Das Jahr 2021 neigt sich dem Ende. Viele werden sagen: Zum Glück! Denn die Corona-Pandemie hat uns weiter fest im Griff. Denn Blick nach vorne gerichtet hat hingegen bereits die neue Koalition. Sie hat am 24. November 2021 ihren Koalitionsvertrag unter dem Titel „Mehr Fortschritt wagen“ präsentiert. Dieser enthält eine Vielzahl am politischen Vorhaben, die Einfluss auf die Arbeitswelt haben können – wenn sie denn tatsächlich so umgesetzt werden. An Ideen ermangelt es der neuen Koalition jedenfalls nicht. Wir wagen einen Blick in die arbeitsrechtliche Glaskugel auf die Top-10 Themen des Koalitionsvertrages:
I.Arbeitszeit
„NewWork“ leben, mit „OldLaw“ arbeiten und durch „CaseLaw“ geprägt. So lässt sich die aktuelle Diskussion um die Flexibilisierung der Arbeitszeit zusammenfassen. Nicht erst seitdem Beschäftigte pandemiebedingt in den letzten zwei Jahren zunehmend von zu Hause aus arbeiten, stellt sich die Frage, ob das Arbeitszeitgesetz (ArbZG) die neue Arbeitswirklichkeit noch abbildet: Abends, wenn die Kinder im Bett sind nochmals schnell den Laptop aufklappen? Sonntags in Ruhe die Präsentation für Montag vorbereiten? Dies ist im betrieblichen Alltag längst etabliert – steht leider aber nicht im Einklang mit dem ArbZG. Es mehren sich daher seit Jahren die Forderungen von Arbeitgebern und deren Verbänden nach einer Flexibilisierung des ArbZG. Die Europäische Arbeitszeitrichtlinie sieht Flexibilisierungsmöglichkeiten insbesondere im Hinblick auf die Verteilung der täglichen Arbeitszeit vor und würde damit auch eine Anpassung des ArbZG ermöglichen. Insbesondere die Gewerkschaften pochen hingegen auf eine strikte Einhaltung des derzeitigen ArbZG und der Umsetzung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs aus dem Jahr 2019 zur Erfassung der Arbeitszeit (EuGH, Urt. v. 14.05.2019, C-55/18).
Dass dieser Spagat auch in der kommenden Legislaturperiode nicht gelingen wird, zeigt ein Blick in den Koalitionsvertrag: Am 8-Stunden-Tag im ArbZG soll auch weiterhin festgehalten werden. Von der durch die EU-Arbeitszeitrichtlinie möglichen Umstellung auf eine Wochenarbeitszeit wird kein Gebrauch gemacht werden. Stattdessen sollen den Tarifvertragsparteien Experimentierräume zugestanden werden, die zeitlich begrenzte Möglichkeiten zur Abweichung von den derzeit bestehenden Regelungen des ArbZG hinsichtlich der Tageshöchstarbeitszeit vorsehen können. Den Betriebsparteien soll dies ebenfalls durch Betriebsvereinbarung ermöglicht werden, wenn die Tarifvertragsparteien dies zulassen. Damit werden im Ergebnis nur sehr wenige Unternehmen in den Genuss dieser Experimentiermöglichkeiten kommen. Tarifungebundene und betriebsratslose Unternehmen fallen gänzlich durch dieses Raster und müssen sich mit Lösungen unter Anwendung des sperrigen ArbZG begnügen.
