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„Hei, hei advokat!“ Wenn der Anwaltsschreibtisch in Norwegen steht

Einige deutsche Juristen hat ihre Erwerbsbiografie nach Skandinavien geführt. Dr. Roland Mörsdorf gehört zu ihnen. Seit 2008 arbeitet der Jurist in Norwegen, hat sein Büro als Partner der Wirtschaftskanzlei Advokatfirmaet Grette AS in Oslo. Mörsdorf berät Unternehmen und Finanzinvestoren und unterstützt Mandanten, die mit ihrem Geschäft in Norwegen einsteigen wollen. Warum dies schnell schief gehen kann, norwegische Richter ständig Notizen machen und Technik eine größere Hürde als juristisches Handwerk sein kann, erklärt Mörsdorf im Interview.

Dr. Roland Mörsdorf leitet bei der Advokatfirmaet Grette AS, eine der großen norwegischen Wirtschaftskanzleien in Oslo, das German Desk. Es unterstützt deutschsprachige Mandanten vor allem bei wirtschaftsrechtlichen Fragen. Daneben unterstützt er die österreichische Botschaft in Oslo als deren Vertrauensanwalt, engagiert sich bei der Deutsch-Norwegischen Handelskammer in Oslo und ist Vorstandsmitglied der Deutsch-Norwegischen Juristenvereinigung. Mörsdorf kommentiert zudem das norwegische Recht im „Handbuch des Internationalen GmbH-Rechts“ und im Kommentar „Eigentumsvorbehalt weltweit“.

 

Wie groß sind die Unterschiede für einen Juristen, der sich erstmals im norwegischen Justizsystem orientiert?

Wie in Deutschland sind im norwegischen Recht geschriebene Gesetze die Grundlage. Das norwegische Recht ist also kein Case-Law-System. Während aber im deutschen Zivilrecht mit dem BGB ein umfassendes Gesetzeswerk besteht, ist das norwegische Recht in eine Vielzahl von Einzelgesetzen aufgespalten. Es gibt beispielsweise ein Gesetz für den Abschluss von Verträgen, ein Gesetz für die Verjährung, eines zum Verzug, gleich drei verschiedene Gesetze zum Kaufrecht und eines zum Mietrecht. In Deutschland sind die alle im BGB geregelt. Für die Beratung im norwegischen Recht verwende ich in aller Regel die in Norwegen übliche Kommentarliteratur. Bei norwegischen Gesetzen, die auf europäischen Richtlinien beruhen, beispielsweise das Handelsvertretergesetz, oder bei den Rom-Verordnungen zum internationalen Privatrecht, die meist auch inhaltlich in Norwegen angewendet werden, schaue ich aber auch immer in der deutschen Kommentarliteratur nach, die wesentlich ausführlicher und aktueller ist.

 

Etwas ungewohnt, als Jurist derart zweigleisig unterwegs zu sein

Durchaus, aber andererseits werden bestimmte Bereiche wie das Werkvertragsrecht in Norwegen gar nicht gesetzlich geregelt. Hier behilft man sich mit Standardverträgen, die in der Literatur wie Gesetze kommentiert werden. Auch das Justizsystem ist vergleichsweise überschaubar: Bis auf ganz wenige Ausnahmen sind die Amtsgerichte, die sechs Landgerichte und der Oberste Gerichtshof in Oslo für alle Rechtsgebiete zuständig. Es gibt also keine besonderen Arbeitsgerichte, Finanzgerichte, Sozialgerichte und Verwaltungsgerichte wie in Deutschland.

 

Dafür spielt Mündlichkeit vor Gericht eine besondere Rolle. Eine große Umstellung, wenn man es als deutscher Jurist gewohnt ist, auf den schriftsätzlichen Vortrag zu verweisen, aber nun zum Erzähler wird?

