1. Die Bestimmung des vorrangig Kindergeldberechtigten gemäß § 64 Abs. 2 S. 2 EStG kann nur einvernehmlich erfolgen und setzt deshalb eine Einigung der Eltern voraus.
2. Bei der Berechtigtenbestimmung, ihrer Änderung und ihrem Widerruf handelt es sich jeweils um empfangsbedürftige Willenserklärungen, die nach Zugang bei den zuständigen Familienkassen rechtsgestaltend den Kindergeldanspruch einer bestimmten natürlichen Person begründen oder beenden.
3. Auch für solche gegenüber einer Behörde abzugebenden Willenserklärungen gelten die Vorschriften des § 130 Abs. 1 und Abs. 2 BGB.
4. Ein Widerruf der Bestimmung des nach § 64 Abs. 2 S. 2 EStG vorrangig Kindergeldberechtigten für die Zukunft wird erst wirksam, wenn der Widerruf allen Beteiligten, also insbesondere auch der für den bisher vorrangig Kindergeldberechtigten zuständigen Familienkasse, bekannt geworden ist.
I. Der Fall
Streitig ist die Rechtmäßigkeit eines Bescheides über die Aufhebung einer Kindergeldfestsetzung und die Rückforderung von Kindergeld für den Zeitraum Mai 2004 bis einschließlich Februar 2019.
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist Vater unter anderem des im Mai 2004 geborenen Kindes F. Er beantragte am 30.7.2004 bei der Familienkasse des Bundeseisenbahnvermögens (ursprünglich Beklagte – BEV –) Kindergeld für F. Die Mutter des Kindes (M), mit der der Kläger inzwischen verheiratet ist, hatte zu dem Antrag erklärt, sie sei einverstanden, dass dem Kläger das Kindergeld für F gewährt wird. Daraufhin setzte das BEV zugunsten des Klägers ab Mai 2004 Kindergeld für F fest.
Bereits am 1.7.2004 hatte M bei der für sie zuständigen Familienkasse Berlin-Brandenburg (Revisionsklägerin – Familienkasse –) Kindergeld für F beantragt. Zu diesem Antrag hatte der Kläger erklärt, er sei mit der Gewährung von Kindergeld an M einverstanden. Dementsprechend hatte die Familienkasse antragsgemäß der M ab Mai 2004 Kindergeld für F gewährt. Im Jahr 2019 stellten die Familienkasse und das BEV fest, dass sowohl der Kläger als auch M ab Mai 2004 Kindergeld für F bezogen hatten. Daraufhin hob das BEV mit Bescheid vom 21.11.2019 die zugunsten des Klägers erfolgte Kindergeldfestsetzung auf und forderte das gesamte im Zeitraum Mai 2004 bis Februar 2019 an den Kläger ausgezahlte Kindergeld in Höhe von 31.414 EUR zurück.
Das Finanzgericht (FG) gab der nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobenen Klage statt und hob mit Urt. v. 24.9.2021 den Bescheid vom 21.11.2019 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 14.8.2020 auf. Zur Begründung führte es aus, der beim BEV gestellte Kindergeldantrag des Klägers habe ab August 2004 zu einer Änderung des Kindergeldberechtigten geführt, eine Anzeige bei der Familienkasse sei nicht nötig gewesen. Die Familienkasse, gegenüber der die Änderung erklärt werde, sei verpflichtet, mit der bisher Kindergeld gewährenden Stelle Kontakt aufzunehmen, um Doppelzahlungen auszuschließen. Für die Monate Mai bis Juli 2004 sei selbst bei Annahme einer Steuerhinterziehung mit Ablauf des Jahres 2014 Festsetzungsverjährung eingetreten, da der Kläger die letzte unberechtigte Zahlung im Juli 2004 erhalten habe. Die fünfjährige Verjährungsfrist für die strafrechtliche Verfolgung sei bereits im Jahr 2009 abgelaufen.