Im Hinblick auf die Umsetzung der bereits angesprochenen Entscheidung des EuGH spricht der Koalitionsvertrag nur von einer Prüfung im Dialog mit den Sozialpartnern. Wahrscheinlicher ist, dass das Bundesarbeitsgericht den Gesetzgeber im kommenden Jahr mit zwei zur Revision zugelassenen Entscheidungen im Kielwasser der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Arbeitszeiterfassung überholen wird: Zum einen steht die Revision gegen die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen (Urt. v. 6.5.2021 – 5 Sa 1292/20) an, in der es um die Frage geht, ob das Urteil des EuGH Auswirkungen auf die Darlegungs- und Beweislast in einem Überstundenprozess hat. Während es in dieser Entscheidung also um die individualrechtlichen Auswirkungen des EuGH Urteils geht, wird das Bundesarbeitsgericht in der Revision über den Beschluss des LAG Hamm (Beschl. v. 27.7.2021 – 7 TaBV 79/20) über die dem Kollektivarbeitsrecht zuzuordnende Frage zu entscheiden haben, ob der Betriebsrat von dem Arbeitgeber über sein Initiativrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG die Einführung und Anwendung einer elektronischen Arbeitszeiterfassung verlangen kann. Würde das Bundesarbeitsgericht die Entscheidung des LAG Hamm bestätigen, stünde ein echter Paradigmenwechsel in der betrieblichen Mitbestimmung mit weitreichenden Folgen an. Aus dem Zusammenspiel dieser beiden Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts wird sich zudem möglicherweise die in dem Koalitionsvertrag aufgeworfene Folgefrage des Umgangs mit flexiblen Arbeitszeitmodellen (insb. Vertrauensarbeitszeit) bereits ohne Zutun des Gesetzgebers beantworten.
II.Ortsungebundene Arbeitsmodelle
Jedenfalls im „White Collar“ Bereich wird seit Beginn der Corona-Pandemie umfassend von der Möglichkeit ortsungebundenen Arbeitens Gebrauch gemacht – und durch die Corona-Arbeitsschutzverordnung von den Arbeitgebern sogar eingefordert. Diese ortsungebundenen Arbeitsmodelle bereiten in der betrieblichen Praxis daher ganz überwiegend keine Probleme mehr, so dass die diesbezüglichen geplanten Änderungen in dem Koalitionsvertrag eher kosmetischer Natur sind. In Ergänzung zu dem bereits durch das Betriebsrätemodernisierungsgesetz neu eingeführten § 87 Abs. 1 Nr. 14 BetrVG soll zukünftig die Tätigkeit im Home-Office als eine Möglichkeit der mobilen Arbeit von der Telearbeit im Geltungsbereich der Arbeitsstättenschutzverordnung abgegrenzt werden. Dies ist insbesondere für die Einhaltung des Arbeitsschutzes und auch des Unfallversicherungsschutzes von Relevanz. Lücken im Versicherungsschutz mobiler Arbeit wurden durch die Neufassung des § 8 Abs. 2 SGB VII bereits weitestgehend geschlossen. Und zum Glück für alle „Home-Office-Langschläfer“ hat jüngst das BSG entschieden, dass auch der erstmalige Weg vom Bett ins Home-Office versichert ist (BSG, Urt. v. 8.12.2021, B 2 U 4/21 R).
Einen Anspruch auf Home-Office oder mobiles Arbeiten wird es auch zukünftig nicht geben. Stattdessen ist ein Erörterungsanspruch der Arbeitnehmer geplant. Einem entsprechenden Wunsch eines Arbeitnehmers auf eine ortsungebundene Tätigkeit sollen Arbeitgeber nur widersprechen können, wenn deren Umsetzung betriebliche Belange entgegenstehen. Die Hürde für eine Ablehnung wird allerdings sehr niedrig angesetzt: Ausreichend soll es sein, dass die Ablehnung nicht sachfremd oder willkürlich ist.
Interessanter ist daher schon eher der Ansatz im Koalitionsvertrag, dass Arbeitnehmern zukünftig mobile Arbeit innerhalb der gesamten Europäischen Union ermöglicht werden soll. Die Umsetzung solcher „Work from everywhere“ Modelle oder noch sophistizierter hybrider Arbeits- und Urlaubsmodelle („Workation“) stellen Arbeitgeber derzeit vor komplexe Herausforderungen, insb. aus steuer- und sozialversicherungsrechtlicher Sicht. Hier wäre eine Erleichterung für Arbeitgeber und Arbeitnehmer tatsächlich wünschenswert.
