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Leistungsfähigkeit für Kindesunterhalt bei Bezug von Sozialleistungen

1. Zur Bestimmung der Leistungsfähigkeit gegenüber minderjährigen Kindern eines Unterhaltsschuldners, der aufgrund eines erlittenen Körperschaden Sozialleistungen bezieht, für die die Deckungsvermutung im Bezug auf schadensbedingte Mehraufwendungen gemäß § 1610a BGB eingreift.

2. Die in § 1610a BGB enthaltene gesetzliche Vermutung spricht dafür, dass vom Sozialhilfeträger lediglich solche Leistungen erbracht werden, die den behinderungsbedingten Mehrbedarf decken.

3. Zum Einsatz von Vermögenswerten (hier: Hälftiges Eigentum an einer Immobilie) zur Deckung des Unterhaltsbedarfs minderjähriger Kinder während der Dauer der Trennung der Eltern, wenn der Unterhaltspflichtige den vorhandenen Vermögenswert zur Deckung des eigenen Existenzminimums benötigt.

OLG Stuttgart, Beschl. v. 20.11.2020 – 11 UF 145/20

I. Der Fall

Die unterhaltsberechtigten minderjährigen Kinder leben im Haushalt der Antragstellerin. Der Antragsgegner erhält eine Rente wegen voller Erwerbsunfähigkeit und ein pauschales Pflegegeld und zusätzlich monatliche Entlastungsleistungen. Des Weiteren ist ihm am Wohnvorteil einkommenserhöhend zuzurechnen. Insgesamt ist der Antragsgegner gegenüber sechs minderjährigen Kindern zum Unterhalt verpflichtet.

Gegen den Anspruch auf Kindesunterhalt wendet der Antragsgegner Leistungsunfähigkeit sowie die Berücksichtigung von Umgangskosten ein.

II. Die Entscheidung

Nach Auffassung des OLG Stuttgart sei der Antragsgegner grundsätzlich seinen sechs ehelichen Kindern gegenüber gemäß § 1601 BGB unterhaltsverpflichtet. Die Bedürftigkeit der Kinder bestehe unstreitig in Höhe des jeweiligen Mindestunterhalts gemäß § 1612a BGB nach Abzug des jeweiligen hälftigen Kindergeldes gemäß § 1612b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 BGB.

Die Leistungsfähigkeit des Antragsgegners sei jedoch selbst unter Berücksichtigung seiner gesteigerten Obliegenheit nach § 1603 Abs. 2 BGB erheblich eingeschränkt, so dass er zur Bezahlung eines höheren Unterhalts als festgesetzt nicht in der Lage sei. Der Einsatz des erhaltenen Pflegegeldes für Unterhaltszwecke komme nicht in Betracht, da dieses lediglich den krankheitsbedingten Mehraufwand des Antragsgegners abdecke. Würden für Aufwendungen infolge eines Körper- oder Gesundheitsschadens Sozialleistungen in Anspruch genommen (hier Pflegegeld), werde bei der Feststellung eines Unterhaltsanspruchs – auch auf Seiten des Unterhaltsverpflichteten – gemäß § 1610a BGB vermutet, dass die Kosten der Aufwendungen nicht geringer sein als die Höhe dieser Sozialleistung. Angesichts der tatsächlichen Beeinträchtigungen, welche insbesondere in den Pflegegutachten des Medizinischen Dienstes detailliert beschrieben, und welche der Antragstellerin aus ihren eigenen Bemühungen um die Zuerkennung von Pflegestufen zugunsten des Antragsgegners bekannt seien, sei diese gesetzliche Vermutung nicht erschüttert, auch wenn der Antragsgegner nicht im Einzelnen darlegen könne, für welche Zwecke er das erhaltene Pflegegeld konkret einsetze. Zunächst sei bereits allgemein davon auszugehen (worauf auch die gesetzliche Vermutung beruhe), dass der Sozialversicherungsträger (Pflegeversicherung) dem Antragsgegner lediglich solche Leistungen gewähre, die zu seinem behinderungsbedingten Mehrbedarf kongruent seien.

