1. Die Beurteilung der Böswilligkeit i.S.v. § 11 Nr. 2 KSchG erfordert stets eine unter Bewertung aller Umstände des konkreten Falls vorzunehmende Gesamtabwägung der beiderseitigen Interessen. Hierbei kann eine Verletzung sozialrechtlicher Handlungspflichten durch den Arbeitnehmer zu berücksichtigen sein, z.B. ein Verstoß gegen die Verpflichtung, sich nach § 38 Abs. 1 SGB III arbeitsuchend zu melden. Ebenso können sich im Einzelfall aus der Regelung des § 2 Abs. 5 SGB III, wonach der Arbeitnehmer zur aktiven Mitarbeit bei der Vermeidung oder Beendigung von Arbeitslosigkeit angehalten ist, Anknüpfungspunkte für die Konkretisierung des böswillig unterlassenen anderweitigen Verdienstes ergeben. Ausgehend hiervon ist auch ein Verhalten des Arbeitnehmers zu seinen Lasten zu berücksichtigen, mit dem er verhindert, dass die Agentur für Arbeit ihrem Vermittlungsauftrag nachkommt.
2. Anrechenbar nach § 11 Nr. 2 KSchG ist nur böswillig unterlassener Verdienst aus anderweitiger zumutbarer Arbeit. Die Zumutbarkeit beurteilt sich insbesondere nach der Art der Arbeit, der Person des Arbeitgebers oder den sonstigen Arbeitsbedingungen. Auch hinsichtlich der Beschäftigungsmöglichkeit bei einem Dritten folgt die Unzumutbarkeit nicht allein aus einem im Verhältnis zum bisherigen niedrigeren Verdienst. Es ist jeweils nach den konkreten Umständen des Einzelfalls zu ermitteln, inwieweit eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen z.B. nach der Art der Tätigkeit, der Arbeitszeit oder des Ortes der anderweitigen Beschäftigung sowie hinsichtlich des Verdienstes hinnehmbar ist. Dabei muss der Arbeitnehmer eine erhebliche Verschlechterung der Arbeitsbedingungen grundsätzlich nicht akzeptieren.
[Amtliche Orientierungssätze]
I. Der Fall
Streitgegenstand
Die Parteien streiten um Vergütung wegen Annahmeverzugs.
das Arbeitsverhältnis
Der Kläger wurde seit 1991 bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerin als Maschinenbeschicker beschäftigt. Die Beklagte kündigte das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis am 23.11.2017 außerordentlich, hilfsweise ordentlich. Die hiergegen gerichtete Kündigungsschutzklage des Klägers wurde erstinstanzlich abgewiesen. Das zuständige LAG stellte auf die Berufung hin am 16.7.2020 fest, dass das Arbeitsverhältnis nicht aufgelöst worden ist und gab dem Weiterbeschäftigungsantrag des Klägers statt. Seit dem 31.8.2020 wird der Kläger weiter beschäftigt.
Zeit zwischen 23.11.2017 und 31.7.2020
Der Kläger bezog bis zum 25.1.2019 Arbeitslosengeld I. Die Agentur für Arbeit unterbreitete dem Kläger in dieser Zeit keine Stellenangebote, da der Kläger dies nicht wünschte. Er teilte der Agentur für Arbeit mit, dass er sich bewerben werde, wenn man ihn dazu zwinge. Bei etwaigen Vorstellungsgesprächen mit potentiellen Arbeitgebern werde er mitteilen, dass er bei seinem ursprünglichen Arbeitgeber arbeiten wolle und das laufende Gerichtsverfahren abwarte. Eigenständige Bemühungen zur Arbeitssuche stellte der Kläger indes nicht an. Die Beklagte übersandte ihm auch in dieser Zeit keine Stellenangebote. Ab Februar 2019 war der Kläger indes zwischendurch vereinzelt im Rahmen von geringfügigen Beschäftigungen tätig und bezog neben Leistungen des Jobcenters geringfügiges Gehalt.