Das ist tatsächlich ein gravierender Unterschied, denn in Norwegen gilt nur das als vorgetragen, was in der mündlichen Verhandlung tatsächlich gesagt wird. Allein auf die vorliegenden Schriftsätze zu verweisen, genügt also nicht. Daher ziehen sich mündliche Verhandlungen in Zivilverfahren regelmäßig über mehrere Tage oder gar Wochen hin. Während dieser Zeit laufen die Kosten für die Prozessvertreter weiter, deshalb können Rechtsstreitigkeiten hier auch sehr teuer werden. Die Gerichtskosten, auch wenn sie sich nach der Anzahl der Tage der mündlichen Verhandlung bemessen, fallen hingegen nicht ins Gewicht.

 

Zum Mandat passende Literatur zu erarbeiten, ist auch so eine Sache

Im deutschen Recht können sie irgendeine Frage nehmen und werden meist immer irgendwo eine Antwort finden. Selbst wenn es nur eine abwegige, abstrakte ist. In Norwegen aber findet man zu vielen Fragen keine Antwort – das Land ist eben kleiner, es gibt weniger Gerichte, weniger Rechtsstreite und damit auch weniger Rechtsprechung. Im Prinzip haben sie nur drei Universitäten mit einer vollwertigen juristischen Fakultät, damit auch weniger Professoren, weniger Doktoranden. Es wird also weniger geschrieben und viel weniger produziert. Es ist oft sehr schwierig, Literatur oder auch Rechtsprechung zu finden, man kommt häufig nicht sehr weit. Eine gewisse Vereinheitlichung des Rechts findet aufgrund der sprachlichen Verwandtschaft derart statt, dass man regelmäßig nach Dänemark und Schweden schaut, wie dort rechtliche Einzelfälle gelöst werden. Bezüglich Streitigkeiten ums geistige Eigentum blickt man übrigens auch nach Deutschland, wie spezialisierte Kammern (wie in Düsseldorf) entscheiden, oder auch nach England. Das ist es dann aber auch schon.

 

Beraten Sie eigentlich zu beiden Landesrechten?

Als norwegische Kanzlei beraten wir ausschließlich im norwegischen Recht. Auch ich selbst berate, Vorgespräche ausgenommen, nicht mehr im deutschen Recht. Fragen norwegischer Mandanten zum deutschen Recht gehen an meine Kollegen in Deutschland. Neben meiner norwegischen Zulassung habe ich aber nach wie vor meine Zulassung als deutscher Rechtsanwalt. In aller Regel berate ich Unternehmen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz bei dem Markteintritt in Norwegen und den anschließenden Geschäften. Außerdem berate ich Unternehmen beim Kauf und Verkauf von norwegischen Unternehmen, also bei M&A-Transaktionen, und den nachfolgenden Umstrukturierungen. Das sind dann beispielsweise Verschmelzungen und Spaltungen. Ich berate mit meinen Kollegen auch in allen weiteren Bereichen des Wirtschaftsrechts, in denen ich selbst nicht tätig bin. Über die Jahre sehen wir dann, wie sich das Geschäft der Unternehmen entwickelt – oder eben auch nicht.

 

Sie unterstützen Ihre Mandanten vielschichtig. Was kennzeichnet den Markt dieses Nicht-EU-Landes?

Der Beratungsmarkt in Norwegen ist aufgrund einer Bevölkerung von ca. 5,4 Mio. Einwohnern vergleichsweise klein. Viele denken übrigens bei Norwegen nur an Öl, Gas und Wasserkraft. Das Land ist aber auch in Branchen wie der Papier-, Aluminium-, der Düngemittel- und Waffenproduktion sehr erfolgreich. Ein neuer Bereich ist die Batterieproduktion, um deren Ansiedlung man sich in der jüngsten Vergangenheit sehr stark bemüht. Norwegen bleibt für Unternehmer und Investoren ein interessanter Standort, der juristische Bedarf geht hier kaum aus. Auch wenn Norwegen nicht in der EU ist, gehört das Land dem Europäischen Wirtschaftsraum an, daher gilt das europäische Recht weitestgehend auch hier. Gute Beispiele dafür sind das Handelsvertreterrecht oder – mit gewissen Nuancen – die Regeln zum Betriebsübergang, die in Deutschland in § 613a BGB stehen. Teilweise werden aber Verordnungen inhaltlich angewendet, selbst wenn sie nicht umgesetzt worden sind. Vor allem dann, wenn man ansonsten keine klaren Regeln hat.

 

Norwegen ist allerdings auch nicht Mitglied der Zollunion

Und dieser Punkt macht in der Praxis viel aus. Für den Handel bedeutet das, dass bei der Einfuhr von Waren nach Norwegen Zölle und, vor allem für landwirtschaftliche Produkte, weitere Abgaben anfallen. Außerdem können Unternehmen hier nur dann wirtschaftlich aktiv werden, wenn sie sich zuvor in Norwegen als Zweigniederlassung handelsrechtlich und umsatzsteuerrechtlich registrieren. Anschließend müssen Unternehmen auch einen elektronischen Zugang zu verschiedenen staatlichen Portalen bekommen. Denn Norwegen ist durchdigitalisiert, es geht praktisch nichts mehr auf Papier. All dies bedeutet einen erheblichen zeitlichen und wirtschaftlichen Aufwand.

 

Der sich nicht für jeden lohnt?

Für kleinere Importe und Aufträge in der Tat nicht, insoweit zeigt sich Norwegen als ein geschlossener Markt. Das mag im Widerspruch zu den europäischen Freiheiten stehen, ist aber so. Auf der anderen Seite lassen sich in Norwegen wegen der hohen Kaufkraft und der guten Zahlungsmoral schöne Geschäfte machen, hat man diese Hürden erst einmal überwunden. Man sollte dabei berücksichtigen, dass man in Norwegen eher höherwertige Artikel kauft und man Wert darauf legt, dass Produkte nachhaltig hergestellt werden. Außerdem sind Norweger in technischer Hinsicht sehr offen, so dass Produkte, die als technisch veraltet angesehen werden, nicht gekauft werden, umgekehrt aber für neue technische Entwicklungen gute Marktchancen bestehen. Man muss also den lokalen Geschmack und auch die ungeschriebenen norwegischen Regeln kennen und beachten.

 

Was nicht immer jeder hinbekommt?

Dazu gebe ich ein Beispiel: Ich konnte beobachten, wie Lidl in Norwegen Fuß fassen wollte. Die packten aber überwiegend ihr normales Sortiment in die Läden und nichts von dem, was hier üblicherweise gekauft wird. Norweger kaufen aber letztlich eher das, was sie immer schon gekauft haben. Es ist auch grundsätzlich ein geschlossener Markt, vor allem was Nahrungs- und Lebensmittel betrifft. Da kann ich nicht allein mit Marken oder Produkten kommen, die bislang völlig unbekannt waren.

 

Kein Einzelfall?

Die Fluggesellschaft Wizz Air bekam auch kein Bein auf den Boden. In einem Interview meinte der Vorstandsvorsitzende sinngemäß, man wolle keine gewerkschaftliche Bindung, und beachtete damit prompt nicht, dass man in Norwegen eher sozialdemokratisch orientiert ist, Gewerkschaften gut findet und auch befürwortet. Dass Kabinenpersonal und Piloten nicht in irgendwelchen Konzerngesellschaften im Ausland angestellt sind, sondern in Norwegen, und damit vernünftig bezahlt werden und ordentliche Arbeitsbedingungen haben.