II. Die Entscheidung
Zum Parteiwechsel:
Organisationsakt
1. Die Familienkasse der Bundesagentur für Arbeit ist aufgrund eines Organisationsaktes im Wege des gesetzlichen Parteiwechsels in die Beteiligtenstellung des BEV eingetreten.
Zur Begründetheit der Revision:
2. Die Revision der Familienkasse ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der nicht spruchreifen Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung – FGO –).
Berechtigtenbestimmung
Das FG ist auf Basis der von ihm getroffenen tatsächlichen Feststellungen zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Berechtigtenbestimmung im Sinne des § 64 Abs. 2 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) wirksam zugunsten des Klägers geändert wurde. Mangels hinreichender tatsächlicher Feststellungen des FG kann der Senat nicht selbst über die Rechtmäßigkeit der Aufhebung der Kindergeldfestsetzung und der Rückforderung des dem Kläger für die Zeit von Mai 2004 bis einschließlich Februar 2019 gewährten Kindergeldes entscheiden.
a) Kindergeld wird für jedes Kind nur an einen Kindergeldberechtigten gezahlt (§ 64 Abs. 1 EStG). Lebt das Kind im gemeinsamen Haushalt der Eltern, so bestimmen diese untereinander den Berechtigten (§ 64 Abs. 2 Satz 2 EStG). Dies geschieht üblicherweise durch den Kindergeldantrag. Die Berechtigtenbestimmung gemäß § 64 Abs. 2 Satz 2 EStG kann nur einvernehmlich erfolgen, setzt also eine Einigung der Eltern voraus. Es handelt sich bei der Berechtigtenbestimmung, ihrer Änderung und ihrem Widerruf jeweils um empfangsbedürftige Willenserklärungen, die nach Zugang bei den zuständigen Familienkassen rechtsgestaltend den Kindergeldanspruch einer bestimmten natürlichen Person begründen oder beenden. Auch für solche gegenüber einer Behörde abzugebende Willenserklärungen gelten die Vorschriften des § 130 Abs. 1 und 2 BGB (§ 130 Abs. 3 BGB). Abgegeben ist die Erklärung, wenn der Erklärende seinen Willen erkennbar so geäußert hat, dass an der Endgültigkeit der Äußerung kein Zweifel möglich ist, wobei bei empfangsbedürftigen Willenserklärungen grundsätzlich hinzukommen muss, dass sie mit Willen des Erklärenden in den Verkehr gebracht werden. Hierzu muss bei schriftlichen Willenserklärungen unter Abwesenden in der Regel deren Absendung beziehungsweise Übergabe an den Erklärungsboten und bei schriftlichen Willenserklärungen unter Anwesenden deren Übergabe erfolgt.
Wurde eine wirksame Berechtigtenbestimmung getroffen, dann gilt diese so lange, bis sie von den Eltern einvernehmlich geändert oder von einem Elternteil einseitig widerrufen wird. Im letztgenannten Fall muss das Familiengericht gemäß § 64 Abs. 2 Satz 3 EStG den Berechtigten bestimmen, wenn der andere Elternteil das Einvernehmen nicht durch seine Zustimmung zum Wechsel der Berechtigung wieder herstellt.
Berechtigtenwechsel
Die mit einem Berechtigtenwechsel verbundene Neugestaltung der Rechtsverhältnisse zwischen den Beteiligten – bisheriger und neuer Anspruchsberechtigter sowie die jeweils zuständigen Familienkassen – ist grundsätzlich nur für die Zukunft möglich. Eine rückwirkende Gestaltung derartiger Rechtsverhältnisse ist nur dann möglich, wenn sie bislang ungeregelt waren. Im ungeregelten Zustand besteht Unklarheit über die Person des Anspruchsinhabers; für die Familienkasse besteht ein Festsetzungshindernis.
b) Nach diesen Maßstäben hält das Urteil des FG einer revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht stand.