Klageerhebung
Nach obsiegendem Urteil im Kündigungsschutzverfahren in zweiter Instanz, erhob der Kläger beim ArbG Stuttgart Klage und machte Vergütungsansprüche unter dem Gesichtspunkt des Annahmeverzugs geltend. Er vertrat die Auffassung, dass er nicht verpflichtet gewesen sei, sich um einen anderen Arbeitsplatz zu bemühen. Die Arbeitssuchendmeldung sei indes ausreichend, um seinen sozialrechtlichen Handlungspflichten nachzukommen. Weitere Bemühungen habe er nicht anstellen müssen, weil die Agentur für Arbeit dies nicht verlangt habe. Darüber hinaus habe er sich stets entsprechend der Erfordernisse der Agentur für Arbeit verhalten und auch (später) andere Tätigkeiten aufgenommen. Die Beklagte beantragte Klageabweisung und meinte, der Kläger habe es böswillig unterlassen einen anderweitigen Verdienst zu erzielen. Ein anderweitiger Verdienst sei ihm auch aufgrund der guten Arbeitsmarktchancen in seiner Heimatstadt problemlos möglich gewesen. Konkrete Stellenangebote habe die Beklagte nicht vortragen müssen. Vielmehr hätte der Kläger nach den Grundsätzen der sekundären Darlegungslast vortragen müssen, dass und aus welchen Gründen er eine Stelle nicht habe erlangen können.
Verfahrensgang
Das Arbeitsgericht hat der Klage für den Zeitraum vom 1.4.2019 bis zum 30.8.2020 stattgegeben und sie im Übrigen abgewiesen (ArbG Stuttgart, Urt. v. 26.11.2021 – 19 Ca 1253/21). Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung des Klägers das Urteil teilweise abgeändert und der Klage auch für den Zeitraum von Januar 2018 bis März 2019 stattgegeben (LAG Baden-Württemberg, Urt. v. 29.12.2022 – 3 Sa 100/21). Mit der Revision verfolgt die Beklagte ihr Begehren, die Klage insgesamt abzuweisen, weiter.
II. Die Entscheidung
Revision begründet
Die zulässige Revision der Beklagten ist begründet, denn das Berufungsurteil litt unter Rechtsfehlern. Insofern wurde das Urteil aufgehoben und zur Entscheidung an das LAG Baden-Württemberg zurückverwiesen. Das LAG wird insofern prüfen müssen, ob das Verhalten des Klägers ein böswilliges Unterlassen i.S.d. § 11 Nr. 2 KSchG darstellte. Hierbei wird es zu berücksichtigen haben, dass der Kläger sich zwar formal ordnungsgemäß bei der Agentur für Arbeit gemeldet, zugleich aber mit seinem übrigen Verhalten tatsächliche Vermittlungsbemühungen verhindert hat.
Rechtsgrundlage
Da das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien aufgrund der unwirksamen Arbeitgeberkündigung nicht beendet war, befand sich die Beklagte – die den Kläger seit dem 23.11.2017 nicht beschäftigte – im Annahmeverzug, ohne dass ein Angebot des Klägers erforderlich war, §§ 293 ff. BGB. Die Anrechnung des anderweitigen Verdienstes richtet sich nach § 11 Nr. 1 und Nr. 2 KSchG.
Anrechnung anderweitigen Verdienstes
§ 11 Nr. 2 KSchG bestimmt, dass sich der Arbeitnehmer auf das Arbeitsentgelt, das ihm der Arbeitgeber für die Zeit nach der Entlassung schuldet, das anrechnen lassen muss, was er hätte verdienen können, wenn er es nicht böswillig unterlassen hätte, eine ihm zumutbare Arbeit anzunehmen.
böswilliges Unterlassen
Nach Auffassung des BAG hat das LAG Baden-Württemberg die Beurteilung der Böswilligkeit eines etwaigen Unterlassens anderweitigen Verdiensts nicht zutreffend vorgenommen. Böswilliges Unterlassen anderweitigen Verdienst i.S.d. § 11 Nr. 2 KSchG ist anzunehmen, wenn ein Arbeitnehmer während des Annahmeverzugs trotz Kenntnis aller objektiven Umstände vorsätzlich untätig bleibt und eine ihm nach Treu und Glauben unter Beachtung des Grundrechts auf freie Arbeitsplatzwahl nach Art. 12 GG zumutbare anderweitige Arbeit nicht aufnimmt oder die Aufnahme der Arbeit bewusst verhindert. Bei der Anwendung der unbestimmten Rechtsbegriffe „Böswilligkeit“ und „Zumutbarkeit“ kommt dem jeweiligen Tatsachengericht ein Beurteilungsspielraum zu. Der Arbeitnehmer darf auch nicht vorsätzlich verhindern, dass ihm eine zumutbare Arbeit überhaupt angeboten wird. Eine Schädigungsabsicht zum Nachteil des Arbeitgebers ist indes nicht erforderlich, allerdings reicht auch fahrlässiges Handeln nicht aus. Der Arbeitnehmer muss hingegen auf die Belange des Arbeitgebers angemessen Rücksicht nehmen. Diesen vorbezeichneten Beurteilungsspielraum habe das LAG Baden-Württemberg nicht ausreichend genutzt.
