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Neue Wiederaufnahmevorschrift vor dem BVerfG

Ende Dezember 2021 trat das von der damaligen Großen Koalition initiierte Gesetz zur Änderung der Strafprozessordnung – Erweiterung der Wiederaufnahmemöglichkeiten zuungunsten des Verurteilten gemäß § 362 StPO und zur Änderung der’zivilrechtlichen Verjährung (Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit) v. 21.12.2021 in Kraft. Es war eine der umstrittensten Neuregelungen der Legislaturperiode – mit ihr wurde der bisher unantastbar scheinende Grundsatz „ne bis in idem“ durchbrochen. Mit dem neuen, um die Ziff. 5 ergänzten § 362 StPO ist es seither möglich, unter engen Voraussetzungen auch rechtskräftig abgeschlossene Mordprozesse wieder aufzurollen. Ein solcher Fall befindet sich jetzt vor dem BVerfG.

Darin geht es um einen 1981 verübten Mord an einer Schülerin. Der damals als Täter Verdächtigte war 1983 wegen nicht ausreichender Beweislage freigesprochen worden. 2022 hat die Staatsanwaltschaft, gestützt auf den reformierten § 362 StPO, jedoch eine Wiederaufnahme wegen neu aufgetauchter Beweise (DNA-Spuren) beantragt. Dem wurde stattgegeben; dagegen gerichtete Rechtsmittel wurden vom LG Verden und vom OLG Celle zurückgewiesen. Der Prozess sollte ursprünglich in diesem August beginnen, der Verdächtigte wehrt sich jedoch mit einer Verfassungsbeschwerde gegen das wiederaufgenommene Verfahren. Er hält die Neuregelung durch die damalige Große Koalition (GroKo) für verfassungswidrig und deshalb auch seine U-Haft für nicht gerechtfertigt. In einem Aufsehen erregenden Beschluss hat das BVerfG kürzlich seiner einstweiligen Anordnung stattgegeben und ihn auf freien Fuß gesetzt (BVerfG, Beschl. v.’14.7.2022 – 2 BvR 900/22, ZAP-EN-Nr. 597/2022 [in dieser Ausgabe]).

Allerdings machten die Verfassungsrichter in ihrer einstweiligen Anordnung noch keine Aussagen über die Verfassungsmäßigkeit der neuen Wiederaufnahmevorschrift in der StPO. Die Entscheidung erging allein aufgrund einer Folgenabwägung. Gegeneinander abzuwägen waren insb. die’Gefahr einer Flucht im Falle der vorläufigen Freilassung des Beschuldigten gegenüber dem erheblichen Freiheitseingriff der Untersuchungshaft. Im Ergebnis maßen die Richter den Grundrechten des Beschuldigten ein höheres Gewicht zu, zumal die Absicherung eines etwaigen weiteren Strafprozesses durch Auflagen sichergestellt werden könnte. Demgemäß kam der Betroffene Mitte Juli unter strengen Auflagen zunächst wieder auf freien Fuß. Unter anderem muss er seine Ausweispapiere beim LG abgegeben, sich zweimal wöchentlich bei der zuständigen Staatsanwaltschaft melden und darf zudem seinen Wohnort nicht verlassen.

Der Ausgang des Hauptsacheverfahrens und damit auch die Frage, ob die Erweiterung der Wiederaufnahmegründe durch die GroKo verfassungsmäßig war, ist damit weiterhin offen. Wörtlich heißt es im Beschluss des 2. Senats: „Die Verfassungsbeschwerde ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Insbesondere ist die Frage offen, ob § 362 Nr. 5 StPO verfassungskonform ist (…) Ihre Klärung muss dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.“ In ersten Kommentaren zu dieser Entscheidung wollten die meisten Strafrechtsexperten denn auch keine Prognose zum Ausgang des Hauptsacheverfahrens abgeben. Die Freilassung des Beschuldigten sei „angesichts der Eingriffsintensität des Haftbefehls“ jedenfalls nachvollziehbar, so ihr Urteil. Andere wollen allerdings bereits Tendenzen herauslesen. So äußerte das Mitglied des Ausschusses Strafrecht im Deutschen Anwaltverein, Stefan’Conen, der Beschluss des BVerfG sei „der zu erwartende Dämpfer für die Unbekümmertheit, mit der die Große Koalition und ihr folgend das OLG Celle meinten, die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die neue Regelung beiseite wischen zu dürfen“. Der DAV hatte das damalige Gesetzesvorhaben stets vehement bekämpft und wertet die einstweilige Anordnung des BVerfG deshalb jetzt als „gutes Zeichen“.

[Quellen: BVerfG/DAV]

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