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Anwendung von § 10 EGStPO

1. Als Schutzmaßnahme nach § 10 EGStPO reicht es, wenn sie nachvollziehbar der Verhinderung der Verbreitung von Infektionen mit dem Coronavirus dienen soll. Es genügt, die Gesundheit mittelbar zu schützen

2. Die Schutzmaßnahme muss nicht gerichtlich oder gesundheitsbehördlich angeordnet werden.

3. Die Feststellung des Hemmungsgrundes wird aufgrund § 336 Satz 2 Alt. 1 StPO nur nach den Maßstäben der Willkür geprüft.

4. Der Feststellungsbeschluss nach § 10 EGStPO muss nicht innerhalb der Frist nach § 229 Abs. 1 StPO ergehen, da er aufgrund der unanfechtbaren Feststellung von Beginn und Ende der Hemmung nur konstitutive Bedeutung hat. (Leitsätze des Verfassers)

BGH, Beschl. v. 19.11.2020 – 4 StR 431/20

I. Sachverhalt

Die Hauptverhandlung sollte ab 13.3.2020 regulär nach § 229 Abs. 1 StPO bis zum 31.3.2020 unterbrochen und anschließend fortgesetzt werden. Am 28.3.2020 berichtete eine Schöffin dem Vorsitzenden, dass ihr Ehemann plötzlich innerhalb der nächsten zwei Wochen am Herzen operiert werden müsse und die Ärzte ihr rieten, zwei Wochen vor und nach der Operation eine Ansteckung mit dem Coronavirus unbedingt zu vermeiden. Die Hauptverhandlung wurde dann ohne weitere erkennbare Veranlassungen erst am 30.4.2020 fortgesetzt. Erst an diesem Tag wurde ein Beschluss nach § 10 EGStPO verkündet, dass die Unterbrechungsfrist vom 29.3. bis zum 29.4.2020 gehemmt gewesen sei.

Die Revision des Angeklagten richtete sich dagegen, dass dieser Beschluss nicht innerhalb der Dreiwochenfrist erging sowie dass eine nicht unmittelbare Person der Hauptverhandlung geschützt werden sollte. Die Revision hatte keinen Erfolg.

II. Entscheidung

Der 4. Senat des BGH hat in seiner kurzen Entscheidung dargelegt, dass der Beschluss nach § 10 EGStPO nicht innerhalb der dreiwöchigen Unterbrechungsfrist nach § 229 Abs. 1 StPO zu ergehen braucht. Der Beschluss habe nur begründende Wirkung und stelle lediglich Anfang und Ende der Hemmung unanfechtbar fest. Die Wirkung des § 10 EGStPO trete kraft Gesetzes ein.

Aufgrund der Unanfechtbarkeit der Feststellung des Hemmungsgrundes komme aufgrund des § 336 S. 2 Alt. 1 StPO eine revisiongerichtliche Richtigkeitsprüfung nur im Rahmen einer Willkürprüfung in Betracht. Auch sei die Hauptverhandlung aufgrund von Schutzmaßnahmen nicht durchführbar, wenn nicht nur unmittelbar entscheidungsfindende Personen betroffen seien, sondern auch, solange die Schutzmaßnahme, also die Nichtdurchführbarkeit der Hauptverhandlung, dem Schutz von Personen diene, die zur Risikogruppe gehören, wie ältere Personen, Personen mit Grunderkrankung oder mit unterdrücktem Immunsystem. Eine ärztliche Empfehlung, dass jedes Ansteckungsrisiko zu vermeiden sei, reiche aus. Ein Nachweis sei nicht (ersichtlich) nötig.

III. Bedeutung für die Praxis

1. Soweit ersichtlich, handelt es sich bei der Entscheidung um die erste Äußerung des BGH zu § 10 EGStPO.

2. Der BGH macht deutlich, dass mit § 10 EGStPO die Volksgesundheit geschützt werden soll und nicht nur der unmittelbare zur Entscheidungsfindung zusammengetroffene Personenkreis. Anforderungen an die Nachweisbarkeit des Hemmungsgrundes werden so gut wie keine gestellt. Es scheint schon eine Glaubhaftmachung und eine Kausalität auszureichen.

3. Auch hat der konstitutive Beschluss nach § 10 EGStPO nicht innerhalb der Dreiwochenfrist, sondern bis zum Beginn der fortgesetzten Hauptverhandlung zu erfolgen, was Sinn macht, da das Ende der Hemmung bei Beginn der Hemmungsfrist auch noch nicht absehbar ist. Der BGH wendet also seine zu § 229 Abs. 3 StPO ergangene Rechtsprechung an (BGH NStZ 1992, 550; NStZ-RR 2016, 178).

RA/FAStR Harald Stehr, Göppingen

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