Das BVerfG hat Ende Oktober die schon bei ihrer Einführung im Jahr 2021 heftig umstrittene Gesetzesänderung, die es erlaubt, unter bestimmten Voraussetzungen erneut Anklage gegen einen Freigesprochenen zu erheben, wenn der Vorwurf auf Mord oder Völkermord lautet, für verfassungswidrig erklärt. Die Neuregelung verstoße sowohl gegen das verfassungsrechtliche Verbot der Doppelbestrafung („ne bis in idem“) als auch gegen das Verbot der echten Rückwirkung vonGesetzen, befanden die Karlsruher Richter (BVerfG, Urt. v. 31.10.2023 – 2 BvR 900/22, s. ZAP EN-Nr. 642/2023 [Ls.], [in dieser Ausgabe]).
Auf dem Prüfstand des Verfassungsgerichts stand § 362 Nr. 5 StPO, der im Dezember 2021 durch das „Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit“ eingeführt wurde. Danach darf ein Strafverfahren gegen einen rechtskräftig Freigesprochenen wiederaufgenommen werden, wenn aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel dringende Gründe dafür bestehen, dass der Betroffene nunmehr wegen Mordes oder bestimmter Völkerstraftaten verurteilt wird. Auf diese Norm berief sich die Staatsanwaltschaft beim LG Verden, als sie im vergangenen Jahr, gestützt auf neue Beweismittel, einen Antrag auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens gegen einen bereits 1983 Freigesprochenen stellte. Das Landgericht erklärte den Wiederaufnahmeantrag für zulässig und ordnete Untersuchungshaft an; die hiergegen gerichtete Beschwerde wurde vom OLG Celle verworfen. Der daraufhin vom Beschwerdeführer erhobenen Verfassungsbeschwerde gab das BVerfG allerdings statt.
Die Richter des 2. Senats verwarfen § 362 Nr. 5 StPO als verfassungswidrig. Die Norm verstoße sowohl gegen Art. 103 Abs. 3 GG als auch gegen Art. 20 Abs. 3 GG. § 103 Abs. 3 GG, der das Prinzip des Strafklageverbrauchs („ne bis in idem“) umsetze, enthalte ein grundrechtsgleiches Recht. Dieses verbiete dem Gesetzgeber eine Regelung der Wiederaufnahme eines Strafverfahrens zum Nachteil des Grundrechtsträgers aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel, führte das BVerfG aus. Die Verfassungsnorm stelle eine besondere Ausprägung des im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Vertrauensschutzes dar. Wäre es dem Gesetzgeber möglich, einfachgesetzlich weitere Wiederaufnahmegründe einzuführen, die eine erneute Strafverfolgung und ggf. Verurteilung erlauben, wäre die Verfassungsnorm praktisch wirkungslos. Sie müsse daher gegenüber dem das Wiederaufnahmerecht gestaltenden Gesetzgeber als ein absolutes und abwägungsfestes Verbot verstanden werden.
Zwar verbiete die Verfassung die Wiederaufnahme von Strafverfahren zum Nachteil des Grundrechtsträgers nicht generell. Leide ein Strafurteil unter schwerwiegenden Mängeln, wie sie etwa in § 362 Nr. 14 StPO beschrieben werden, dürfe ein Strafverfahren wiederholt werden, um ein justizförmiges, rechtsgeleitetes Verfahrensergebnis zu erreichen. Eine solche Situation sei aber – wie vorliegend – beim Auftauchen allein neuer Tatsachen oder Beweismittel nicht gegeben. Die Korrektur eines Strafurteils ausschließlich mit dem Ziel, eine inhaltlich „richtigere“ und damit materiell gerechtere Entscheidung herbeizuführen, lasse sich mit der von Art. 103 Abs. 3 GG getroffenen unbedingten Vorrangentscheidung zugunsten der Rechtssicherheit ggü. der materialen Gerechtigkeit nicht vereinbaren.
Die Neuregelung verstoße zudem gegen das aus Art. 20 Abs. 3 GG abgeleitete Verbot der echten Rückwirkung, befand der Senat. Die Erstreckung des § 362 Nr. 5 StPO auf Freisprüche, die bereits vor Inkrafttreten der Norm rechtskräftig geworden seien, stelle eine „echte“ Rückwirkung im Sinne einer Rückbewirkung von Rechtsfolgen dar. Nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG seien echte Rückwirkungen von Gesetzen – im Unterschied zu sog. unechten Rückwirkungen – grds. nicht zulässig. Freigesprochene dürften darauf vertrauen, dass die Rechtskraft eines Freispruchs nur aufgrund der bisherigen Rechtslage durchbrochen werden könne. Diesem Vertrauen in ein freisprechendes Strafurteil werde auch durch Art. 103 Abs. 3 GG ausdrücklich Verfassungsrang verliehen.
Im Ergebnis war § 362 Nr. 5 StPO damit für nichtig zu erklären. In einem Sondervotum widersprachen allerdings zwei der Richter des Senats der Rechtsauffassung der Senatsmehrheit. Sie schlossen sich zwar der Auffassung an, dass hier eine echte Rückwirkung vorliegt. Dass es dem Gesetzgeber allerdings versagt sein soll, mit Blick auf neue Beweismittel einen neuen Wiederaufnahmegrund zu schaffen, leuchtete ihnen nicht ein. Vielmehr wiesen sie auf „schwerlich auflösbare Wertungswidersprüche“ hin: So sei es kaum zu erklären, auswelchem Grunde ein Freigesprochener, der in einem Wirtschaftsstrafverfahren von einer gefälschten Urkunde profitiert hätte (die er noch nicht einmal selbst gefälscht haben müsse), sich einer erneuten Anklage stellen müsse, dagegen aber nicht jemand, der in einem Verfahren wegen Mordes durch ein molekulargenetisches Gutachten der Täterschaft überführt werde. Ebenso dürfe kaum vermittelbar sein, warum in einem Fall, in dem nach einem Freispruch ein Täter, der Kriegsverbrechen gestehe, erneut angeklagt werden könne, während sein ebenfalls freigesprochener Komplize, der nicht geständig sei, trotz des Auftauchens neuer erdrückender Beweise straflos bleibe (Anm. der Red.: s. dazu Anm. Burhoff, demnächst in ZAP 2023).
[Quelle: BVerfG]