Die größere Herausforderung für Arbeitgeber dürfte hingegen zukünftig nicht in der rechtlichen Umsetzung ortsungebundener Arbeitsmodelle, sondern darin bestehen, ein betriebliches Auseinanderdriften der „mobilen White Collar“ von den immobilen „Blue Collar“ Population zu verhindern. Denn nicht jeder Beschäftigte „am Band“ wird es gutheißen, wenn der ohnehin regelmäßig besser bezahlte Beschäftigte aus der Verwaltung zukünftig seinen Laptop am Strand von Mallorca zur Arbeit aufklappen kann. #NewWork4BlueCollar ist daher die eigentliche Herausforderung der Zukunft, die der Gesetzgeber aber nicht angeht. Hier sind kluge unternehmerische Lösungen gefordert.
III.Arbeits- und Gesundheitsschutz
Die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass nicht nur im Privat-, sondern auch im Berufsleben die Gesundheit das höchste Gut dargestellt. Durch die zunehmende Digitalisierung der Arbeitswelt stellen sich neue Herausforderungen, insbesondere im Bereich der psychischen Belastungen. Vor allem kleinere und mittlere Unternehmen sollen zukünftig bei der Prävention und Umsetzung des Arbeitsschutzes unterstützt und das betriebliche Eingliederungsmanagement gestärkt werden. Konkreter wird der Koalitionsvertrag an dieser Stelle allerdings nicht. Es ist daher zu erwarten, dass die Umsetzung des betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutzes auch weiterhin aus der Gefährdungsbeurteilung nach § 5 ArbSchG erfolgen wird. Das bereits jetzt durch Betriebsräte „neu entdeckte“ Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG dürfte sich daher ähnlich wie das nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG zum „Power-Mitbestimmungsrecht“ entwickeln.
IV.Weiterentwicklung der Mitbestimmung
So schlimme Verwerfungen die Corona-Pandemie hervorgerufen hat, so sehr war sie auch ein Treiber der dringend notwendigen Digitalisierung der Mitbestimmung. Über die während der Pandemie derzeit bis zum 19. März 2022 befristete Möglichkeit virtueller Betriebsratssitzungen (§ 129 BetrVG) wurde über das Betriebsrätemodernisierungsgesetz zwischenzeitlich die Betriebsratssitzung per Video- und Telefonkonferenz im Betriebsverfassungsgesetz fest verankert, § 30 Abs. 2 BetrVG. Sitzungen in Präsenz sollten aber weiterhin Vorrang haben. Die Möglichkeit der digitalen Betriebsratsarbeit soll nach den Plänen der Koalition nun weiterentwickelt und im Rahmen eines Pilotprojekts sogar Online-Betriebsratswahlen möglich werden. Dies wäre im Hinblick auf die zu Beginn des kommenden Jahres anstehenden turnusmäßigen Betriebsratswahlen mehr als wünschenswert, da diese voraussichtlich immer noch unter Kontaktbeschränkungen im Zeichen der Pandemie stehen werden. Ob es der Gesetzgeber aber in der Kürze schafft die erforderliche Anpassung des BetrVG und der Wahlordnung umzusetzen, ist fraglich.
Zudem will der Gesetzgeber den Gewerkschaften ein digitales Zugangsrecht zum Betrieb eröffnen. Er stärkt damit das Koalitionsrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG ganz erheblich. Völlig unklar hingegen ist, wie der Gesetzgeber den Gewerkschaften den digitalen Zugang zum Betrieb verschaffen will, ohne dabei in ernsthafte Friktionen mit dem Datenschutz und den Interessen der Gewerkschaft gegenüberstehenden Eigentumsinteressen des Arbeitgebers aus Art. 12 GG und seiner unternehmerischen Betätigungsfreiheit (Art. 14 GG) zu geraten. Ein digitales Zugangsrecht der Gewerkschaft kann von der Überlassung der dienstlichen E-Mail-Adressen der Beschäftigten bis hin zur Nutzung eigener digitaler Portale des Arbeitgebers gehen.