Das FG hat nicht ausreichend berücksichtigt, dass der Kläger und M im zeitlichen Zusammenhang mit ihren Kindergeldanträgen vom Juli 2014 wechselseitig erklärt hatten, ohne zeitliche Einschränkungen mit der Gewährung des Kindergeldes für F an den jeweils anderen Elternteil einverstanden zu sein. Mit diesen Erklärungen haben sie eine Einigung darüber, wem von beiden das Kindergeld zustehen sollte, gerade nicht herbeigeführt. Das FG hat auch nicht festgestellt, dass sich der Kläger und M nach der Niederschrift dieser Erklärungen bis zum 31.7.2004 darauf verständigt haben, dass nur der Kläger der Kindergeldberechtigte für F sein und den entsprechenden Antrag stellen solle. Denn es hat sich nicht mit der Behauptung des Klägers auseinandergesetzt, er habe sich mit M darauf geeinigt, dass nur er den Kindergeldantrag für F einreicht. Das FG hat sich des Weiteren auch nicht mit dem Vorbringen des Klägers beschäftigt, der Antrag der M mit seiner Zustimmungserklärung sei ohne sein Wissen und Wollen bei der Familienkasse eingereicht worden. Solange jedoch nicht feststeht, welche Abrede der Kläger und M bezüglich der beiden Kindergeldanträge letztlich getroffen haben, ist zugleich offen, welche der von ihnen jeweils wechselseitig schriftlich niedergelegten Erklärungen zur Berechtigtenbestimmung nach ihrem übereinstimmenden Willen in den Rechtsverkehr gelangen und damit wirksam werden sollte(n). Damit beruht die Annahme des FG, der beim BEV gestellte Kindergeldantrag des Klägers sei als einvernehmliche Änderung der Berechtigtenbestimmung anzusehen, nicht auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage. Einen solchen Rechtsanwendungsfehler hat der BFH auch ohne besondere Rüge zu berücksichtigen.
c) Das angefochtene Urteil erweist sich nicht aus anderen Gründen als richtig. Denn es ist nicht ausgeschlossen, dass zum Zeitpunkt des Erlasses des auf § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO) gestützten Aufhebungsbescheides vom 21.11.2019 die Festsetzungsfrist noch nicht abgelaufen war (aa). Der Entreicherungseinwand des Klägers greift nicht durch (bb).
Festsetzungsverjährung nach §§ 169 ff. AO
aa) Die Vorschriften über die Festsetzungsverjährung nach §§ 169 ff. AO gelten auch im Verfahren über die Aufhebung von Bescheiden über die Festsetzung von Kindergeld, da dieses nach § 31 Satz 3 EStG als Steuervergütung gezahlt wird.
(1) Auf die Festsetzung einer Steuervergütung sind gemäß § 155 Abs. 5 AO die Vorschriften über die Steuerfestsetzung – also auch die Bestimmungen über die Festsetzungsverjährung (§§ 169 bis 171 AO) – sinngemäß anzuwenden. Im Regelfall beträgt die Festsetzungsfrist vier Jahre (§ 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO); im Falle der Steuerhinterziehung zehn Jahre und im Falle der leichtfertigen Steuerverkürzung fünf Jahre (§ 169 Abs. 2 Satz 2 AO). Die Frist beginnt gemäß § 170 Abs. 1 AO mit Ablauf des Jahres, in dem die Steuer entstanden ist. Sie endet in den Fällen des § 169 Abs. 2 Satz 2 AO nicht, bevor die Verfolgung der Steuerstraftat oder Steuerordnungswidrigkeit verjährt ist (§ 171 Abs. 7 AO). Die Frage, ob Steuerbeträge hinterzogen oder leichtfertig verkürzt wurden, ist bei der Prüfung der Festsetzungsverjährung von den Finanzbehörden und Finanzgerichten in eigener Zuständigkeit zu entscheiden. Die Frist für die Verfolgungsverjährung bei einer Steuerhinterziehung im Sinne des § 370 Abs. 1 AO oder einer leichtfertigen Steuerverkürzung im Sinne des § 378 AO beträgt fünf Jahre (§ 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB, § 384 AO; vgl. § 376 Abs. 1 AO zur verlängerten Verjährungsfrist in den Fällen besonders schwerer Steuerhinterziehungen). Sie beginnt entweder mit der Beendigung der Tat beziehungsweise Handlung oder, wenn ein zum Tatbestand gehörender Erfolg später eintritt, mit dem Erfolgseintritt (§ 78a StGB, § 31 Abs. 3 OWiG) und kann nach § 78c StGB, § 376 Abs. 2 AO bzw. § 33 OWiG unterbrochen werden. Aus dem das Kindergeldrecht beherrschenden Monatsprinzip (§ 66 Abs. 2 EStG) ist nicht abzuleiten, dass jede monatliche Auszahlung eine beendete Straftat beziehungsweise Ordnungswidrigkeit darstellt, was zur Folge hätte, dass mit jeder Auszahlung für den jeweiligen Monat auch die Verfolgungsverjährung begänne. Vielmehr beginnt die Verfolgungsverjährung erst mit der letztmals zu Unrecht erlangten Kindergeldzahlung.
