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Nachträgliche Bestellung eines Pflichtverteidigers

Mit Blick auf die Neureglung des Rechts der Pflichtverteidigung im Anschluss an die Richtlinie 2016/1919/EU („PKH-Richtlinie“) ist die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers möglich, wenn dessen Bestellung eine wesentliche Verzögerung erfahren hat. (Leitsatz des Verfassers)

OLG Nürnberg, Beschl. v. 6.11.2020 – Ws 962 – 963/20

I. Sachverhalt

Das LG hat den rechtzeitig im Vollstreckungsverfahren gestellten Antrag des Verurteilten, ihm einen Pflichtverteidiger zu bestellen, nicht beschieden und dann später abgelehnt, weil eine nachträgliche Bestellung nicht (mehr) möglich sei. Die dagegen gerichtete Beschwerde des Verurteilten hatte Erfolg.

II. Entscheidung

Die rückwirkende Bestellung des Pflichtverteidigers für den Zeitraum ab Antragstellung sei – so das OLG – vorliegend möglich, da die Voraussetzungen der Pflichtverteidigerbestellung für das Vollstreckungsverfahren zu diesem Zeitpunkt vorlagen und die Entscheidung über die Bestellung eine wesentliche Verzögerung erfahren habe, was das OLG im Einzelnen darlegt. Der Senat habe dabei im Blick, dass die überwiegende Rechtsmeinung (zum Streitstand: Willnow, in: KK-StPO, 8. Aufl., § 141 Rn 12 und Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl. 2020, § 142 Rn 19) die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers selbst dann für unzulässig erachte, wenn die Entscheidung über den Antrag versäumt wurde; dies mit der Begründung, dass die Beiordnung eines Pflichtverteidigers der ordnungsgemäßen Verteidigung eines Angeklagten sowie einem ordnungsgemäßen Verfahrensablauf in der Zukunft diene. Eine Rückwirkung wäre auf etwas Unmögliches gerichtet und würde eine notwendige Verteidigung des Angeklagten in der Vergangenheit nicht gewährleisten. Eine Beiordnung erfolge insbesondere nicht im Kosteninteresse eines Angeklagten oder um dem Verteidiger einen Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse zu verschaffen (so u.a. OLG Brandenburg und OLG Bremen StRR 12/2020, 25).

Mit der Reform der §§ 141, 142 StPO durch das „Gesetz zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019“ (BT-Drucks 19/13829, S. 36 ff.) und aufgrund der dieser Gesetzesänderung zugrunde liegenden Richtlinie 2016/1919/EU ist die Annahme eines Rückwirkungsverbotes nach Auffassung des OLG indes nicht mehr tragfähig. Nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2016/1919/EU („PKH-Richtlinie“) haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass Verdächtige und beschuldigte Personen, die nicht über ausreichende Mittel zur Bezahlung eines Rechtsbeistands verfügen, Anspruch auf Prozesskostenhilfe haben, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. Mit „Prozesskostenhilfe“ werde hierbei die Bereitstellung finanzieller Mittel durch einen Mitgliedstaat für die Unterstützung durch einen Rechtsbeistand bezeichnet, so dass das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand wahrgenommen werden kann (Art. 3 der Richtlinie 2016/1919/EU). Über den rechtzeitigen und praktisch wirksamen Zugang zur Wahrnehmung der Verteidigerrechte hinaus (Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2013/48/EU) regele Art. 4 der Richtlinie 2016/1919/EU nunmehr also auch die finanziellen Grundlagen, und zwar in der Weise, dass nicht nur die tatsächliche Verteidigung, sondern auch die Bezahlung des Rechtsbeistandes gesichert werden soll. Zweck und Ziel dieser Regelung könne – im Blick auf Fallkonstellationen wie die vorliegende – nur eine effektive Unterstützung und Absicherung der Verfahrensbeteiligten sein. Diese würde jedoch unterlaufen, wenn eine Pflichtverteidigerbestellung nur deswegen versagt werden könnte, weil die Entscheidung hierüber verzögert getroffen wurde (so auch Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 142 Rn 20). Das OLG zieht hierbei die Wertungen der das Strafverfahren betreffenden Richtlinie 2016/1919/EU auch im Strafvollstreckungsverfahren heran, da sich ansonsten ein unüberbrückbarer Wertungswiderspruch innerhalb des Rechts der Pflichtverteidigung zwischen dem Straf- und dem Strafvollstreckungsrecht ergäbe.

Gestützt wird diese Rechtsauffassung nach Auffassung des OLG auch durch das Unverzüglichkeitsgebot in § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO. Mit dieser neuen Fassung der Vorschrift komme der besondere Beschleunigungsbedarf zum Ausdruck, den der Gesetzgeber für eine Pflichtverteidigerbestellung sehe. Ebenso sei im Zuge der gesetzlichen Neuregelung die bisher statthafte einfache Beschwerde durch die sofortige Beschwerde nach § 142 Abs. 7 Satz 1 StPO ersetzt worden. Die Bestellungsentscheidung – samt der mit dieser verbundenen Alimentierung des Verteidigers – müsse also schnell fallen. Gerade die vorliegende, äußerst lange Verzögerung bis zur abschließenden Entscheidung über die Pflichtverteidigerbestellung erst mit diesem Beschluss – acht Monate nach Antragstellung und lange nach Rücknahme des Widerrufsantrags – zeige, dass die Annahme der bislang vorherrschenden Rechtsauffassung einer Erledigung des Bedarfs für die Pflichtverteidigerbestellung durch Zeitablauf nicht mit der Intention des Gesetzgebers vereinbar sei.

III. Bedeutung für die Praxis

Endlich mal ein OLG, das in den Chor der Stimmen einstimmt, die die nachträgliche Bestellung eines Pflichtverteidigers nach neuem Recht als zulässig ansehen (vgl. die Nachweise in der Anmerkung zu OLG Brandenburg/OLG Bremen, a.a.O.). Und das mit einer überzeugenden Begründung, die die Intentionen des Gesetzgebers, die zur Neuregelung des Rechts der Pflichtverteidigung geführt haben, aufgreift. Man kann nur hoffen, dass das Beispiel Schule macht und sich nicht die Auffassung durchsetzt, die die nachträgliche Bestellung als unzulässig ansieht (dazu LG Ansbach, Beschl. v. 9.11.2020 – 3 Qs 48/20, LG Freiburg, Beschl. v. 4.11.2020 – 16 Qs 62/20; LG Halle, Beschl. v. 10.8.2020 – 10a Qs 84/20; LG Halle, Beschl. v. 7.10.2020 – 3 Qs 109/20; LG Halle, Beschl. v. 18.11.2020 – 3 Qs 109/20; LG Osnabrück, Beschl. v. 16.11.2020 – 1 Qs 47/20; LG Würzburg, Beschl. v. 10.11.2020 – 6 Qs 197/20, StRR 1/2021 [in dieser Ausgabe]).

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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