LG München I beklagt erhebliche Belastung durch Massenverfahren
Das Landgericht München I beklagt eine erhebliche Belastung durch die Zunahme sog. Massenverfahren, etwa den Dieselskandal, den Wirecard-Konkurs oder das Lkw-Kartell. LG-Präsidentin Beatrix Schobel sieht den Gesetzgeber in der Pflicht, hier Abhilfe zu schaffen. In einer Pressemitteilung ihres Gerichts forderte sie Mitte März die Einführung eines Vorlageverfahrens zum BGH und erweiterte Aussetzungsmöglichkeiten.
Die genannten Verfahren zeichneten sich dadurch aus, dass viele Kläger gegen die identischen oder aus der gleichen Sparte stammenden Beklagten im Wesentlichen gleiche Ansprüche geltend machten, erläuterte Schobel. Bisher müsse jedes einzelne dieser Verfahren jeweils gerichtlich geprüft, verhandelt und entschieden werden. Auch Bayerns größtes Landgericht habe eine Vielzahl solcher Verfahrenskomplexe. Die LG-Präsidentin nannte – neben dem Dieselkomplex – zahlreiche Belastungen, die durch große Verfahren in letzter Zeit auf ihr Gericht zugekommen sind. So seien etwa im sog. Lkw-Kartell inzwischen ca. 150 Verfahren am LG München I eingegangen, teilweise mit ganz erheblichem Umfang. Insgesamt hätten damit ca. 10.000 Geschädigte im Hinblick auf über 250.000 von ihnen erworbene Lkws Schadenersatzansprüche geltend gemacht.
Des Weiteren habe es in jüngster Vergangenheit über 200 Verfahren von Gastronomiebetrieben, Hotels und Freizeiteinrichtungen gegeben, die ihre Betriebsschließungsversicherung auf Zahlung der Schadenssumme im Zusammenhang mit der staatlichen Schließung von Gastronomie, Beherbergungs- und Freizeitbetrieben aufgrund der Corona-Pandemie verklagt hätten. Hiervon hätten allein 15 Verfahren, welche die in München gelegene Gastronomie beträfen, eine gerundete Streitwertsumme von 13.630.000 €. Die „Spannweite“ der Einzelstreitwerte liege dabei zwischen 66.000 € und 6.200.000 €. Zudem hätten viele Betroffene am Landgericht München I Klage gegen den TÜV-Süd wegen des Bruchs eines Staudamms in der brasilianischen Gemeinde Brumadinho eingereicht. Derzeit seien ca. 35 Verfahren dazu eingegangen. Hier klagten Opferangehörige und Betroffene, die beim Bruch des Staudamms einer Eisenerzmiene im Januar 2019 zu Schaden gekommen seien, auf Schadenersatz. Auch lasse sich feststellen, dass der Verfahrenskomplex Wirecard nicht nur die Strafrichterinnen und -richter intensiv beschäftige, sondern auch im Zivilrecht zu hunderten von zusätzlichen Verfahrenseingängen führe. Am LG München I seien hier etwa 900 Klagen einzelner Anleger gegen die Wirtschaftsprüferin (E&Y) anhängig. Die Zahl steige fast täglich weiter an.
Das Gericht werde durch den Eingang derartiger Klagewellen spürbar belastet. Solche Verfahren führten zu einem Mehrarbeitsaufwand in allen Bereichen der Justiz: bei den Eingangsstellen, Wachtmeistereien, Geschäftsstellen, im Rechtspfleger- und Richterdienst. Obwohl in ihrem Gericht sowohl individuelle als auch generelle Maßnahmen ergriffen worden seien, um diese zusätzlichen Belastungen zu bewältigen, sieht die Präsidentin auch den Gesetzgeber in der Pflicht: Ein Vorlageverfahren zum BGH zur Beantwortung der maßgeblichen abstrakten Rechtsfragen wäre hier ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung, erläuterte Frau Schobel. Es sei auch ernsthaft zu diskutieren, ob eine Aussetzungsmöglichkeit von Parallelverfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung über ein Pilotverfahren zielführend sein könnte. Die Aussetzung von individuellen Klagen einzelner Verbraucher bis zum Abschluss einer Muster- oder Verbandsklage oder bis zu einer höchstrichterlichen Entscheidung in parallelen Rechtsstreitigkeiten solle der Praxis zeitnah ermöglicht werden. Es brauche insgesamt mehr Flexibilität im Zivilprozessrecht, um die Massenverfahren besser in den Griff zu bekommen.
[Quelle: LG München I]