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Vorgelegt und dann vergessen? Akten dürfen nicht ewig unbeachtet im Arbeitszimmer liegen

Arbeitstage in Kanzleien haben einen hochfrequenten Dokumentenfluss. Schnell verirrt sich eine Handakte ins Anwaltszimmer, bei der nicht sofort klar ist, warum sie hier gelandet ist. Aber nur weil gänzlich ohne Vermerk oder Fristenhinweis vorgelegt, darf sie nicht einfach länger unbearbeitet bleiben, sagt der BGH. Geht das Gericht aber mit einer eidesstattlichen Versicherung des Anwalts nicht korrekt um, hat der Jurist gute Karten (Beschl. v. 20.10.2022, Az. V ZB 26/22).

 

Anwalt macht unterschiedliche Angaben, wie mit Handakten bei Fristablauf umgegangen wurde

In einer zivilrechtlichen Angelegenheit hatten die Bevollmächtigten die Berufungsfrist versäumt. Diese lief am 16.02.2021 ab, das Gericht wies mit Verfügung vom 19.02.2021 auf den verspäteten Eingang bei Gericht hin. Der Anwalt begründete darauf die Berufung und beantragte zugleich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 233 Abs. 1 ZPO). Ihm seien die Handakten eine Woche vor Fristablauf im „üblichen Geschäftsgang“ vorgelegt worden. Allerdings sei auf den Akten nicht wie üblich ein Hinweis auf die ablaufende Frist vermerkt gewesen. Diese wurden dem Anwalt daher zunächst ohne erkennbaren Anlass vorgelegt. Das OLG wies den Wiedereinsetzungsantrag zurück. Ein Anwalt müsse innerhalb einer Woche einen Blick auch in nicht besonders gekennzeichnete Akten werfen.

Unter dem 06.04.2021 stellte der Anwalt einen (erneuten) Antrag auf Wiedereinsetzung und wich darin von seinen bisherigen Angaben ab. Das OLG blieb hartnäckig: Eine schlüssige Erklärung für diesen nun abweichend geschilderten Ablauf in der Kanzlei sei nicht zu erkennen. Die jetzt widersprüchlichen Angaben des Anwalts machten seinen Vortrag zweifelhaft, ein Entschuldigungsgrund gem. 233 ZPO für die Wiedereinsetzung sei daher nicht glaubhaft gemacht. Im weiteren Verlauf befasste sich nun der BGH damit, ob das OLG hier korrekt gehandelt hatte.

 

Wenn wegen Prozesshandlung vorgelegt, ist sofort in Akte zu schauen - ohne äußerliche Hinweise ist sie allgemein innerhalb einer Woche zu prüfen

In solchen Fällen prüfen Gerichte, ob die versäumte Frist auf anwaltliche Fehler zurückgeht oder aber dem Kanzleipersonal zuzurechnen ist. Wird eine Akte in Verbindung mit einer fristgebundenen Prozesshandlung vorgelegt, muss der Jurist den Ablauf der Fristen eigenverantwortlich prüfen. Die Karlsruher Robenträger haben dies mehrfach durchexerziert (zuletzt u.a. BGH, Beschl. v. 19.02.2020, Az. XII ZB 458/19).

Landet eine Fristsache aber wie hier als nicht erkennbar fristgebunden auf dem Schreibtisch, liegt ebenso ein Anwaltsverschulden vor, wenn die Akte nicht binnen angemessener Zeit überhaupt einmal aufgeklappt wird. Zumindest ist grundsätzlich zu prüfen, ob juristisch etwas zu veranlassen ist. Und wenn ja: wie viel Zeit hierfür (noch) besteht. Der BGH folgt dem OLG auch in dessen Meinung, dass einem Anwalt „hinweislos“ vorgelegte Akten jedenfalls nicht eine Woche lang einfach komplett unbeachtet bleiben dürfen.

 

Zurück auf Anfang: OLG handelt rechtsfehlerhaft und muss deshalb neu entscheiden

Dennoch war der Anwalt mit seiner Rechtsbeschwerde zum BGH erfolgreich. Dies lag daran, dass sich das OLG einen klaren Rechtsfehler geleistet hatte, indem es dem Anwalt keinen weiteren Beweisvortrag ermöglichte. Grundsätzlich ist von der Richtigkeit einer anwaltlichen Versicherung auszugehen. Allerdings hätten dem Gericht hier Zweifel kommen müssen, als der Anwalt in seinen Anträgen plötzlich abweichende Angaben machte. Und wenn ein Gericht im Verfahren der Wiedereinsetzung eine eidesstattliche Versicherung anzweifelt, muss es die Partei hierauf hinweisen und einen Zeugenbeweis erlauben. Das heißt: Das Gericht muss prüfen, ob in der Vorlage der eidesstattlichen Versicherung gleichzeitig ein Beweisangebot liegt, den Anwalt als Zeugen hierzu zu vernehmen. Dies traf hier zu.

 

Anwalt weist erfolgreich auf unzulässig vorweggenommene Beweiswürdigung hin

Mit Schriftsatz vom 19.04.2022 hatte der Anwalt noch einmal ausdrücklich die Angaben aus seinem (zweiten) Antrag auf Wiedereinsetzung vom 06.04.2022 wiederholt. Dieser anwaltliche Vortrag konnte nur als konkludentes Beweisangebot verstanden werden, den Anwalt als Zeugen zu den in der eidesstattlichen Versicherung genannten Tatsachen zu vernehmen. Eben das hätte das OLG dann auch tun müssen. Stattdessen hat es sich hierüber hinweggesetzt und den Antrag auf Wiedereinsetzung trotzdem abgelehnt.

 

Gericht muss nicht mehrfach bitten, wenn eidesstattliche Versicherungen als Anlagen fehlen

Eidesstattliche Versicherungen sind ein häufiges Beweismittel, um darzulegen, wie sich ein Fristversäumnis abgespielt hat und dass fehlerhafte Büroabläufe nicht in die Anwaltssphäre fielen. Wird in einem Antrag auf Wiedereinsetzung auf solche eidesstattlichen Versicherungen Bezug genommen, die dann jedoch als Anlage fehlen, wird das Gericht hierauf hinweisen. Es muss aber nicht ewig warten und schon gar nicht eine zusätzliche Nachfrist setzen oder explizit die Nachreichung noch einmal einfordern, so der BGH (Beschl. v. 20.09.2022, Az. VI ZB 27/22). Der Anwalt hatte hier argumentiert, der gerichtliche Hinweis allein, dass Anlagen fehlen, sei "völlig nichtssagend“. Es gab hier jedoch logischerweise kaum einen Deutungsspielraum, um welche Unterlagen es ging. Hat ein Gericht einmal auf solche fehlenden Beweismittel als Anlagen hingewiesen und eine angemessene Zeit abgewartet (hier: ein Monat), hat der Anwalt genügend Zeit, diese nachzureichen. Tut er dies nicht, kann der Antrag auf Wiedereinsetzung zu Recht zurückgewiesen werden.

 

Keine Zettelwirtschaft, bitte: Kanzleien sind mit schriftlichen Arbeitsanweisungen auf der sicheren Seite

Ebenfalls im vergangenen Jahr wies der BGH darauf hin, dass kleine gelbe Zettel, auf denen Fristdaten stehen und die auf die Akte geheftet werden, nicht den Eintrag im Fristenkalender ersetzen (Beschl. v. 20.09.2022, Az. VI ZB 17/22). Man kann sie natürlich ergänzend auf den vorgelegten Akten anbringen, jedoch müssen Vor- und Ablauffristen stets im Fristenkalender notiert sein. Auf der sicheren Seite sind Anwälte, wenn sie schriftlich dokumentierte und von den Mitarbeitern gegengezeichnete Arbeitsanweisungen verwenden.

In vielen Anwaltskanzleien werden die genauen Arbeits- und organisatorischen Abläufe mündlich besprochen, schriftlich fixiert sind sie hingegen häufig nicht. Dabei sind solche Anweisungen ein adäquates Mittel, um vor Gericht glaubhaft zu machen, wie mit Fristen und der Aktenvorlage in der Kanzlei umgegangen wird. Sie ersparen dem Anwalt im Einzelnen auch umfassenden Sachvortrag, da die Arbeitsanweisungen dem Gericht vorgelegt werden können.

 

Hinweis

Besteht bereits eine Anweisung, kann diese dergestalt erweitert werden, dass Kanzleimitarbeiter Akten nie ohne Gesprächsvermerk oder Notizzettel bzw. fristgebundene Akten ausschließlich deutlich gekennzeichnet vorlegen dürfen. Zusätzlich kann im Rahmen von Tagesendkontrollen festgelegt werden, dass Mitarbeiter die Büroräume auf Aktenbestände kontrollieren und den Anwalt auf solche aufmerksam machen, die scheinbar anlasslos oder ohne tagesaktuellen Bezug vorgefunden werden.

Das entbindet Juristen zwar nicht von ihrer Pflicht, jede Akte binnen einer Woche grundsätzlich immer grob zu prüfen. Eine solche Anweisung dokumentiert jedoch bei Bedarf, dass das Personal umfassend bezüglich der Aktenvorlage und -kontrolle in den Büroräumen belehrt und angewiesen wurde. Dieser Beweisvortrag kann einen Antrag auf Wiedereinsetzung entscheidend stützen oder entscheidend für dessen Erfolg sein (vgl. BGH, Beschl. v. 22.11.2022, Az. XI ZB 13/22).

 

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