Vom 24. bis zum 27. September tagte in Stuttgart der 74. Deutsche Juristentag. Die turnusgemäß alle zwei Jahre stattfindende Veranstaltung versammelt Teilnehmende aus allen juristischen Berufsgruppen, um auf wissenschaftlicher Grundlage die Notwendigkeit von Änderungen und Ergänzungen der Rechtsordnung zu untersuchen und Empfehlungen an den Gesetzgeber auszusprechen. Aufgrund ihrer über einzelne Interessensgruppen hinausgehenden Ausrichtung haben die dort gefassten Entschließungen in der juristischen Fachwelt und auch für den Gesetzgeber stets ein besonderes Gewicht.
Bei der aktuellen Veranstaltung in Stuttgart standen in den sechs Fachabteilungen (Zivilrecht, Arbeits- und Sozialrecht, Strafrecht, Öffentliches Recht, Wirtschaftsrecht und Medienrecht) wieder höchst aktuelle Themen auf der Tagesordnung. Die Zivilrechtler befassten sich u.a. mit der Fortentwicklung des auch von der Digitalisierung stark betroffenen Prozessrechts, mit dem Phänomen der Massenverfahren und auch mit den auf den juristischen Markt drängenden Legal-Tech-Anbietern. Die Arbeits- und Sozialrechtler debattierten ausführlich die Notwendigkeit einer Neuausrichtung des Arbeitnehmerbegriffs und einer Abgrenzung zur Selbstständigkeit. Im Strafrecht stand das Thema Beschlagnahme moderner Kommunikationsgeräte wie Handys, Tablets und Laptops auf der Agenda und die Verwaltungsrechtler sahen sich in einer Zeit „multipler Krisen“ vor die Frage gestellt, welche gesetzlichen Rahmenbedingungen aktuell benötigt werden, damit der Staat weiterhin effizient und effektiv auf krisenhafte Entwicklungen reagieren kann. Im Wirtschaftsrecht ging es zentral um die Frage, wie sich der Klimaschutz auf Unternehmen auswirkt.
In der Abteilung Zivilrecht stand ganz zuvorderst das Bekenntnis zu einem diversen Rechtsmarkt und zu einer schnelleren Digitalisierung. Dass derZugang zur Ziviljustiz durch Beteiligung kommerzieller Legal-Tech-Anbieter und Prozessfinanzierer verbessert werden sollte, fand eine ebenso breite Beschlussmehrheit wie die Forderung, dass die Justiz mehr Ressourcen benötigt und dass spezielle Small-Claims-Regelungen mit digitaler Verfahrensdurchführung den Zivilprozess effektiver machen können. Die Experten wollten allerdings nicht so weit gehen, einen individuellen Anspruch auf Durchführung einer Videoverhandlung in die ZPO zu schreiben. Abgelehnt wurde auch der Vorschlag, außergerichtliche Rechtsdienstleistungen generell erlaubnisfrei zu stellen. Stattdessen befürworteten die Teilnehmenden, dass die anwaltliche Verschwiegenheitspflicht auch auf nichtanwaltliche Klageorganisationen ausgedehnt werden sollte. Nicht mehrheitsfähig war der Vorschlag, die anwaltlichen Berufspflichten an mehreren Stellen zu lockern; die Teilnehmenden sprachen sich u.a. klar für die Beibehaltung des Fremdbesitzverbots aus.
Das Phänomen der Massenverfahren wurde von der Abteilung in mehreren Facetten beleuchtet. So forderten die Teilnehmer den Gesetzgeber auf, fürderartige Verfahren spezifische Lösungen zu entwickeln; hierbei solle u.a. die Verwertung von Beweisergebnissen aus Parallelverfahren erleichtert werden. Eine Mehrheit forderte die Einführung eines neuen Rechtsinstituts der „Musterbeweisaufnahme“; hierbei sollte in Massenverfahren die Beweisaufnahme zu gleichlautenden Fragestellungen nur in einem oder in ausgewählten Musterverfahren erfolgen, währenddessen die Parallelverfahren ausgesetzt werden.
