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Workism – Wer sind Sie noch?

Das Wort „workism“ hat der Journalist Derek Thompson geprägt, der im Februar 2019 in „The Atlantic“ einen Artikel darübergeschrieben hat, wie immer mehr Menschen ihre Erfüllung im Beruf suchen und welche Folgen diese Entwicklung hat.

Von der Arbeit, um zu leben zum Leben beim Arbeiten

Über die Generationen hat sich der Anspruch an Arbeit gewandelt. Sie ist nicht mehr Mittel zum Zweck, die Arbeit, um zu leben. Sie soll uns vielmehr Sinn bringen und die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung. Das ist auch eine wunderbare Sache, um dem Wunsch nach einem erfüllten Leben näher zu kommen, denn wir verbringen noch immer viel Zeit mit unserer Arbeit und da darf sie gern ein Teil unseres Lebens sein, der Freude macht. Ein Teil des Lebens, in dem wir aufgehen und der keine Lebenszeit ist, die wir uns wegwünschen durch permanentes Warten auf das Wochenende oder den fernen Feierabend.

Aber: Unser Beruf ist weiterhin nur ein Teil unseres Lebens und wir überfordern diesen Teil manchmal mit einer zu hohen Erwartung, wenn wir ihn für unsere Idee von einem erfüllten Leben allein verantwortlich machen.

Was macht unsere Identität aus?

Nina Kurz definiert in ihrem Essay „Workism“ den Begriff als den „Glauben, dass Arbeit nicht mehr eine Notwendigkeit darstellt, sondern den Kern der eigenen Identität.“ (Nina Kurz „Ich denk, ich denk zuviel“, Kein & Aber Verlag).

Mit dem „Anwalt-Sein“ ist eine starke Identität verbunden. Die Gesellschaft hat ein Bild davon, wie Anwälte und Anwältinnen sind, dieses Bild ist ambivalent und etwas, dem viele von uns einerseits gern entsprechen möchten und mit dem sie andererseits mit Blick auf die negativen Eigenschaften, die uns zugeschrieben werden, so gar nichts zu tun haben wollen. Und das gleichzeitig.

Anwältin oder Anwalt zu sein ist dabei – so wird es jedenfalls oft in die Welt gerufen oder gepostet – für viele eine Berufung. Das aber lässt wenig Raum dafür, mit welchem persönlichen Kern wir denn wirklich in der Welt unterwegs sind. Und es kann Druck bedeuten für die, die den Sinn ihres Lebens auch außerhalb der Juristerei sehen, denen noch andere Elemente in ihrem Leben wichtig sind und die diese vielleicht sogar mit in ihrem Job integrieren. Und die damit für mehr Diversität sorgen, für ein bunteres Bild der Juristerei neben dem, das in den letzten Jahrzehnten entstanden ist.

Der wahre Kern

Vielleicht bringt der umgekehrte Weg etwas Erleichterung. Nicht der Beruf muss an sich unsere Berufung darstellen und auch nicht den Kern unserer Identität. Vielmehr dürfen wir den eigentlichen Kern unserer Persönlichkeit mit in den Beruf nehmen und diesen dadurch für uns passend machen. Er wird uns dann auch immer mehr erfüllen. Und gleichzeitig ist dieser Kern unserer Persönlichkeit auch dann noch da, wenn wir gerade nicht anwaltlich unterwegs sind, wenn wir Urlaub haben oder krank sind, in Elternzeit oder wenn wir tatsächlich am Wochenende einfach etwas anderes machen. Wir brauchen dann nicht ununterbrochen die Ausübung der Tätigkeit als Beweis dafür, dass unser Sein eine Berechtigung hat. Und wenn etwas schiefläuft, so ist auch nicht direkt die ganze Person in Frage gestellt. Sondern ein Problem aufgetaucht, das wir lösen können.

Wer sind Sie also noch?

Deshalb: Wer sind Sie noch? Abgesehen von der Anwältin oder dem Anwalt? Der, der immer dazulernen will oder die, die auf alles eine schlagfertige Antwort hat? Die, die gern andere Menschen unterstützt oder der, der Klarheit in komplexe Sachverhalte bringen kann? Der, der Pferde liebt oder die, die Musik braucht, um froh zu sein?

Für diese Anteile in uns einen Raum zu finden auch in der beruflichen Tätigkeit, mag auf den ersten Blick nicht leicht scheinen. Vielleicht passt es aber auch supergut. Und ganz bestimmt ist es eine Möglichkeit, die eigene Identität etwas unabhängig zu machen von der Arbeit, die wir gerade ausüben.

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