[Beschreibung der krankheitsbedingten Einschränkungen des Antragsgegners]

Außerdem ist das OLG Stuttgart der Auffassung, dass der Antragsgegner zumindest im derzeitigen Verfahrensstand des Trennungsverfahrens nicht verpflichtet sei, sein Vermögen, welches im Miteigentum der gemeinsamen Immobilie bestehe, für den Kindesunterhalt einzusetzen. Würden die erzielbaren Einkünfte des barunterhaltspflichtigen Elternteils nicht ausreichend, um den Mindestunterhalt seiner minderjährigen Kinder zu decken, sei er grundsätzlich verpflichtet, vorhandenes Vermögen einzusetzen, soweit die zu beachtende Opfergrenze nicht überschritten werde. Diese Opfergrenze sei in der Regel nur dann überschritten, wenn der Unterhaltspflichtige sein Vermögen zur Deckung des eigenen Unterhaltsbedarfes benötige. Dies sei derzeit nicht absehbar.

[Ausführungen zu den konkreten Einkünften des Antragsgegners]

Die tatsächliche Möglichkeit der Erzielung eigener Einkünfte erscheine nach dem aktenkundigen Krankheitsbild äußerst unwahrscheinlich, auch wenn diese unterhaltsrechtlich in vertretbarer Weise vorliegend fingiert würde. Kalkulatorisch benötige der Antragsgegner bei einer statistischen Lebenserwartung von noch 40 Jahren allein zum Erreichen des eigenen Existenzminimums einen Vermögensbetrag von 40 Jahren x 12 Monate = 480 Monate x … EUR = … EUR. Das vorhandene Vermögen von … EUR Reiche dagegen bei einem monatlichen Verbrauch von 400 EUR lediglich für die Dauer von 13 1/2 Jahren, so dass selbst bei einer Erwerbsmöglichkeit bis zur Altersrente das Vermögen nicht für die danach noch bestehende statistische Lebenserwartung ausreiche, das eigene Existenzminimum abzusichern. Eine Auskömmlichkeit des Kapitalbetrages errechne sich selbst bei einer Umrechnung in eine monatliche Rente auf der Grundlage der Tabelle zu § 14 BewG nicht. Dagegen stehe ein lediglich geringer Zeitraum, in welchem der Antragsgegner den Kindesunterhalt aus seinem Vermögen bezahlen könnte. Im Vergleich zu den derzeit titulierten Beträgen betrage die Deckungslücke bis zum Mindestunterhalt der Kinder abzüglich hälftigem Kindergeld monatlich … EUR. Bei Einsatz des Vermögens zur Auffüllung des Fehlbetrages würde dies selbst bei Außerachtlassung von Erhöhungen des Mindestunterhalts und des Erreichens höherer Altersstufen seitens der Kinder lediglich für 34 Monate ausreichen. Bis zu diesem Zeitpunkt habe noch nicht einmal das älteste Kind die Volljährigkeit erreicht. Daraus folge nach Auffassung des OLG Stuttgart, dass sowohl die Deckung des eigenen Lebensbedarfs des Antragsgegners als auch die Abwägung der jeweiligen Interessen der Beteiligten in der Gesamtschau den Vermögenseinsatz vorliegend nicht rechtfertigten.

III. Der Praxistipp

Die vorliegende Entscheidung stellt für den Praktiker eine wertvolle Arbeitshilfe für die Anwendung des § 1610a BGB dar. Diese Vorschrift stellt die gesetzliche Vermutung auf, dass die Kosten für Aufwendungen infolge eines Körper- oder Gesundheitsschadens durch Sozialleistungen wie Pflegegeld gedeckt im Sinne von verbraucht werden. Dieser gesetzlichen Vermutung kann nur durch entsprechend substantiierten und unter Beweis gestellten Sachvortrag entgegengetreten werden.

Darüber hinaus beschäftigt sich auf diese Entscheidung mit dem Einsatz des Vermögensstammes für den Unterhalt. Die Ausführungen des OLG Stuttgart zur Zumutbarkeit des Einsatzes der Vermögenssubstanz machen deutlich, wie ein entsprechender Sachvortrag des anwaltlichen Vertreters des Unterhaltsschuldners zu gestalten ist.

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