Im Bereich der Unternehmensmitbestimmung soll die Unternehmensmitbestimmung so angepasst werden, dass bei Umwandlungen in eine SE der Mitbestimmungszustand nicht mehr eingefroren werden kann. Bislang ist es so, dass eine SE grundsätzlich mitbestimmungsfrei ist und dies auch bleibt, wenn sie im Zeitpunkt ihrer Gründung mitbestimmungsfrei war. Mitbestimmungsfreie Unternehmen bleiben dies auch dann, wenn sie nach der SE-Gründung rechnerisch in die Mitbestimmung hineinwachsen (Vorher-Nachher Betrachtung). Der Anreiz für SE-Gründungen könnte damit zukünftig sinken. Dies gilt auch für Unternehmen nach dem DrittelbG, die durch die Umwandlung in eine SE die paritätische Mitbestimmung vermeiden konnten. Derzeit werden die Arbeitnehmer von Tochtergesellschaften der Konzernmutter nur dann zugerechnet, wenn zwischen der Tochter- und der Muttergesellschaft ein Beherrschungsvertrag besteht. Zur Vermeidung dieses Effekts soll zukünftig die Konzernzurechnung aus dem Mitbestimmungsgesetz auf das Drittelbeteiligungsgesetz übertragen werden, sofern faktisch eine echte Beherrschung vorliegt.
Last but least not soll die Behinderung der demokratischen Mitbestimmung künftig als Offizialdelikt eingestuft werden. Bisher wird eine Behinderung der Betriebsratstätigkeit nur auf Antrag der Arbeitnehmervertretungen oder einer im Betrieb vertretenen Gewerkschaft als Straftat verfolgt, § 119 Abs. 2 BetrVG. Dies soll sich ändern und eine Straftat auch von Amts wegen verfolgt werden können.
V.Plattformökonomie
Einer der großen Gewinner der Corona-Krise und der sich immer schneller entwickelnden Digitalisierung der Arbeitswelt ist die Plattformökonomie, insbesondere das „digitales Essen auf Rädern“ oder Fahrdienste, wie beispielsweise Gorillas, Uber oder Lieferando. Die dahinter stehenden Geschäftsmodelle haben in der jüngeren Vergangenheit bereits immer wieder einmal die Rechtsprechung beschäftigt. Hierbai ging es u.a. um die Frage, welche Arbeitnehmerschutzrechte den über diese Plattform Beschäftigten (Crowdworker, Gigworker o.ä.) zukommen. Das Bundesarbeitsgericht hat hier bereits Leitplanken gezogen, u.a. für die Bestimmung des Arbeitnehmerstatus von Crowdworkern (BAG, Urt. v. 1.12.2020 – 9 AZR 102/20) sowie der Frage, ob Fahrradkuriere auf eigene Kosten zur Ausübung der Tätigkeit erforderliche Betriebsmittel wie Fahrrad und Handy einsetzen müssen (BAG, Urt. v. 10.11.2021 – 5 AZR 334/21). Zur Regelung dieser Fragen hat das BMAS bereits im letzten Jahr ein Eckpunktepapier zur „Gestaltung Fairer Arbeit in der Plattformökonomie“ erstellt, das in der kommenden Legislaturperiode nun möglicherweise umgesetzt wird. Denn auch die Europäische Kommission nimmt die Plattformökonomie ins Visier und hat am 9.12.2021 einen Richtlinienvorschlag zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Plattformarbeit veröffentlicht.
VI.Stärkung der Tarifautonomie
Wie von einer SPD geführten Koalition zu erwarten war, strebt die Koalition eine Stärkung der Tarifautonomie an. Tariftreue- und Vergabegesetze, gibt es bereits in fast allen Bundesländern. Sie haben das Ziel, bei der Vergabe öffentlicher Aufträge auch vergabefremde Kriterien wie beispielsweise die Einhaltung eines Mindestlohns bei der Auftragsvergabe zu berücksichtigen. Diese landesspezifischen Tariftreuegesetze sollen zukünftig entsprechend auch für öffentliche Aufträge des Bundes gelten. Solche Aufträge sollen nur noch an Unternehmen vergeben werden, die an die Einhaltung eines repräsentativen Tarifvertrages der jeweiligen Branche gebunden sind. Betroffen dürften damit insbesondere solche Branchen sein, die tarifliche Mindestlöhne nach dem AEntG vorschrieben.
