Verletzt ein Anwalt seine Pflichten, wenn er sein Büro so organisiert, dass sein Personal elektronische Empfangsbekenntnisse eigenmächtig versenden kann? Allerdings, denn das ist allein der Job der Juristen. Delegiert wird da gar nichts. Im Gegenteil: Wird ein Gericht auch noch vom Anwalt selbst auf mangelhafte Abläufe beim beA-Versand im Büro hingewiesen, manövriert dieser sich noch weiter ins Abseits. Das zeigt eine aktuelle Entscheidung des VGH Hessen (Beschl. v. 28.04.2023, Az. 6 A 2124/22.Z.A).
Der Anwaltsplatz bleibt leer. Der Bevollmächtigte bestreitet, geladen worden zu sein
In einer asylrechtlichen Angelegenheit vertrat der Bevollmächtigte den Kläger vor dem VG Gießen. Das Gericht hatte mit Ladung vom 19.09.2022 eine Verhandlung auf den 02.12.2022 terminiert, den Empfang der Ladung hatte die Kanzlei mit elektronischem Empfangsbekenntnis vom 20.09.2022 bestätigt. Am Terminstag erschienen weder der Kläger noch sein Bevollmächtigter bei Gericht. Die Versuche des Gerichts, diesen telefonisch zu erreichen, blieben erfolglos.
Nachdem das Gericht länger abgewartet hatte, verhandelte es ohne die Beteiligten und entschied durch Urteil. In seinem Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil zum VGH Hessen gab der Anwalt an, keine Ladung erhalten zu haben und versicherte dies auch an Eides statt. Schon für das VG war der Zugang der Ladung angesichts seines elektronischen Empfangsbekenntnisses allerdings offensichtlich gewesen. Der VGH sah dies nicht anders und wies den Antrag auf Zulassung der Berufung zurück (Beschl. v. 28.04.2023, Az. 6 A 2124/22.Z.A). Dies vor allem dann, wenn der Anwalt noch unglücklicherweise durchblicken lässt, dass er es seinem Personal überlässt, Empfangsbekenntnisse loszuschicken.
Anwaltspersonal darf nicht den Empfang einer Ladung bestätigen. Ein „irrtümliches“ Empfangsbekenntnis ist nicht so leicht zu korrigieren
Schon vor der aktiven Nutzungspflicht der digitalen Anwaltspostfächer war es recht schwierig, ein einmal abgegebenes Empfangsbekenntnis zu entkräften bzw. zu beweisen, dass es falsch gewesen ist. Geregelt ist dies nun in § 173 Abs. 3 S. 1 ZPO, wobei die Beweiskraft dieselbe ist wie zuvor bei den Papier-Empfangsbekenntnissen (BVerwG, Beschl. v. 19.09.2022, Az. 9 B 2.22).
„Auch schon vor dem beA bestand die Verpflichtung der Anwältin oder des Anwalts, ein Empfangsbekenntnis selbst zu unterschreiben und zu versenden. Die berufsrechtliche Verpflichtung dazu ergibt sich aus § 14 BORA. Daran hat sich durch das elektronische Empfangsbekenntnis nichts geändert“, sagt Rechtsanwältin Ulrike Silbermann von der Advocatae Kanzlei in Berlin. „Die Vertretung der Unterschriftsleistung beim elektronischen Versand durch nicht-anwaltliche Mitarbeitende stellt einen berufsrechtlichen Verstoß dar. Keinesfalls kann mit einem solchen Verhalten ein Wiedereinsetzungsgesuch begründet werden.“
Nachträglich zu beweisen, dass die gemachten Angaben falsch waren, ist zwar zulässig. Allerdings muss dies so geschehen, dass praktisch jede Möglichkeit, dass die erteilte Bestätigung richtig war, auszuschließen ist (BGH, Beschl. v. 07.10.2021, Az. IX ZB 41/20). Leicht gesäte Zweifel genügen also nicht, es muss handfest das Gegenteil bewiesen sein. Hier stand jedoch fest, dass das am 20.09.2022 erteilte Empfangsbekenntnis sowie Gültigkeit und Integrität der anwaltlichen Signatur korrekt waren. Dass der Anwalt schlicht behauptete, weder er noch sein Personal hätten die Ladung oder ein Empfangsbekenntnis für den Termin zu Gesicht bekommen, stellt keinen Gegenbeweis dar.
Vielmehr manövrierte sich der Anwalt ungeschickt weiter ins Abseits, indem er dem Gericht mitteilte, dass „keine Automatik der Eintragung des Datums bei der Zurücksendung an das Gericht“ erfolge, sondern „dies einer Handlung durch die Sekretärinnen bedarf … wie dies dem Unterzeichner von beiden erklärt worden“ sei. Wer so formuliert, lässt bei Gericht den Eindruck entstehen, dass der Anwalt es seinen Mitarbeitern überlässt, die elektronischen Empfangsbekenntnisse durch die Leitung zu schicken. Das wäre dann ein grobes anwaltliches Organisationsverschulden, so der VGH.
Empfangsbekenntnis wird inhaltlich falsche Urkunde. Wer die Beweislastregeln kennt, achtet besser auf dauerhaft archivierte beA-Nachrichten
Würde das Kanzleipersonal ohne Rücksprache mit dem Anwalt das Empfangsbekenntnis ausfüllen und zurücksenden, würde es eine inhaltlich falsche Urkunde ausstellen. Da das Empfangsbekenntnis qualifiziert elektronisch signiert war, waren nur zwei Abläufe möglich, die allerdings beide mit einer Schuld des Anwalts enden. Denn der hatte entweder seine Signaturkarte selbst eingesetzt, um den strukturierten Datensatz, der das Empfangsbekenntnis darstellt, nach Ausfüllen und vor dem Absenden zu signieren. In diesem Fall wusste er auch von der Ladung. Oder er hatte Mitarbeiter oder gar Auszubildende mit dem Signieren beauftragt, womit man wieder beim groben Pflichtverstoß wäre. Denn hierfür wären Signaturkarte und persönliche PIN des Anwalts nötig gewesen, die dieser nicht herausgeben darf. Wer seine Kanzlei so organisiert, bringt sich dann um alle Chancen, den Rechtsstreit noch zu retten.
Gleiche Anwaltspflichten, aber trotzdem mehr Fehler?
Die Regelung zum Empfangsbekenntnis zeigt, dass die Digitalisierung in der Justiz nicht alle Anwaltspflichten verändert oder verstärkt hat. „Nach meinem Empfinden gibt es mit Zunahme des elektronischen Rechtsverkehrs mehr Fehler, die bei der Versendung durch Mitarbeitende oder die Anwaltschaft entstehen, so dass es natürlich zu mehr Fallbeispielen und Entscheidungen durch die Rechtsprechung kommt“, so Rechtsanwältin Silbermann. „Allerdings gelten beim Versand eines Schriftsatzes über das beA die altbekannten Kontrollpflichten. Diese bestanden schon immer und haben sich durch das Hinzutreten des beA nicht verschärft, sondern die Fälle treten jetzt auf und werden für den neuen Versendungsweg entschieden.“
HinweisInteressant ist ebenfalls, was der VGH zum Gegenbeweis und der Bedeutung archivierter Dateien gesagt hat. Der Anwalt hätte dafür sorgen können, seine elektronischen Ein- und Ausgänge standardmäßig grundsätzlich dauerhaft abzuspeichern, da das beA kein Archivsystem ist. Selbst wenn die Nachrichten nach der Speicherfrist von 90 Tagen im Papierkorb laden, werden sie endgültig erst nach insgesamt 120 Tagen gelöscht. Nach Ablauf der Speicherfrist bleiben also noch 30 Tage, in dem die Daten wiederherstellbar sind. Als der Anwalt am 13.01.2023 sein am 20.09.2022 ans Gericht geschicktes Empfangsbekenntnis zur Kenntnis erhielt, wären ihm also noch (ein paar) Tage geblieben, die Nachrichten zu sichern (Zeitraum 20.09.2022 => 13.01.2023). Heißt nichts anderes als: Export-Dateien sind im elektronischen Rechtsverkehr zentrale Beweismittel. Anwälte, die auf Löschfristen achten bzw. ihre beA-Nachrichten obligatorisch dauerhaft archivieren, haben dann auch bessere Karten in Sachen Beweislast. Und müssen nicht wie der Anwalt in dieser Sache passen, dessen beA-Ein- und Ausgänge vom 19./20.09.2022 bereits gelöscht waren. |