 

Ein Beispiel dafür, wie eher mangelnde interkulturelle Kompetenz zum Scheitern führt als die eigentliche juristische Begleitung

Stimmt. Ich erwähnte ja schon den landestypischen Hintergrund des sozialen Ausgleichs. In der Praxis bedeutet das sehr hohe Steuern und viel Umverteilung durch den Staat. Beispiele sind die Vermögensteuer, die in Norwegen nach wie vor erhoben wird, und die lokalen Grundsteuern, die explizit mit der Umverteilung von Geldern von der einen zu der anderen Bevölkerungsgruppe begründet werden. Beide Steuern sind aber politisch nicht unumstritten. Es gibt auch keinen derart großen Niedriglohnsektor wie in Deutschland. All das muss man wissen, insbesondere auch dann, wenn man ein Projekt durchrechnet, ob sich das in Norwegen wirtschaftlich lohnt. Ansonsten kann es eben zu solchen Fehlschlägen kommen.

 

Sie erwähnten die Digitalisierung in Norwegen, die den Zugang für Unternehmen nicht leicht mache. Warum ist das so? Es gibt zahlreiche Länder wie beispielsweise Estland, die ebenso für einen hohen Digitalisierungsgrad stehen

Wenn Deutsche oder andere Nicht-Norweger hier was aufziehen wollen, müssen sie entweder eine Tochtergesellschaft oder eine Zweigniederlassung gründen. Das ist materiell-rechtlich einfach, sogar einen Tick einfacher als in Deutschland, weil es ohne Beurkundungen geht. So weit, so gut. Die Hürde ist, in die norwegischen Systeme reinzukommen, die sind nahezu ausschließlich elektronisch und erfordern einen speziellen Zugang, man braucht eine norwegische Identifikationsnummer. Wenn man diese dann aber hat, besteht auf dieser Grundlage Zugang zu allen Systemen. Es ist also eine rein praktische, technische Hürde, die man überspringen muss, um hier als Unternehmen digital arbeiten zu können.

 

Dauert es denn lange, bis man die Identifikationsnummer bekommt?

Die Zuteilung dauert ungefähr vier Wochen, die Gründung einer Tochtergesellschaft oder Zweigniederlassung verzögert sich entsprechend. In der Praxis klappt das dann aber. Problematisch ist eher, dass man die Identifikationsnummer eben nicht einfach so bekommt. Man muss stets einen Grund haben, eben eine Gründung oder Erwerb von Immobilien zum Beispiel. Um ein Bankkonto zu eröffnen, braucht man die Nummer, aber das ist nicht Grund genug dafür, dass man die Nummer vorher bekommt. Hier dreht man sich also im Kreis.

 

Was empfehlen Sie Kollegen, die Norwegen als attraktiven Arbeitsort sehen?

Wer als Jurist hier arbeiten will, hat eigentlich immer die Chance, einen Job zu finden. Oftmals dann aber entweder im nicht-juristischen Bereich oder In-house bzw. im Vertragsmanagement. In allen Fällen ist erforderlich, dass man die norwegische Sprache schriftlich und mündlich sehr gut beherrscht. Ich empfehle immer, die deutsche Ausbildung mit beiden Staatsexamina zu beenden, da sie die Grundlage einer anwaltlichen Zulassung in Deutschland bilden, was wiederum bei der Jobsuche in Norwegen und generell im Ausland hilft.

 

Muss man in Norwegen als Anwalt zugelassen sein?

Die norwegische Zulassung ist nicht zwingend, als Anwalt mit einer Zulassung in einem EWR-Land kann man in Norwegen anwaltlich tätig sein. Man kann dann als EWR-Anwalt arbeiten, führt auch den deutschen Titel „Rechtsanwalt“ oder EWR-Anwalt, den norwegischen Titel darf man aber nicht führen. Wer in Deutschland als Anwalt zugelassen ist und auch die norwegische Zulassung will, kann ein Staatsexamen im norwegischen Strafrecht machen, öffentliches Recht und Zivilrecht. Das ist konzipiert für Juristen, die keine norwegische Zulassung haben. Oder man weist nach, mindestens drei Jahre hier gearbeitet und hauptsächlich mit norwegischem Recht zu tun gehabt zu haben. Dann kann man die norwegische Zulassung beantragen, was vergleichsweise unproblematisch ist. Erst dann darf auch der norwegische Titel „Advokat“ auf dem Büroschild stehen.

 

 

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