Der Kläger war seit 1981 bei der sog. „G-GmbH“ tätig. Beklagter des Ausgangsverfahren war der für die G-GmbH bestellte Insolvenzverwalter. Nach der im eröffneten Insolvenzverfahren getroffenen Entscheidung über die Einstellung des Geschäftsbetriebs der G-GmbH unterrichtete der Insolvenzverwalter den Betriebsrat der G-GmbH am 17.1.2020 über die Stilllegungsabsicht und konsultierte ihn zeitgleich gemäß § 17 Abs. 2 KSchG über die geplante Massenentlassung. In dem am 22.1.2020 von den Betriebsparteien unterzeichneten Interessenausgleich erklärte der Betriebsrat mit abschließender Stellungnahme, dass er keine Möglichkeit sehe, die beabsichtigten Kündigungen zu vermeiden. Ohne der Arbeitsagentur zuvor eine Abschrift der Mitteilung an den Betriebsrat nach § 17 Abs. 2 KSchG zugeleitet zu haben, zeigte der Insolvenzverwalter die beabsichtigte Massenentlassung der betroffenen 153 Arbeitnehmer der Insolvenzschuldnerin am 23.1.2020 an und kündigte im Nachgang das mit dem Kläger bestehende Arbeitsverhältnis.
Gegen die dem Kläger am 28.1.2020 zugegangene Kündigung erhob dieser Kündigungsschutzklage vor dem Arbeitsgericht Osnabrück. Zur Begründung seiner Klage stützte sich der Kläger unter anderem insbesondere auf die fehlende Abschrift der Mitteilung an den Betriebsrat gemäß § 17 Abs. 2 KSchG. Die ihm ausgesprochene Kündigung sei aufgrund dessen unwirksam.
Das ArbG Osnabrück (Urt. v. 16.6.2020 – 1 Ca 79/20) und das LAG Niedersachsen (Urt. v. 24.2.2021 – 17 Sa 890/20) haben die Klage ab- bzw. die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit der vom LAG Niedersachsen zugelassenen Revision verfolgte der Kläger die Feststellung des Fortbestandes seines Arbeitsverhältnisses weiter.
Fehler im Anzeigeverfahren nach § 17 KSchG führen nach ständiger Rechtsprechung des BAG regelmäßig zur Unwirksamkeit der Massenentlassungsanzeige und damit zur Nichtigkeit der Kündigung, § 134 BGB. Dies gilt sowohl für fehlende „Muss-Angaben“ des § 17 Abs. 3 Satz 4 KSchG (vgl. BAG, 13.2.2020 – 6 AZR 146/19; BAG, 28.6.2012 – 6 AZR 780/10) als auch bei Anzeigen, die bei einer unzuständigen Agentur für Arbeit erstattet werden (vgl. BAG, 13.2.2020 – 6 AZR 146/19) als auch für den Fall, dass der Arbeitgeber der Anzeige die Stellungnahme des Betriebsrats zu den Entlassungen nicht beigefügt hat bzw. die Glaubhaftmachung über die Unterrichtung des Betriebsrats und den Stand der Beratungen fehlerhaft ist (vgl. BAG, 14.5.2020 – 6 AZR 235/19; BAG, 13.2.2020 – 6 AZR 146/19). Auch eine fehlende oder nicht ordnungsgemäß durchgeführte Konsultation nach § 17 Abs. 2 KSchG führt nach der Rechtsprechung zur Nichtigkeit der Kündigung nach § 134 BGB (vgl. BAG, 22.9.2016 – 2 AZR 276/16; 21.3.2013 – 2 AZR 60/12).
