Ein Rechtsanwalt, der einen Termin bei Gericht verpasst, weil er die Fahrzeit von seiner Kanzlei zum Gericht zu knapp kalkuliert, seinen Anwaltsausweis nicht bei sich führt und sich dann auch noch auf dem Weg zum Gerichtssaal verläuft und die Anreise zum Termin unzulänglich plant, handelt nicht unverschuldet.
Sachverhalt
Gestritten wird um eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. In dem Verfahren hatte eine Rechtsanwältin Berufung gegen ein Urteil des AnwG eingelegt. Die Berufung ist vom AGH durch Urteil wegen Versäumung der Berufungshauptverhandlung durch die Rechtsanwältin verworfen worden. Die angeschuldigte Rechtsanwältin hat Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Der Antrag hatte keinen Erfolg.
Keine Wiedereinsetzung wegen sehr mangelhafter Planung der Anreise
Die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung nach § 116 Abs. 1 S. 2 BRAO i.V.m. § 45 StPO lagen nach Auffassung des AGH nicht vor. Nach den Ausführungen des AGH war der Antrag zumindest unbegründet. In dem Zusammenhang verweist der AGH auf eine sehr mangelhafte Planung der Anreise zum Berufungstermin. Das begründet der AGH wie folgt:
1.Fahrtzeit zu knapp bemessen
Eine Rechtsanwältin, die wisse, um 13.00 Uhr in Hamm (Westf.) zu einem Termin erscheinen zu müssen, handele sorgfaltswidrig, wenn sie erst 75 Minuten zuvor mit dem Pkw von C. (wahrscheinlich Castrop-Rauxel) aus zu diesem Termin aufbreche. Für eine Autofahrt von 75 Kilometern zwischen Kanzlei und Gerichtsgebäude nur 75 Minuten Fahrtzeit einzuplanen, setze für ein rechtzeitiges Erreichen des Zielortes schon rein rechnerisch eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 60 km/h voraus. Innerstädtisch sei diese Geschwindigkeit nicht gestattet; dortige Verzögerungen müssten also außerorts vollständig kompensiert werden, was an einem Freitagmittag – quer durch das gerichtsbekannt aktuell zusätzlich von Baustellen durchzogene Ruhrgebiet – von vornherein ausgeschlossen erscheine. Der AGH verweist ferner u.a. darauf, dass die Rechtsanwältin außerdem nicht über ein funktionsfähiges Mobiltelefon verfügt habe, mit dem sie eine etwaige unvorhersehbare Verzögerung an das Gericht hätte mitteilen können, einen Anwaltsausweis nicht habe vorlegen können, was wegen der Personenprüfung am Eingang zu einer weiteren mehrminütigen Verzögerung geführt habe.
2.Anfahrt bei Gericht entspricht zeitlich nicht Zutritt zum Saal
Zudem habe eine potentielle Verzögerung für das Erreichen des Gerichtssaales auch in dem Umstand gelegen, dass die bloße Anfahrt zum Gerichtsgebäude mit einem Zutritt zu dem Gerichtssaal notwendig nicht identisch sei. Für das Parken des eigenen Pkw und für den Fußweg von dem Parkplatz in den Saal hätte eine sorgfältige Planung weitere Zeiträume berücksichtigen müssen.
Bedeutung für die Praxis
1.Allgemeine Bedeutung
a)Zulässigkeit des Antrags
Vorab ist auf Folgendes hinzuweisen: Zur Zulässigkeit hat der AGH die Frage erörtert, ob der Wiedereinsetzungsantrag der Rechtsanwältin nicht hätte per beA eingelegt werden müssen. Die Frage hat er aber offen gelassen, da der Antrag nicht begründet war. Allerdings ist den Ausführungen des AGH insoweit deutlich zu entnehmen, dass er eine entsprechende Anwendung des § 32d S. 2 StPO auf den Wiedereinsetzungsantrag ablehnt. Ebenso hat der AGH es dahinstehen lassen, ob es (im anwaltsgerichtlichen Verfahren) für die nötige Glaubhaftmachung der dem Wiedereinsetzungsgesuch zugrundeliegenden Tatsachen hinreicht, sie anwaltlich als richtig zu versichern. Auch insoweit ist aber erkennbar, dass er das wegen der Stellung des Rechtsanwalts als Organ der Rechtspflege ebenfalls verneint.
b)Geltung auch in anderen Verfahren
Die Ausführungen des AGH zur Begründetheit kann man auch auf Rechtsanwälte in anderen Verfahren anwenden, und zwar immer dann, wenn das Verschulden des Rechtsanwalts dem Mandanten zugerechnet wird, also z.B. beim Nebenklagevertreter. Sie können aber auch Bedeutung erlangen, wenn es um Verspätung des Angeklagten oder des Betroffenen geht, dessen Berufung oder Einspruch ggf. deshalb verworfen worden ist (dazu u.a. Burhoff (Hrsg.), Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 11. Aufl., 2025, Rn 837 m.w.N.). In der Sache sind die Ausführungen des AGH m.E. zudem zutreffend. Die Rechtsanwältin war hier nun wirklich in jeder Hinsicht unvorbereitet.
2.Gebührenrechtliche Bedeutung – Anwendung beim Abwesenheitsgeld
Diese Entscheidung hat m.E. aber auch einen gebührenrechtlichen Aspekt. Und zwar lässt sich mit der Entscheidung gut argumentieren, wenn bei der Vergütungsfestsetzung mal wieder um das Abwesenheitsgeld (Nr. 7005 VV) gestritten wird. Nicht selten werden dabei ja von den Vertretern der Staatskasse für die Berechnung der (erforderlichen) Abwesenheitszeit bei der Fahrtzeit einfach die Angaben von z.B. Google Maps zugrunde gelegt und davon ausgegangen, dass der Rechtsanwalt sich auf den Straßen, auch in Ballungsräumen, wie z.B. dem Ruhrgebiet, frei bewegen kann, als gäbe es keine Baustellen und keine anderen Verkehrsteilnehmer. Dem ist aber nicht so. Dass dieser Ansatz zu kurz greift, lässt sich gut mit der AGH-Entscheidung belegen. Die Entscheidung zeigt mehr als deutlich, dass dieser Ansatz für die Berechnung der maßgeblichen Abwesenheitszeit eben nicht reicht und auf die so ermittelte Fahrzeit sicherlich ein Zuschlag zu machen ist. Sehr schön auch, dass der AGH zudem auf die zu berücksichtige Zeit verweist, die der Rechtsanwalt verwenden muss, um vom Parkplatz zum Gerichtssaal zu gelangen. Dabei sind diese Zeiträume beim Abwesenheitsgeld zu verdoppeln, weil der Rechtsanwalt ja auch vom Gericht wieder zur Kanzlei kommen muss.