleich diese für die Feststellung eines bestimmten verfahrensrelevanten Geschehens unverzichtbar sei.
Das Gericht lehnte den Befangenheitsantrag unter Mitwirkung des abgelehnten Vorsitzenden nach § 26a Abs. 1 Nr. 1 StPO mit der Begründung ab, der Ablehnungsantrag sei verspätet. Er sei nicht unverzüglich gestellt oder angekündigt worden, nachdem der Vorsitzende mitgeteilt habe, dass am selben Tag plädiert werden solle. Auch eine Frist zur Beratung mit dem Angeklagten oder zur Überlegung sei nicht eingefordert worden. Stattdessen sei der Befangenheitsantrag erst nach der Unterbrechung der Hauptverhandlung gestellt worden. Anschließend erhielten Staatsanwaltschaft, Verteidiger und Angeklagter Gelegenheit zu Ausführungen. Das Gericht sprach sodann noch an diesem Hauptverhandlungstag das Urteil, ohne dass der Verteidiger plädiert hatte.
II. Entscheidung
Nach Auffassung des BGH hat die Strafkammer das Ablehnungsgesuch i.S.d. § 338 Nr. 3 StPO „mit Unrecht verworfen“. Die Verwerfung des Gesuchs gemäß § 26a StPO sei als „willkürlich“ anzusehen, auf die sachliche Berechtigung der Ablehnungsgründe komme es in diesem Fall nicht an (grundlegend BGHSt 50, 216 im Anschluss an BVerfG NJW 2005, 3410 unter Aufgabe früherer Rechtsprechung). Der nach der Rechtsprechung des BGH (a.a.O.) für die Beurteilung der Frage der Willkür anzuwendende Maßstab gelte nicht nur für die Anwendung von § 26a Abs. 1 Nr. 2 StPO, sondern auch für die Ablehnung eines Befangenheitsgesuchs als unzulässig wegen Verspätung nach § 26a Abs. 1 Nr. 1 StPO (BGH NStZ 2009, 223) und Verschleppungsabsicht nach § 26a Abs. 1 Nr. 3 StPO (vgl. BGH NStZ-RR 2019, 120).
Die Ablehnung des Befangenheitsantrags des Angeklagten als verspätet i.S.d. § 26a Abs. 1 Nr. 1 StPO sei in diesem Sinne willkürlich. Gemäß § 25 Abs. 2 Nr. 2 StPO seien während laufender Hauptverhandlung eintretende Befangenheitsgründe unverzüglich geltend zu machen. Dies bedeutet nicht „sofort“, sondern „ohne schuldhaftes Zögern“ (BGH NJW 2018, 2578). Trotz des dabei anzulegenden strengen Maßstabes (vgl. BGH NStZ 2006, 644; NStZ 2015, 175; Urt. v. 10.11.2015 – 5 StR 303/15) sei dem ablehnungsbefugten Angeklagten Zeit zur Überlegung, zur Besprechung mit seinem Verteidiger und zur Abfassung des Gesuchs einzuräumen (st. Rspr., vgl. nur BGH NJW 2018, 2578; NStZ 2015, 175; NStZ-RR 2012, 211). Welche Zeitspanne dafür zuzubilligen ist, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab (vgl. BGH NJW 2018, 2578). Diese Frist sei dem Angeklagten von Gesetzes wegen eingeräumt; eines diesbezüglichen Antrags bedürfe es nicht.
Diese Maßstäbe habe die Strafkammer bei ihrer Entscheidung verfehlt. Der Verteidiger des Angeklagten sei erst unmittelbar vor der Unterbrechung der Hauptverhandlung mit seiner Gegenvorstellung erfolglos geblieben. Dies sei für den Angeklagten der wesentliche Grund für den Befangenheitsantrag. Die 30-minütige Unterbrechungspause habe der Angeklagte zur Überlegung, Besprechung mit seinem Verteidiger und Formulierung des Antrags nutzen dürfen. Das Befangenheitsgesuch sei unmittelbar nach Wiedereintritt in die Hauptverhandlung und demnach offensichtlich unverzüglich angebracht worden.
Die Auslegung des gesetzlichen Begriffs „unverzüglich“ sei unhaltbar. Schon nach der gesetzlichen Legaldefinition in § 121 Abs. 1 S. 1 BGB bedeute er „ohne schuldhaftes Zögern“, aber nicht „sofort“. Dass dem Angeklagten nach dem die Besorgnis der Befangenheit aus seiner Sicht begründenden Ereignis eine zumindest kurze Zeit für die Überlegung, Besprechung mit seinem Verteidiger und Abfassung des Antrags einzuräumen sei, sei seit vielen Jahren in der höchstrichterlichen Rechtsprechung anerkannt. Indem dem Angeklagten unter Mitwirkung des wegen zu zügiger Verhandlungsführung abgelehnten Vorsitzenden jede Überlegungs-, Besprechungs- und Abfassungszeit in unvertretbarer Weise abgesprochen worden sei, sei § 26a Abs. 1 Nr. 1 StPO letztlich willkürlich angewendet worden.
III. Bedeutung für die Praxis
1. M.E. ist die Entscheidung zutreffend und entspricht der Rechtsprechung des BGH in der Frage. Wenn man den Verfahrensablauf sieht, kann man nur begrüßen, dass der BGH das LG mit deutlichen Worten zur Ordnung ruft. Denn: Der Ablauf spricht dafür, dass hier das Verfahren an dem Tag auf Biegen und Brechen zu Ende gebracht werden sollte. Da hat es die Kammer wenig bzw. gar nicht interessiert, ob der Angeklagte zumindest ein wenig Zeit braucht, um sich darüber klar zu werden, ob er einen Befangenheitsantrag stellen will. Zu Recht beanstandet das der BGH. „Kurzen Prozess“ gibt es nicht.
2. Der Verteidiger hatte außerdem noch gerügt, die Zeit für sein Plädoyer sei vom Vorsitzenden zu kurz bemessen gewesen. Diese Rüge hat der BGH als präkludiert angesehen. Denn der Angeklagte hatte es versäumt, gegen diese Ermessensentscheidung des Vorsitzenden nach § 238 Abs. 2 StPO das Gericht anzurufen (vgl. auch BGH NStZ 1993, 94, 95; allgemein zur Rügepräklusion mangels Anrufung des Gerichts KK-StPO/Schneider, 8. Aufl., § 238 Rn 28 ff. m.w.N.).
Deshalb war der Revisionsgrund des § 338 Nr. 8 StPO nicht gegeben. Dazu merkt der BGH in Zusammenhang mit dem Ablehnungsgesuch aber an, dass bei einem Verfahren wie diesem angesichts des Gewichts der drohenden Rechtsfolge (unbefristete Unterbringung nach § 63 StGB) die Zeit für die Vorbereitung der Plädoyers von Staatsanwaltschaft und Verteidigung nicht zu knapp bemessen werden darf, gerade wenn der Sachverständige erst kurz zuvor die Erstattung des entscheidenden Gutachtens beendet hat und angesichts vorausschauender Terminierung keine Zeitnot besteht. Auch insoweit wäre ein „kurzer Prozess“ verfehlt.
RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg