Einsetzung, Besetzung und Arbeit der Reformkommission
Am 10.11.2023 beschlossen die Justizministerinnen und Justizminister des Bundes und der Länder auf dem Dritten Bund-Länder-Digitalgipfel, eine Reformkommission einzusetzen, die im Jahr 2024 Vorschläge für den Zivilprozess der Zukunft erarbeiten sollte. Es wurde entschieden, dass der E-Justice-Rat, dem die Amtschefinnen und Amtschefs der Justizverwaltungen des Bundes und der Länder angehören, im Juni 2024 Eckpunkte für die Arbeit der Reformkommission festlegt und die Reformkommission ihre Arbeit im Juli 2024 aufnimmt. Der E-Justice-Rat beauftragte die Bund-Länder-Arbeitsgruppe E-Justice mit der Vorbereitung der Erstellung eines Eckpunktepapiers.
Die Besetzung der Kommission erfolgte auf Vorschlag des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz und der Behörde für Justiz und Verbraucherschutz der Freien und Hansestadt Hamburg mit Zustimmung der übrigen Landesjustizverwaltungen und des Bundesministeriums der Justiz. In der Kommission waren zwei Vertreter des BMJ (Referatsleiterin ZPO und Referatsleiter Digitalisierung), Vertreter sämtlicher Landesjustizverwaltungen mit Ausnahme des Saarlandes (i.d.R. Referatsleiter des ZPO-Referats), ein Vertreter des E-Justice Rats, Herr Prof. Dr. Althammer und Frau Prof. Dr. Meller-Hannich als Vertreter der Wissenschaft, ein Vertreter des BGH, zwei Vertreter/innen der OLG-Präsidentinnen und Präsidenten, eine Vertreterin des Deutschen Richterbunds, zwei Vertreter/innen der Bundesrechtsanwaltskammer, zwei Vertreter/innen des Deutschen Anwaltvereins, eine Vertreterin des EDV-Gerichtstags und ein Vertreter des Legal Tech Verbands. Themenbezogen nahm auch je ein Vertreter der Deutschen Industrie- und Handelskammer und des Verbraucherzentrale Bundesverbands an den Diskussionen teil.
Im Rahmen der Auftaktsitzung der Reformkommission, die am 4./5.7.2024 in Berlin stattfand, wurde ein Leitbild eines Zivilprozesses der Zukunft entwickelt. Die ausweislich des Eckpunktepapiers durch die Reformkommission zu behandelnden Themen wurden zwischen den Mitgliedern der Reformkommission verteilt, die in Thesenpapieren den Status Quo zusammenfassten und Reformvorschläge machten. In der Zeit von Juli 2024 bis September 2024 wurden die Mitglieder der Reformkommission über besonders relevante Digitalisierungsprojekte informiert. In der ersten Arbeitssitzung am 23. und 24.9.2024 in Hamburg wurde die Hälfte der Thesenpapiere diskutiert. Dies hatte zur Folge, dass für ihre Ausarbeitung nur von Juli bis Anfang September Zeit war. Die andere Hälfte der Thesenpapiere wurde in der zweiten Arbeitssitzung am 17. und 18.10.2024 in München diskutiert. Auf dieser Basis wurde das Abschlusspapier mit Ausnahme von Einleitung und Leitbild verfasst, das im Rahmen der Abschlussberatung am 13.12.2024 diskutiert wurde. Ebenfalls wurde in dieser Sitzung das eingangs entwickelte Leitbild auf Basis der weiteren Arbeiten der Reformkommission ausgeschärft. In Leseberatungen am 2.12.2024, 4.12.2024 und am 15.1.2025 wurde die finale Fassung des Papiers abgestimmt.
Digitale Werkzeuge für den Zivilprozess
Die Überlegungen im Abschlusspapier sind in mehrere Vorschlagsgruppen gegliedert. Im vorliegenden Beitrag werden die Überlegungen zu „digitalen Werkzeugen für den Zivilprozess“ vorgestellt. In einem weiteren Beitrag folgen die Vorschläge zur Schaffung von „Rahmenbedingungen für eine effektive Ziviljustiz“, zur „Effektivierung des Erkenntnisverfahrens“, zur „Vereinfachung des Verfahrensrechts“, zum „Ausbau des Verfahrensangebots“ und zum „Modernisierungsbedarf außerhalb von ZPO und GVG“ sowie ein Gesamtfazit.