Verletzung sozialrechtlicher Handlungspflichten als Indiz
Die Verletzung von sozialrechtlichen Handlungspflichten, wie bspw. die unterbleibende fristgerechte Arbeitssuchend- oder Arbeitslosmeldung oder unterbleibende Wahrnehmung von Vermittlungsangeboten der Agentur für Arbeit können als Indiz für ein böswilliges Unterlassen herangezogen werden. Gem. § 2 Abs. 5 SGB III ist der Arbeitnehmer zur aktiven Mitarbeite bei der Vermeidung oder Beendigung von Arbeitslosigkeit angehalten.
Bemühungen des Arbeitnehmers
Nach Auffassung des BAG dürfe der Arbeitnehmer hingegen zum einen nicht abwarten, bis ihm die Agentur für Arbeit zumutbare Angebote sende, zum anderen müsse der Arbeitnehmer auch nicht unermüdlich sich durchgehend um eine zumutbare Arbeit kümmern. Gleichwohl dürfe der Arbeitgeber eigeninitiativ dem Arbeitnehmer geeignete Stellenangebote übermitteln, um ihn aktiv zur Prüfung anderweitiger Beschäftigungsoptionen zu veranlassen.
Zumutbarkeit anderweitiger Tätigkeit
Schließlich muss die anderweitige Tätigkeit dem Arbeitnehmer auch zumutbar sein, wobei die Unzumutbarkeit nicht aus einem geringeren Verdienst folgt. Die Unzumutbarkeit ist insofern am jeweiligen Einzelfall zu beurteilen, wobei die in § 140 SGB III normierten Anforderungen an eine zumutbare Beschäftigung bei der Beurteilung des böswilligen Unterlassens anderweitigen Verdienstes nicht 1:1 zu berücksichtigen sind.
Beweislastverteilung
Die Beweislast für die Einwendung nach § 11 Nr. 2 KSchG trägt grundsätzlich der Arbeitgeber, der mit dem Ausspruch der unwirksamen Kündigung die Ursache für den Annahmeverzug gesetzt hat. Hierbei muss der Arbeitgeber zunächst darlegen, dass im Verzugszeitraum Beschäftigungsmöglichkeiten bestanden haben. Diesbezüglich hat er in Bezug auf die Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit einen Auskunftsanspruch gegenüber dem Arbeitnehmer. Den Arbeitnehmer trifft insoweit eine sekundäre Darlegungslast, sich über die Bemühungen zur Aufnahme einer Beschäftigung zu erklären, § 138 Abs. 1, Abs. 2 ZPO. Legt der Arbeitnehmer sodann dar, dass er sich nach der Kündigung bei der Agentur für Arbeit arbeitsuchend gemeldet hat und deren Vermittlungsangeboten sachgerecht nachgegangen ist, wird ihm regelmäßig keine vorsätzliche Untätigkeit vorzuwerfen sein.
Abstufung der Darlegungs- und Beweislast
Sofern ein Arbeitnehmer zwar der in § 38 Abs. 1 SGB III geregelten Meldepflicht nachkommt, aber zugleich durch sein Verhalten veranlasst, dass ihm die Agentur für Arbeit tatsächlich keine Vermittlungsvorschläge unterbreitet, kann eine Abstufung der Darlegungs- und Beweislast erforderlich sein. Ist der Arbeitgeber also in der Lage während der Zeit des Annahmeverzugs bestehende und zu besetzende, zumutbare Stellen zu benennen, trägt der Arbeitnehmer unter dem Gesichtspunkt der Bedingungsvereitelung (§ 162 BGB) im Weiteren die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass eine Bewerbung auf eine solche Stelle erfolglos gewesen wäre. Stellt das Gericht sodann fest, dass eine Bewerbung tatsächlich erfolgreich gewesen wäre, kann bezüglich des Beginns der Beschäftigung sowie der Höhe des Verdienstes eine Schätzung i.S.v. § 287 Abs. 2 ZPO in Betracht kommen.
