Ex-Verfassungsrichter warnt vor Erosion des Rechtsstaats
Der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, hat mit Blick auf die Bewältigung der Covid-Pandemie vor einer Erosion des Rechtsstaats gewarnt. In einem Interview erklärte er im Oktober, es bestehe eine Gefahr für die liberale Demokratie, sollten die coronabedingten Eingriffe in die Grundrechte sich noch länger hinziehen. Er halte die derzeitigen Einschränkungen der Bewegungsfreiheit zwar für rechtmäßig, so Papier, doch befürchte er schwere Schäden für die Grundrechte, sollten die „extremen Eingriffe“ in die Freiheit aller Bürger noch lange andauern.
Der frühere BVerfG-Präsident und jetzige Professor für Staatsrecht bemängelte insb., dass zur Bewältigung der Krise bisher fast nur vorläufige Eil-, aber keine endgültigen Entscheidungen über die Rechtmäßigkeit der staatlichen Maßnahmen getroffen worden seien. Das müsse sich nun ändern. Das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Staates und die Rationalität seiner Entscheidungen sei in den zurückliegenden Monaten erschüttert worden, sagte Papier. Künftig dürfe es schwerwiegende Freiheitsbeschränkungen aus bloßer Vorsorge nicht mehr geben.
Papier gilt als vehementer und meinungsstarker Verteidiger der Grundrechte in Deutschland. Erst vor wenigen Wochen hat er sein neues Buch „Freiheit in Gefahr“ veröffentlicht. Darin warnt er u.a. vor einer weiteren Aushöhlung fundamentaler Grundrechte.
Mit Blick auf die Corona-Krise mahnt er nun an, die „flächendeckenden Beschränkungen“ von Bürgerrechten nicht länger als unbedingt nötig aufrecht zu erhalten. Politik und Verwaltung müssten immer wieder prüfen, ob weniger einschneidende Maßnahmen möglich seien. Wenn sich Restriktionen über längere Zeit erstreckten, dann habe der liberale Rechtsstaat „abgedankt“. Seiner Meinung nach sind z.B. weitere Einschränkungen gegenüber Geimpften unzulässig, wenn diese nicht mehr ansteckend sind. Es gebe dann verfassungsrechtlich keine Legitimation mehr, die Betroffenen in ihren Grundrechten weiter zu beschränken, äußerte er bereits mehrfach im Laufe der Pandemie.
Zudem warnt er davor, auf überfüllten Intensivstationen jüngere und gesündere Patienten zu bevorzugen: Leben dürfe nicht gegen Leben abgewogen werden. Damit kritisierte Papier insb. auch die jüngsten Empfehlungen der medizinischen Fachgesellschaften. Darin wird abgestuft, wer vorrangig zu behandeln ist, falls ein Mangel an Intensivbetten besteht. Die Empfehlungen seien rechtlich problematisch, weil sie die Menschenwürde und den Grundsatz der Gleichheit in Frage stellen, erläuterte Papier. Nach der Rechtsprechung des BVerfG sei aber jedes Leben gleichrangig und gleich wertvoll.
Auch beklagte Papier, dass zahlreiche Unternehmen die schwerwiegenden wirtschaftlichen Folgen der derzeitigen staatlichen Eingriffe tragen müssen, ohne einen Rechtsanspruch auf Entschädigung zu bekommen. Das Infektionsschutzgesetz müsse deshalb „umgehend reformiert“ werden, forderte er.
[Red.]