Die Einführung eines Leitentscheidungsverfahrens, wie es jetzt auch aktuell der Bundestag beschlossen hat (s. oben S. 948) bekam von den Teilnehmenden ein klares Votum. Abgelehnt wurde dagegen die Forderung, unechte Sammelklagen, bei denen sog. „Klagevehikel“ aus abgetretenem Recht eine Vielzahl von Ansprüchen bündeln, künftig für unzulässig zu erklären. Ablehnungen erfuhren auch die meisten Vorschläge zu Änderungen bei den Musterfeststellungs- und Abhilfeklagen. So bekam die Forderung, dass das Merkmal der Gleichartigkeit der Ansprüche (§ 15 VDuG) in Zukunft enger ausgelegt werden sollte, ebenso eine Abfuhr wie der Vorschlag, dass die Rechtskraft einer Verbandsklage künftig nur noch zugunsten, aber nicht mehr zulasten der angemeldeten Verbraucher wirken sollte.
Ein zentraler Diskussionspunkt in der Abteilung Arbeits- und Sozialrecht war die Frage, wie in der modernen Arbeitswelt Arbeitnehmer und Selbstständige voneinander abgegrenzt werden sollten. Dass das Thema zahlreiche heikle Fragen aufwirft, zeigt die Tatsache, dass viele der Beschlussvorschläge keine Mehrheiten bekamen. Immerhin einigten sich die Teilnehmenden auf einige Minimalkonsense: So soll es auch in Zukunft beim Arbeitnehmerbegriff des BGB (§ 611a) bleiben, ebenso bei dem Dualismus von Arbeitnehmerbegriff im Arbeitsrecht und Beschäftigtenbegriff im Sozialrecht. Durchringen konnten sich die Teilnehmer u.a. auf die Empfehlung, dass bei der Feststellung des Erwerbsstatus gem. § 7a SGB IV die Vermutung der Selbstständigkeit greifen soll, wenn auch die Vertragsparteien übereinstimmend von einer selbstständigen Tätigkeit ausgehen. Außerdem hielt die Abteilung es für empfehlenswert, für Selbstständige eine Altersvorsorgepflicht einzuführen, sofern keine anderweitige Absicherung besteht.
Das zentrale Thema der Abteilung Strafrecht war die Beschlagnahme und Auswertung von Handys, Laptops und anderen sog. „komplexen IT-Geräten“. Hier drehte sich alles um die Frage, wie weit die Strafverfolgungsbehörden gehen dürfen und wie die verfassungsmäßigen Persönlichkeitsrechte angemessen geschützt werden können. Die modernen IT-Geräte sind in den Zeiten der Digitalisierung der Arbeitswelt aber auch des gesamten privaten Bereichs längst nicht mehr bloße Kommunikations- bzw. Bürogeräte. In ihnen findet sich oft das gesamte Leben des Benutzers oder auch der Geschäftsbetrieb abgebildet. Entsprechend schwerwiegend ist der Eingriff, wenn ein derartiges Gerät beschlagnahmt und durchsucht wird. Bereits in einem der vorbereitenden Gutachten kam der Referent zu dem Ergebnis, dass „das Beschlagnahmeregime und die Regelungen zur Durchsicht […] in Bezug auf den Zugriff auf komplexe IT-Geräte […] als unterreguliert anzusehen“ seien.
