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EuGH: Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern und tarifliche Abweichung

Lässt ein Tarifvertrag Ungleichbehandlungen von Leiharbeitnehmern in Bezug auf die wesentlichen Arbeitsbedingungen zu, muss dieser Tarifvertrag, um den Gesamtschutz der betroffenen Leiharbeitnehmer zu achten, ihnen Vorteile in Bezug auf wesentliche Arbeitsbedingungen gewähren, die geeignet sind, ihre Ungleichbehandlung auszugleichen.

[Redaktionelle Leitsätze]

EuGH, Urt. v. 15.12.2022C-311/21

I. Der Fall

Abweichung vom Equal Pay-Prinzip

Die Klägerin des Ausgangsverfahrens war als Leiharbeitnehmerin im Auslieferungslager eines Einzelhandelsunternehmens als Kommissioniererin tätig. Der Arbeitsvertrag war befristet und verwies auf die Tarifverträge der Zeitarbeitsbranche. Der Stundenlohn betrug 9,23 EUR brutto. Vergleichbare Stammarbeitskräfte erhielten im Streitzeitraum einen Stundenlohn von 13,64 EUR brutto. Die Klägerin verlangt den Differenzbetrag. Sie ist der Auffassung, dass die in § 8 Abs. 2 vorgesehene Möglichkeit, vom Equal Pay-Prinzip abzuweichen, sowie der auf dieser Grundlage auf ihr Arbeitsverhältnis anwendbare Tarifvertrag mit Art. 5 der Richtlinie 2008/104/EG nicht vereinbar sei.

Vorlage an den EuGH

Das BAG setzte das Verfahren aus und ersuchte den EuGH gemäß Art. 267 AEUV um Vorabentscheidung u.a. über die Frage, welche Anforderungen an eine Abweichung vom Equal Pay-Prinzip durch einen Tarifvertrag gemäß Art. 5 der Richtlinie zu stellen sei. Insbesondere bat das BAG um Beantwortung der Frage, wie der von Art. 5 Abs. 3 zu beachtende Gesamtschutz der Leiharbeitnehmer bei Abweichungen vom Equal Pay-Prinzip gewährleistet werden kann.

Leiharbeitrichtlinie

Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2008/104/EG sieht vor, dass Abweichungen vom Equal Pay-Prinzip bei Leiharbeitnehmern in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis zulässig sind. Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie regelt darüber hinaus, dass die Mitgliedsstaaten den Sozialpartnern die Möglichkeiten einräumen können, Tarifverträge zu schließen, die „unter Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern“ Regelungen enthalten können, welche vom in Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie geregelten Equal Pay-/Equal Treatment-Prinzip abweichen.

II. Die Entscheidung

Gewährleistung des „Gesamtschutzes“

Der EuGH beantwortet die vom BAG vorgelegten Fragen wie folgt: Grundsätzlich müssten die Mitgliedstaaten für Leiharbeitnehmer kein besonderes Schutzniveau gewährleisten, welches über das allgemeine Schutzniveau hinausgehe, welches das nationale Arbeitsrecht biete. Würden die Sozialpartner jedoch in einem Tarifvertrag Ungleichbehandlungen bezüglich der wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen zum Nachteil von Leiharbeitnehmern zulassen, so müsste dieser Tarifvertrag, um den Gesamtschutz der betroffenen Leiharbeitnehmer zu achten, ihnen Vorteile in Bezug auf wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen gewähren, die geeignet seien, diese Ungleichbehandlung auszugleichen. Nach dieser Maßgabe dürfte auch bei Leiharbeitnehmer in befristeten Arbeitsverhältnissen vom Equal Pay-Prinzip abgewichen werden.

Anforderungen an die Kompensation

Die Frage, ob eine geeignete Kompensation erfolgt ist, sei nicht abstrakt, sondern konkret auf den fraglichen Einsatz des Leiharbeitnehmers zu bestimmen. Die Vorteile müssten sich auf die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen im Sinne der Richtlinie beziehen, also auf die Dauer der Arbeitszeit, Überstunden, Pausen, Ruhezeiten, Nachtarbeit, Urlaub, arbeitsfreie Tage und Arbeitsentgelt. Die Voraussetzungen und Kriterien für diese Kompensationen müssten nicht vom Gesetzgeber selbst vorgesehen werden, sie müssten sich vielmehr aus dem Tarifvertrag ergeben. Allerdings müssten diese Tarifverträge einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle unterliegen, um zu überprüfen, ob die Sozialpartner ihrer Pflicht zur Achtung des Gesamtschutzes hinreichend nachgekommen seien.

III. Der Praxistipp

keine Auswirkungen für unbefristet beschäftigte Leiharbeitnehmer

Die Besonderheit des Ausgangsfalls bestand darin, dass die betroffene Arbeitnehmerin aufgrund eines befristeten Vertrages für das Zeitarbeitsunternehmen tätig war. Während die Richtlinie in Art. 5 Abs. 2 ausdrücklich vorsieht, dass bezüglich des Arbeitsentgelts vom Equal Pay-Prinzip abgewichen werden darf, wenn der Leiharbeitnehmer aufgrund eines unbefristeten Vertrages mit dem Leiharbeitsunternehmen tätig ist und auch in der Zeit zwischen den Überlassungen bezahlt wird, erlaubt Art. 5 Abs. 3 derartige Abweichungen nur unter Achtung des „Gesamtschutzes“. Wenn der EuGH jedoch auch bei befristet angestellten Leiharbeitnehmern es unter Beachtung des Gesamtschutzes für zulässig hält, dass Tarifverträge vom Equal Pay-Prinzip abweichen, gilt dies erst recht für unbefristet angestellte Leiharbeitnehmer. Für diese dürfte die ausreichende Kompensation schon darin bestehen, dass sie auch zwischen zwei Einsätzen vergütet werden.

Rechtsunsicherheit bei befristeten Arbeitsverhältnissen

Für befristet angestellte Leiharbeitnehmer besteht eine gewisse Rechtsunsicherheit, da im Einzelfall zu prüfen ist, ob eine ausreichende Kompensation vorliegt. Dies dürfte tendenziell zu bejahen sein, wenn trotz der Befristung der Leiharbeitnehmer auch verleihfreie Zeiten hat, in denen er ohne Arbeitsleistung vergütet wird.

Zweckbefristung auf Einsatz?

Rechtlich wohl nicht mehr zulässig dürfte es jedoch sein, bei einem Leiharbeitnehmer, der zweckbefristet für einen bestimmten Einsatz eingestellt wird, vom Equal Pay-Prinzip abzuweichen. Anders als in anderen Ländern (z.B. Frankreich) ist dieses Modell in Deutschland jedoch nicht weit verbreitet.

Ulrich Kortmann, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Köln, kortmann@michelspmks.de

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