Entscheidung des LAG Baden-Württemberg ist fehlerhaft
Das LAG Baden-Württemberg hat den gegebenen Sachverhalt nach Auffassung des BAG vor dem Hintergrund der vorstehend benannten Voraussetzungen unzutreffend gewürdigt. Es hat vor allem nicht ausreichend berücksichtigt, dass der Kläger durch seine Äußerungen gegenüber der Agentur für Arbeit die Ursache dafür gesetzt hat, dass ihm von dieser über ein Jahr lang (von Ende 2017 bis Januar 2019) keine Vermittlungsvorschläge unterbreitet wurden. Ebenso hat das LAG Baden-Württemberg nicht gewürdigt, dass der Kläger durch Ankündigung gegenüber potentiellen Arbeitgebern, dass er in sein altes Arbeitsverhältnis zurückkehren wolle, von vornherein verhindern wollte und konnte, dass seine Bewerbung berücksichtigt werde. Eine arbeitslose Person hat bei Abfassung einer Bewerbung insofern alle Bestrebungen zu unterlassen, die der Aufnahme eines Arbeitsverhältnisses nach außen hin erkennbar entgegenlaufen und den potentiellen Arbeitgeber veranlassen, ihm schon vor einer persönlichen Vorstellung eine Absage zu erteilen. Dass die Kündigung der Beklagten letztlich unwirksam war, kann nicht entlastend bewertet werden. Denn eine Anrechnung nach § 11 Nr. 2 KSchG setzt immer eine unwirksame Arbeitgeberkündigung voraus.
Anforderungen an Überprüfung des böswilligen Unterlassens
Das LAG Baden-Württemberg wird prüfen müssen, ob der Kläger mit seinem Verhalten tatsächlich Vermittlungsbemühungen verhindert hat. Als Indiz hierfür könne sprechen, dass sobald der Kläger sich um eine Beschäftigung gekümmert habe, er sie recht kurzfristig auch hat aufnehmen können. Wenn ein böswilliges Unterlassen bejaht werden sollte, kann das LAG Baden-Württemberg im Wege einer Schätzung feststellen, in welcher Höhe und ab wann der Kläger einen anrechenbaren Verdienst hätte erzielen können. Diesbezüglich muss die Beklagte (ggf. unter Einholung einer amtlichen Auskunft der Agentur für Arbeit) einzelne zumutbare Tätigkeitsmöglichkeiten vortragen.
III. Der Praxistipp
Möglichkeiten des Arbeitgebers
Es handelt sich hierbei nicht um die erste Entscheidung des BAG zu den Anforderungen an das böswillige Unterlassen gem. § 11 Abs. 2 KSchG. Im Rahmen der Entscheidung v. 12.10.2022 – 5 AZR 30/22 hat das BAG bereits Anforderungen an das böswillige Unterlassen festgelegt. Die nunmehr vom BAG festgesetzten Anforderungen an die Feststellung eines böswilligen Unterlassens anderweitigen Verdienstes durch den Arbeitnehmer geben dem Arbeitgeber im Rahmen eines laufenden Kündigungsschutzverfahrens sowie im Nachgang im Annahmeverzugslohnprozess hilfreiche Handlungsalternativen an die Hand:
1. Während des Kündigungsschutzverfahrens sollte der Arbeitgeber eigeninitiativ geeignete Stellenangebote über das streitbare Beendigungsdatum hinaus heraussuchen und dem Arbeitnehmer zuschicken, um hierdurch das Annahmeverzugslohnrisiko zu minimieren. Hierbei ist es empfehlenswert, solche Stellenangebote rauszusuchen, die auf das Profil des Arbeitnehmers passen. Insbesondere sind hierbei die Qualifikation und Berufserfahrung des Arbeitnehmers zu berücksichtigen. Schließlich ist auch darauf zu achten, dass die potentielle Arbeitsstelle für den Arbeitnehmer gut erreichbar ist.
2. Zudem sollte der Arbeitgeber auch den Arbeitnehmer in diesem Zuge auffordern, bereits eigene Bewerbungsbemühungen vorzutragen und übermittelte Vermittlungsvorschläge der Agentur für Arbeit offenzulegen.
Im Rahmen des Annahmeverzugslohnprozesses hilft dem Arbeitgeber ggf. die amtliche Auskunft bei der Agentur für Arbeit, seiner Darlegungs- und Beweislast zu genügen. Im Übrigen trifft den Arbeitnehmer die sekundäre Darlegungs- und Beweislast.
Dokumentation
Die vorstehend genannten Praxistipps helfen dem Arbeitgeber nur, wenn die eigeninitiativ herausgesuchten Stellenangebote und die hiernach folgende Kommunikation mit dem Arbeitnehmer gut dokumentiert wurde. Somit sollte bereits von Beginn an darauf geachtet werden, dass in regelmäßigen Abständen – bspw. drei Monaten – Stellenangebote übersandt werden und die Kommunikation hierzu abgespeichert wird.
Bella Silberstein, Rechtsanwältin, Düsseldorf, silberstein@michelspmks.de