Ein weiterer interessanter Aspekt der geplanten Stärkung der Tarifautonomie stellt die geplante Verhinderung einer Tarifflucht durch gestaltende Restrukturierungen dar. Eine Tarifflucht soll durch Betriebsausgliederung bei gleichzeitiger Identität des bisherigen Eigentümers verhindert werden, indem die Fortgeltung des Tarifvertrags sichergestellt wird. Das wäre wirklich neu – wird im Koalitionsvertrag aber nicht näher erläutert, wie das funktionieren soll. Zudem sollen auch hier den Tarifvertragsparteien Experimentierräume zur weiteren Stärkung der Tarifautonomie eingeräumt werden.
VII.Erhöhung des Mindestlohns
Dort, wo nicht bereits Tarifverträge einen Mindestlohn sicherstellen, soll dieser von derzeit 9,60 EUR auf 12 EUR pro Stunde angehoben werden. Weitere Erhöhungsschritte sollen von einer neu einzusetzenden unabhängigen Mindestlohnkommission festgelegt werden. Diese geplante Erhöhung zeigt sich bereits jetzt in Verhandlungen zu Verbands- und Haustarifverträgen, die die zu erwartende Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns als Ausgangswert des Ecklohns bei Entgelttarifverträgen berücksichtigen. Arbeitgeber sollten diese Anpassung im Blick behalten.
VIII.Geringfüge Beschäftigte und Abrufarbeit
Konsequenterweise wird die Minijob-Grenze nach Anhebung des Mindestlohns zukünftig monatlich 520 EUR betragen, ausgehend von einer 10-Stunden-Woche. Dies bedeutet, dass bei einem Mindestlohn von 12 EUR zukünftig 43,3 Stunden Arbeitszeit pro Monat vereinbart werden dürfen. Die Einhaltung der für geringfügig Beschäftigte geltenden arbeitsrechtlichen Bestimmungen sollen verstärkt kontrolliert werden. Dies dürfte insbesondere die bereits jetzt verpflichtende Erfassung der Arbeitszeit Geringfügig Beschäftigter betreffen, § 17 MiLoG.
Im Fokus der Koalition steht zudem die Arbeit auf Abruf. Diese ermöglicht Arbeitgebern weitreichende Flexibilisierungsmöglichkeiten, insbesondere in Kombination mit geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen. Arbeitgeber sollten insbesondere Abrufarbeitsverhältnisse mit geringfügig Beschäftigten nach § 12 TzBfG anpassen, um hier u.a. nicht in die Falle der Phantomsozialversicherung zu tappen.
Eine wichtige Änderung ist zudem für den Bezug von Kurzarbeitergeld von geringfügig Beschäftigten geplant. Die Koalition beabsichtigt eine während der Corona-Pandemie offen zu Tage getretene Schutzlücke der besonders Schutzbedürftigen aber nicht abgesicherten Geringfügig Beschäftigten zu schließen. Denn im Falle einer Betriebsschließung aufgrund eines staatlich verfügten allgemeinen Lockdown kommt der Arbeitgeber nicht Annahmeverzug und trägt daher kein Risiko des Arbeitsausfalls. Dies hatte das Bundesarbeitsgericht zuletzt in seiner Entscheidung vom 13.10.2021 (5 AZR 211/21) bemängelt und ausgeführt: „Es ist Sache des Staates, gegebenenfalls für einen adäquaten Ausgleich der den Beschäftigten durch den hoheitlichen Eingriff entstehenden finanziellen Nachteile – wie es zum Teil mit dem erleichterten Zugang zum Kurzarbeitergeld erfolgt ist – zu sorgen.“
IX.Befristungen
Eine Reform Befristungsrecht steht seit Längerem in den Startlöchern. Bereits die letzte große Koalition hatte sich eine Reform auf die Fahnen geschrieben, die unter anderem eine Beschränkung der Möglichkeit der sachgrundlosen Befristung durch Festlegung einer Höchstdauer von 18 Monaten bei nur noch einmaliger Verlängerungsmöglichkeit und einer Höchstquote von 2,5 % für Arbeitgeber mit mehr als 75 Beschäftigten vorsah. Zudem sollte eine Befristung nicht zulässig sein, wenn zuvor ein unbefristetes oder ein oder mehrere befristete Arbeitsverhältnisse mit einer Gesamtdauer von fünf oder mehr Jahren bestanden haben. Von diesen weitreichenden Reformvorhaben scheint nur noch ein Reförmchen überzubleiben – die zunächst nur den öffentlichen Dienst trifft. Der Koalitionsvertrag sieht dort die Abschaffung von Haushaltsbefristungen vor.