Digitale Werkzeuge und digitaler Zugang
Die Reformkommission spricht sich für einen Einsatz von Künstlicher Intelligenz im Zivilprozess aus. Eine automatisierte richterliche Entscheidung im Rahmen von Aufgaben, die gem. Art. 92 GG dem Richter übertragen sind, scheidet jedoch aus. Ein unterstützender Einsatz ist zulässig, sofern die richterliche Unabhängigkeit gewahrt wird und keine unzulässige Steuerung oder Lenkung der richterlichen Entscheidung erfolgt. Richterinnen und Richter müssen über die Gefahren von „Automation Bias“, einem zu großen Vertrauen in die Korrektheit der Ausgaben eines automatischen Systems, hinreichend aufgeklärt werden. Der Einsatz von digitalen Hilfsmitteln, z.B. von KI-Tools zur Analyse großer Datenmengen, kann durch den Gesetzgeber zugelassen werden. Für die Unterstützung der Arbeit der Rechtspflegerinnen und Rechtspfleger gilt das Vorstehende. Durch Gesetz wäre zudem theoretisch eine vollständige Automatisierung einzelner auf die Rechtspflegerinnen bzw. den Rechtspfleger übertragenen Geschäfte möglich. Die Reformkommission stellt fest, dass insbesondere die Tätigkeiten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Serviceeinheiten ein großes Automatisierungspotenzial haben, das aktuell noch nicht ausgeschöpft wird.
Die Reformkommission betont die Notwendigkeit standardisierter Identifizierungs- und Authentisierungsmittel, insbesondere einer bundesweiten Vernetzung der Postfach- und Identifizierungslösungen im Justiz und Verwaltungsbereich. Sie befürwortet ein abgestuftes Identifizierungs- und Authentisierungskonzept. Hoffnungen werden in die Weiterentwicklung des zentralen Bürgerkontos (BundID) zu einer DeutschlandID (§ 12 Abs. 1 S. 3 OZG) und die konkrete Umsetzung der elektronischen Brieftasche für die Digitale Identität (EUDI-Wallet) nach Art. 5a ff. der eIDAS-Verordnung gesetzt.
Verpflichtende digitale Kommunikation
Die digitale Kommunikation soll für professionelle sowie für quasi-professionelle Verfahrensbeteiligte verpflichtend werden. Perspektivisch soll auch eine aktive und passive digitale Kommunikation durch nicht-professionelle Verfahrensbeteiligte angestrebt werden. Zunächst soll eine Opt-out-Lösung („Weg zum Papier“) zur Ermöglichung einer papiergebundenen Kommunikation geschaffen werden. Nach einer Übergangszeit soll auch für Bürgerinnen und Bürger grundsätzlich die Pflicht zu einer digitalen Kommunikation bestehen, wobei Unterstützungsleistungen, z.B. auf den Rechtsantragstellen für Personen, die nach ihren persönlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten oder wegen besonderer Umstände des Einzelfalls nicht in der Lage sind, digital zu kommunizieren, vorgesehen werden. Verstöße sollen zu einer Unwirksamkeit der erfassten Anträge und Erklärungen führen.
Bund-Länder-Justizportal
Es soll ein bundesweit einheitliches Bund-Länder-Justizportal geschaffen werden. Dort sollen sämtliche Angebote und Services der Justiz abrufbar sein. Genannt werden die Bereitstellung von Informationen, inklusive eines Überblicks über Konfliktlösungsangebote und von Vorab-Checks, ob eine Antragstellung sinnvoll ist, die Einsichtnahme in Register und Grundbuch, die Abgabe von Erklärungen und Anträgen, z.B. Prozess- und Verfahrenskostenhilfe, Beratungshilfe, Mahnverfahren, Klagen, Beschwerden, Vollstreckung, die Terminabstimmung, die Integration der Online-Antragstellung gemäß § 129a Abs. 2 ZPO per Bild- und Tonübertragung auf der Rechtsantragstelle und eine elektronische Bezahlplattform, an die Kassensysteme der Länder und die zentralen Zahlstellen angeschlossen sind. Ein nahtloser Wechsel von der Justizplattform in das gerichtliche Verfahren soll möglich sein.