Ob auch der Verstoß gegen die Verpflichtung aus § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG, der Agentur für Arbeit eine Abschrift der Mitteilung an den Betriebsrat zuzuleiten, ebenfalls zur Nichtigkeit der Kündigung führt, war vom BAG noch nicht entschieden worden. Um entscheiden zu können, ob diese Verpflichtung als Verbotsgesetz i.S.d. § 134 BGB anzusehen ist, war es nach Auffassung des BAG mangels einer ausdrücklichen Verbotsanordnung sowohl in den nationalen Vorschriften als auch in der Massenentlassungsrichtlinie (RL 98/59 EG – MERL) erforderlich, den Schutzzweck des § 17 Abs. 1 KSchG zu ermitteln, weshalb der 6. Senat dem EuGH im Wege des Vorabentscheidungsersuchens nach Art. 267 AEUV die folgende Frage vorlegte (Vorlage-beschl. v. 27.1.2022 – 6 AZR 155/21 (A)):
„Welchem Zweck dient Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der Richtlinie 98/59, wonach der Arbeitgeber der zuständigen Behörde eine Abschrift zumindest der in Unterabs. 1 Buchst. b Ziff. i bis v genannten Bestandteile der schriftlichen Mitteilung an die Arbeitnehmervertretung zu übermitteln hat?“
Der EuGH beantwortete die Vorlagefrage dahingehend, dass Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 MERL dahin auszulegen ist, dass die Verpflichtung des Arbeitgebers, der zuständigen Behörde eine Abschrift zumindest der in ihrem Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. b Ziff. i bis v genannten Bestandteile der schriftlichen Mitteilung zu übermitteln, nicht den Zweck hat, den von Massenentlassungen betroffenen Arbeitnehmern Individualschutz zu gewähren.
Der Zweck des Art. 2 Abs. 3 MERL könne seinem Wortlaut nicht entnommen werden. Nach der systematischen Stellung der Vorschrift im Teil II („Information und Konsultation“) müsse die Übermittlung der Informationen in einem Stadium erfolgen, in dem das Verfahren zur Konsultation der Arbeitnehmervertreter erst beginne. Die Auskünfte, die der Arbeitgeber den Arbeitnehmervertretern zu erteilen habe, unterlägen daher im Lauf der Zeit einer Entwicklung und könnten sich ändern, damit die Arbeitnehmervertreter in die Lage versetzt werden, konstruktive Vorschläge zu unterbreiten. Daher diene die in Art. 2 Abs. 3 MERL vorgesehene Übermittlung von Informationen an die zuständige Behörde nur zu Informations- und Vorbereitungszwecken, damit sie ggf. ihre Befugnisse aus Art. 4 der Richtlinie wirksam ausüben könne. Der Zweck der Verpflichtung, Informationen an die zuständige Behörde zu übermitteln, liege deshalb darin, es ihr zu ermöglichen, die negativen Folgen beabsichtigter Massenentlassungen so weit wie möglich abschätzen zu können. Die Behörde solle sich dadurch einen Überblick verschaffen können, dürfte jedoch keineswegs auf die Endgültigkeit der erstmals übermittelten Informationen vertrauen. Ein Individualschutz der von der Massenentlassung betroffenen Mitarbeiter sei daher nicht Zweck der Verpflichtung zur Übermittlung von Auskünften an die Behörde.
Die bereits im Vorlagebeschluss des BAG vorsichtig formulierte und nun vom EuGH bestätigte Rechtsauffassung, dass ein Verstoß gegen Art. 2 Abs. 3 UAbs. 2 MERL bzw. § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG nicht zur Nichtigkeit der den von der Massenentlassung betroffenen Mitarbeitern ausgesprochenen Kündigungen führt, bringt ein Stück Erleichterung für die Rechtspraxis. Nach den Entscheidungen des BAG zur Unbeachtlichkeit einer fehlerhaften Angabe des Lebensalters einer Arbeitnehmerin in der Massenentlassungsanzeige (Urt. v. 11.5.2023 – 6 AZR 267/22) und der Unbeachtlichkeit eines Verstoßes nach § 17 Abs. 3 S. 6 KSchG (Urt. v. 19.5.2022 – 2 AZR 467/21) macht sich auf Seiten der Arbeitgeber ein Hauch von Entspannung breit.
Dennoch bleiben das Verfahren und die Erstattung einer Massenentlassungsanzeige ein Minenfeld für den Rechtsanwender. Die Nichtigkeit der einem von Massenentlassung betroffenen Arbeitnehmer ausgesprochenen Kündigung bei einem Verstoß gegen die Vorgaben der MERL bzw. gegen § 17 KSchG bleibt die Regel. Auf eine exakte Einhaltung des Verfahrens zur Erstattung einer Massenentlassungsanzeige sollte daher weiterhin uneingeschränkt Wert gelegt werden.
Peter Hützen, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Düsseldorf, huetzen@michelspmks.de
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