Zudem sollen Kettenbefristungen mit Sachgrund außer in besonderen Einzelfällen auf sechs Jahre beim selben Arbeitgeber begrenzt werden.
X.Arbeitnehmerüberlassung
Im Bereich der Arbeitnehmerüberlassung sind grundsätzlich keine Änderungen geplant. Die neue Koalition erkennt Arbeitnehmerüberlassung und auch Werkverträge auch zukünftig als notwendiges Instrument zur Flexibilisierung an. Anpassungen des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes können sich aber durch zu erwartende Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs ergeben.
Dies betrifft zum einen die Frage der zulässigen Höchstdauer der Überlassung. Seit dem Jahr 2017 ist die Dauer der vorübergehenden Überlassung im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) auf 18 Monate begrenzt. Tarifvertraglich kann eine längere Überlassungsdauer vereinbart werden. Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg hat dem Europäischen Gerichtshof am 13.5.2020 (15 Sa 1991/19) die Frage vorgelegt, wann die Überlassung eines Leiharbeitnehmers an ein Unternehmen noch als „vorübergehend“ im Sinne der EU-Leiharbeitsrichtlinie anzusehen ist. Insbesondere bittet das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg den EuGH um Beantwortung der Frage, ob eine Überlassung schon dann nicht mehr „vorübergehend“ ist, wenn die Beschäftigung auf einem dauerhaft vorhandenen Arbeitsplatz erfolgt und dieser nicht vertretungsweise besetzt wird. Der Generalanwalt am EuGH Tanchev hat am 9.9.2021 (C-232/20) in seinen Schlussanträgen geäußert, dass der Begriff „vorübergehend“ das Arbeitsverhältnis, nicht hingegen den Arbeitsplatz betreffe. Es sei daher nicht unionsrechtswidrig, wenn dauerhaft vorhandene Arbeitsplätze wie auch nicht vertretungsweise besetzte Arbeitsplätze mit Leiharbeitnehmern besetzt werden. Allerdings, so der Generalanwalt, könne sich aus der tatsächlichen Überlassungspraxis eine rechtsmissbräuchliche Überlassung ergeben, wenn diese über das hinausgehe, was vernünftigerweise noch als „vorübergehend“ zu betrachten ist.
Zum anderen hat das Bundesarbeitsgericht an den EuGH ein Vorabentscheidungsersuch zur Klärung von Fragen im Zusammenhang mit der Abweichung vom Grundsatz der Gleichstellung von Leiharbeitnehmern mit vergleichbaren Stammarbeitnehmern des Entleiherbetriebs gerichtet (Beschl. v. 16.12.2020, 5 AZR 143/19). Hier geht es um die besonders praxisrelevante Frage, unter welchen Voraussetzungen die in § 8 Abs. 2, 4 AÜG vorgesehenen tariflichen Abweichungsmöglichkeiten vom Gleichstellungsgrundsatz („Equal Pay und Equal Treatment“) unionsrechtskonform sind.
Durch diese beiden Entscheidungen des EuGH können sich im Bereich der Arbeitnehmerüberlassung in der kommenden Legislaturperiode noch Änderungen ergeben, die bislang nicht im Koalitionsvertrag vorgesehen sind.
Dr.Sebastian Maiß, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Düsseldorf, maiss@michelspmks.de