Durch eine einheitliche Gestaltung, z.B. einheitliche Designstandards, soll ein Wiedererkennungswert geschaffen und Vertrauen hergestellt werden. Die Entwicklung soll nutzenden- und zielgruppenzentriert unter Einsatz der Methoden des Legal Design Thinking erfolgen. Angestrebt werden eine intuitive Bedienbarkeit, ein barrierearmer Zugang und – soweit notwendig – die Option menschlicher Unterstützung durch sog. Digitallotsen. Informationsangebote können ohne Anmeldung abgerufen werden. Wenn – beispielsweise zur Antragstellung über das Portal – eine Anmeldung notwendig ist, sollen relevante Daten frühzeitig und einmalig abgefragt werden (Once-only-Prinzip). Mit Zustimmung der Nutzenden soll der Abruf von bei anderen Behörden hinterlegten Daten gestattet werden.
Kommunikationsplattform/strukturierte Datensätze
Des Weiteren soll der elektronische Rechtsverkehr in seiner aktuellen Form durch eine bundeseinheitliche und cloudbasierte Kommunikationsplattform abgelöst werden, die für effizientere, transparentere und beschleunigte Verfahrensabläufe sorgt. Über diese soll das zivilgerichtliche (Erkenntnis-)Verfahren vollständig abgewickelt werden. Sämtliche verfahrensbezogenen elektronischen Dokumente sollen über die Kommunikationsplattform übermittelt, eingesehen, heruntergeladen und künftig auch – im Rahmen eines digitalen Verfahrensdokuments – bearbeitet werden können. Künftig soll die Kommunikationsplattform zu einer umfassenden Verfahrensmanagementplattform ausgebaut werden. Bei neueingestellten Dokumenten sollen die Nutzenden informiert werden.
Die Plattform soll im Rahmen einer agilen und iterativen Produktentwicklung entstehen und auf Basis einer gesetzlichen Experimentierklausel in einem begrenzten Anwendungsbereich erprobt werden. Für professionelle und quasi-professionelle Verfahrensbeteiligte soll eine Nutzungspflicht bestehen. Auch bei Einsatz der Kommunikationsplattform soll ein Verstoß gegen die Nutzungspflicht zur Unwirksamkeit der Prozesshandlungen, d.h. zur Unbeachtlichkeit des Parteivortrags und bei der Klageeinreichung zur Unzulässigkeit der Klage führen.
Die Plattform soll die Arbeit mit strukturierten Datensätze ermöglichen. Diese sollen automatisiert in die Justizsysteme eingelesen werden können und es ermöglichen, ohne ihre erneute Eingabe mit ihnen zu arbeiten.
Digitaler Parteivortrag/digitales Verfahrensdokument
Die Reformkommission setzt sich dafür ein, das aktuell im elektronischen Rechtsverkehr nach § Abs. 1 S. 1 ERVV vorgegebene PDF-Format durch einen maschinenverarbeitbaren digitalen Parteivortrag zu ersetzen. Ein digitales Verfahrensdokument soll die technischen Möglichkeiten zu einer Steigerung der Übersichtlichkeit, zur logischen Anordnung und erleichterten Bezugnahme nutzbar machen. Auch das digitale Verfahrensdokument soll zunächst auf Basis einer Experimentierklausel an ausgewählten Landgerichten und Oberlandesgerichten im Anwaltsprozess erprobt werden. Nicht in Form eines digitalen Verfahrensdokuments, sondern als klassischer Schriftsatzes übermittelter Vortrag, soll grundsätzlich unbeachtlich sein. Entsprechende Regelungen sollen sich an §§ 130d, 130a ZPO orientieren.
Digitales Beweisverzeichnis
Die Reformkommission regt an, ein bundeseinheitliches, für Prozessparteien und ihre Prozessbevollmächtigten zugängliches digitales Beweisverzeichnis zu schaffen, in das Gericht, Aktenzeichen und Beweisthema aufgenommen werden. Zugriff sollen die Parteien bzw. ihre Bevollmächtigten und das Gericht haben. Eine Verwertung aufgefundener Beweisaufnahmen (insbesondere von Gutachten nach § 411a ZPO) bzw. die Einführung ihrer Ergebnisse im Wege des Urkundenbeweises in ein Parallelverfahren wird durch die Option der Einsicht in die Verfahrensakten des nachgewiesenen Verfahrens nach Darlegung eines berechtigten Interesses möglich. Auch das digitale Beweisverzeichnis soll auf Grundlage einer Erprobungsgesetzgebung zunächst beschränkt auf Sachverständigengutachten entwickelt und getestet werden.