Reguläre Festsetzungsfrist
(2) Bei der Anwendung dieser Rechtsgrundsätze auf die zugunsten des Klägers erfolgte Kindergeldfestsetzung war beim Erlass des Aufhebungsbescheides im November 2019 jedenfalls die reguläre Festsetzungsfrist für die streitigen Monate ab Januar 2015 noch nicht abgelaufen. Ob auch eine Änderung der Kindergeldfestsetzung für die übrigen Monate erfolgen kann, hängt angesichts der bis Februar 2019 erfolgten Auszahlung des Kindergeldes an den Kläger davon ab, ob diesem eine Steuerhinterziehung oder leichtfertige Steuerverkürzung anzulasten ist. Dazu hat das FG – ausgehend von seinem abweichenden Rechtsstandpunkt – keine Feststellungen getroffen.
bb) Erwiese sich die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung als rechtmäßig, würde der rechtliche Grund für die Zahlung des Kindergeldes an den Kläger entfallen und es bestünde ein Erstattungsanspruch nach § 37 Abs. 2 AO. Gegen diesen Anspruch könnte sich der Kläger nicht mit Erfolg auf die Einrede der Entreicherung berufen. Die Abgabenordnung enthält keine § 48 Abs. 2 Satz 2 VwVfG und § 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X entsprechende Regelung, nach der das Vertrauen in eine gewährte Leistung in der Regel schutzwürdig ist, wenn der Begünstigte sie verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. § 818 Abs. 3 BGB (Beschränkung der Herausgabepflicht auf die noch vorhandene Bereicherung) ist im Rahmen des § 37 Abs. 2 AO ebenfalls nicht anwendbar.
d) Die Sache ist nicht spruchreif. Das FG hat keine ausreichenden Feststellungen dazu getroffen, welche einvernehmliche Vereinbarung der Kläger und M bezüglich des Kindergeldberechtigten und der Einreichung des Kindergeldantrags getroffen hatten und ob dem Kläger eine Steuerordnungswidrigkeit oder eine Steuerstraftat anzulasten ist. Die Sache ist zur Nachholung dieser Feststellungen an das FG zurückzuverweisen.
III. Der Praxistipp
Probleme bei der Bestimmung des Kindergeldberechtigten und/oder diesbezügliche Fragen begegnen dem Praktiker immer wieder im Zuge eines Obhutwechsels des oder der gemeinsamen Kinder von getrennt lebenden und/oder geschiedenen Kindseltern.
Das Urteil des BFH vom 17.8.2023 legt die grundsätzlichen Voraussetzungen für die Bestimmung des vorrangig Kindergeldberechtigten, deren Änderung als auch Widerruf dogmatisch, aber auch nachvollziehbar dar. Insbesondere weist der BFH darauf hin, dass die mit dem berechtigten Wechsel verbundene Neugestaltung der Rechtsverhältnisse zwischen den Beteiligten grundsätzlich nur für die Zukunft möglich sind.