Was kann eine Partei tun, wenn – nach ihrer Meinung – das letztinstanzliche Gericht unter Missachtung europäischen Rechts einfach „durchentscheidet“, statt die Rechtsfrage dem EuGH vorzulegen? Immerhin steht dann die Frage des gesetzlichen Richters im Raum und damit eine Verletzung des Verfassungsrechts. Mit diesem Problem hatte sich kürzlich der Bundesfinanzhof zu befassen. Er ist der Auffassung, dass eine Nichtigkeitsklage nicht in Betracht kommt; vielmehr könne sich die Partei mit einer Verfassungsbeschwerde an das BVerfG wenden (BFH, Urt. v. 10.10.2023 – IX K 1/21).
Im Streitfall führte die Klägerin ein Gerichtsverfahren, in dem sie die Unionsrechtswidrigkeit und die Verfassungswidrigkeit der Besteuerung von Sportwetten rügte. Das Verfahren hatte weder beim Finanzgericht noch beim BFH Erfolg. Vor dem BFH rügte die Klägerin zahlreiche Verstöße gegen Unionsrecht und beantragte, das Verfahren dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen. Nachdem der BFH dem Vorbringen der Klägerin nicht gefolgt war und das Verfahren nicht dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt hatte (BFH, Urt. v. 17.5.2021 – IX R 20/18), erhob die Klägerin eine Nichtigkeitsklage. Der BFH habe in willkürlicher und nicht vertretbarer Weise seine Verpflichtung verletzt, Rechtsfragen dem EuGH vorzulegen. Dadurch sei sie in verfassungswidriger Weise ihrem gesetzlichen Richter entzogen worden.
Dieser Rechtsauffassung folgte der BFH allerdings nicht und wies die Nichtigkeitsklage als unzulässig ab. Eine Nichtigkeitsklage könne u.a. erhoben werden, wenn das Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt sei, z.B. bei Verstößen gegen die Geschäftsverteilung. Die fehlerhafte Handhabung einer Vorlageverpflichtung hingegen könne nicht auf diese Weise vorgebracht werden. Habe ein Kläger in einem Gerichtsverfahren die Vorlage an den EuGH angeregt und kommt das letztinstanzliche Gericht dem nicht nach, könne er die nach seiner Auffassung vorliegende Verletzung der Vorlagepflicht unmittelbar im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht rügen, argumentierten die höchsten deutschen Finanzrichter.
Die willkürliche Nichtbeachtung der Vorlagepflicht könne nämlich den Anspruch auf den gesetzlichenRichter verletzen (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG), mithin eine Verfassungsnorm. Zwar entspreche es der grundgesetzlichen Zuständigkeitsverteilung und Aufgabenzuweisung, dass vorrangig die Fachgerichte Rechtsschutz gegen Verfassungsverletzungen zu gewähren haben. Jedoch sei für die Rüge von Grundrechtsverletzungen durch letztinstanzliche Entscheidungen der (außerordentliche) Rechtsbehelf der Verfassungsbeschwerde nach § 90 BVerfGG gegeben. Damit sei im Ergebnis Karlsruhe für die Überprüfung solcher letztinstanzlicher Entscheidungen zuständig. Etwas anderes gelte nur, wenn der Gesetzgeber ausdrücklich angeordnet habe, dass bestimmte Verfassungsfragen bereits innerhalb des Instanzenzugs der fachgerichtlichen Selbstkontrolle zu unterwerfen seien. Dies habe er für die Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) in Gestalt der Anhörungsrüge (z.B. in § 133a FGO) getan. Eine vergleichbare Selbstüberprüfung im Hinblick auf die Verletzung des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) gebe es hingegen nicht.
[Quelle: BFH]