Digitales Vollstreckungsregister
Ebenfalls soll ein digitales Vollstreckungsregister geschaffen werden, in das diejenigen Vollstreckungstitel, deren zwangsweise Durchsetzung betrieben wird, erfasst werden. Der Titeleintrag im Vollstreckungsregister soll die vollstreckbare Ausfertigung und die Wirkung einer Vollstreckungsklausel ersetzen. Die vollständige oder teilweise Leistung auf die titulierten Ansprüche soll aus dem Vollstreckungsregister ersichtlich sein.
Dynamische Eingabe- und Abfragesysteme
Die Reformkommission fordert, die bisherigen online oder in Papierform auszufüllenden Formulare durch dynamische Eingabe- und Abfragesysteme zu ergänzen und sukzessive zu ersetzen. Die eingegebenen Daten sollen – vorzugsweise als strukturierter Datensatz im XJustiz-Standard – direkt an das zuständige Gericht übermittelt werden, um die Weiterverarbeitung zu erleichtern und Medienbrüche zu vermeiden. Für nicht-professionelle Verfahrensbeteiligte soll die Nutzung der Eingabe- und Abfragesysteme grundsätzlich verpflichtend sein, wobei in begründeten Ausnahmefällen eine Antragstellung in Papierform bzw. über die Rechtsantragstellen möglich sein soll. Professionelle Verfahrensbeteiligte müssen die Eingabe- und Abfragesysteme dann nicht nutzen, wenn sie stattdessen alternative Möglichkeiten zur Übermittlung strukturierter Datensätze an das Gericht, z.B. Schnittstellen ihrer Anwaltssoftware, verwenden.
Es soll in der Zivilprozessordnung eine § 130c ZPO ersetzende, deutlich weitergehende Regelung geschaffen werden, aus der sich die Anwendungsbereiche, die bundeseinheitliche Bereitstellung, die Vorgaben für die Identifizierung der antragstellenden Person, die Nutzungspflichten, die zulässigen Datenformate, die barrierefreie Ausgestaltung und die Berechtigung zur Verarbeitung personenbezogener Daten ergibt. Die durch die Eingabe- und Abfragesysteme vorliegenden Daten wären eine gute Basis für den Einsatz von automatisierten Entscheidungshilfen oder von KI, z.B. zur Prüfung oder Durchführung von Berechnung oder der Prüfung der Formalien.
Kostenfestsetzungsverfahren
In dem Abschlussbericht wird auch festgestellt, dass die verpflichtende Übermittlung von Kostenfestsetzungsanträgen als strukturierte Datensätze ein erhebliches Beschleunigungs- und Vereinfachungspotential birgt. Langfristig könnte in geeigneten Fällen ein automatisiertes Kostenfestsetzungsverfahren dergestalt eingeführt werden, dass im Regelfall eine menschliche Entscheidung erst nach einem Widerspruch gegen die automatisierte Entscheidung bzw. in Fällen ergeht, die von den automatisierten Systemen nicht bearbeitet werden können.
Zwischenfazit
Viele der zu dem Punkt „digitale Werkzeuge für den Zivilprozess“ angestrengten Überlegungen sind nicht neu. Der Reformkommission ist es jedoch trotz der Kürze ihrer Tätigkeitszeit gelungen, ein Konzept zu entwickeln, in dem eine Einführung der einzelnen Werkzeuge schlüssig ineinandergreifen würde. Wichtig wäre es, dass im Rahmen einer Umsetzung die einzelnen Punkte nicht schrittweise abgearbeitet werden, sondern die Idee eines Gesamtkonzept weiterverfolgt wird. Dies sollte natürlich nicht verhindern, dass einzelne, leicht umsetzbare Vorschläge vor die Klammer gezogen werden.
Aus den aktuellen Koalitionsverhandlungen ist zu hören, dass auf Basis der Impulse des Abschlussberichts der Reformkommission „Zivilprozesses der Zukunft“ eine Übersetzung der ZPO in das digitale Zeitalter in Angriff genommen werden soll. Die weiteren Entwicklungen bleiben abzuwarten.
Der Bericht über die Vorschläge der Reformkommission wird im nächsten Heft fortgesetzt.