In dem Spannungsverhältnis zwischen Tataufklärung und Persönlichkeitsschutz wollten sich die Teilnehmenden allerdings auf keine Verschärfungen bei den derzeitigen strafprozessualen Vorgaben für eine (vorläufige) Sicherstellung, Beschlagnahme und Durchsuchung der fraglichen IT-Geräte einlassen; alle diesbezüglichen Vorschläge wurden abgelehnt. Kompromissbereit waren die Experten aber bei der „Regulierung der Eingriffstiefe“: So sollen die Ermittler künftig nicht mehr pauschal auf alle Daten zugreifen dürfen, sondern diese schon bei der richterlichen Anordnung konkretisiert werden. Außerdem sollen Regelungen zum Schutz des Kernbereichs privater Lebenshaltung eingeführt werden. Mit Blick auf das rechtliche Gehör soll den Betroffenen ein Anspruch auf Aushändigung einer Kopie der sichergestellten Daten eingeräumt werden, sobald die Auswertung der Daten abgeschlossen ist. Schließlich soll die Rückgabe des IT-Geräts an eine Frist gebunden werden können, die allerdings auf Antrag der Staatsanwaltschaft verlängerbar sein soll.
In der Abteilung Öffentliches Recht stand die Krisenbewältigung durch den Staat im Fokus der Diskussion. Den Teilnehmenden lag die Frage vor, welche gesetzlichen Rahmenbedingungen benötigt werden, damit zukünftige Krisen effektiv und effizient bewältigt werden können. Als Krisen definierte die Vorlage „Naturkatastrophen und andere außergewöhnliche Notsituationen, die Staat und Gesellschaft schockartig und vorübergehend besonders herausfordern“. Mit überwältigender Mehrheit lehnten die Teilnehmenden die Schaffung einer neuen Krisenkompetenzordnung ab; es bedürfe keines „allgemeinen Krisengesetzes“ und auch keiner Aufnahme eines „Staatsziels Resilienz“ ins Grundgesetz, so der Beschluss der Abteilung. Allerdings sah es die Mehrheit der Teilnehmenden als sinnvoll an, wenn der Bund künftig im Bereich des Katastrophenschutzes die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz erhalten würde. Das Gleiche schlug die Abteilung angesichts der „fragmentierten Kompetenzordnung“ im Bereich des Gesundheitswesens auch für die Krankenhausversorgung und den öffentlichen Gesundheitsdienst in Krisenfällen vor. Mit Rückblick auf die Corona-Pandemie stellten die Expertinnen und Experten fest, dass der Staat für vergleichbare künftige Infektionswellen zurzeit „nicht gerüstet“ sei; hier mahnten sie eine Modernisierung des Infektionsschutzgesetzes an.
Die Abteilung Wirtschaftsrecht befasste sich mit dem Klimaschutz und den Verpflichtungen, die sich für Unternehmen daraus ergeben. Trotz großer Einigkeit, dass auch die Wirtschaft sich dem Aspekt der Nachhaltigkeit verpflichten muss, waren die Teilnehmenden äußerst zurückhaltend, was weitere Vorgaben durch den Gesetzgeber angeht. Die ohnehin begrenzten Möglichkeiten des Gesellschaftsrechts im Kampf gegen den Klimawandel dürften vom Gesetzgeber nicht zum Anlass genommen werden, von wirkmächtigeren Maßnahmen, etwa marktwirtschaftlichen Instrumenten, abzusehen, lautete z.B. einer der Beschlüsse der Abteilung. Ein anderer Beschluss mahnte denGesetzgeber, bei etwaigen weiteren unternehmensrechtlichen Vorgaben im Kampf gegen den Klimawandel zuvor eine gründliche Abschätzung der Zieleignung und Wirksamkeit sowie eine Kosten-Nutzen-Abwägung vorzunehmen und sich auch auf europäischer Ebene stärker für die Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes einzusetzen. Immerhin konnten sich die Teilnehmenden mit knapper Mehrheit darauf einigen, einer Aktionärsminderheit künftig das Recht einzuräumen, zu verlangen, dass die Hauptversammlung einen (unverbindlichen) Beschluss über einenKlimatransformationsplan des Unternehmens fasst.
[Quelle: DJT]