Einsatz von Legal Tech in Kanzleien
Die European Lawyers Foundation hat 2022 in englischer Sprache eine Übersicht über KI-basierte Tools, die Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte nutzen können, erstellt, die auch eine Aufteilung nach Tätigkeiten enthält (ELF, Guide on the use of Artificial Intelligence-based tools by lawyers and law firms in the EU, 2022, S. 20 ff. [16.2.2023]).
Legal-Tech-Anwendungen können bei der Erstellung von Dokumenten helfen, entweder, indem sie bei dem Erstellungsprozess unterstützen oder indem sie diesen automatisieren.
Hinweis:Die automatisierte Erstellung von Dokumenten wird auch mit den Begriffen „Vertragsautomation“, „Vertragsgenerator“, „Dokumentengenerator“ „Document Automation“, „Contract Automation“, „Contract Builder“ oder „Document Assembly“ beschrieben. Es erfolgt eine softwaregestützte Generierung individualisierter Dokumente auf Grundlage dynamischer Dokumentenvorlagen. Die Qualität dieser Anwendungen hängt von der Qualität der ihnen zugrunde liegenden Wissensarchitektur ab, d.h. der Arbeitsprozess bei der Erstellung des Dokuments wird in einem sog. Entscheidungsbaum abgebildet. Dieser kann bei vielen sog. No-Code-Anwendungen auch ohne Programmierwissen über ein sog. Authoring Tool selbst erstellt werden (BIALLAß in: Ory/Weth, a.a.O., Kapitel 8 Rn 20 ff. m.w.N.). |
Teilweise wird zwischen der reinen Erstellung von Dokumenten und sog. „juristischen Expertensystemen“ bzw. „Legal Process Automation“, „(Online-)Rechts-Generatoren“ oder „Entscheidungshilfesystemen“ unterschieden. Letztere unterstützen nicht nur bei der Dokumentenerstellung, sondern auch bei der dahinterstehenden Entscheidungsfindung (BIALLAß in: Ory/Weth, a.a.O., Kapitel 8 Rn 26).
Ein weiteres Einsatzgebiet ist die Analyse von juristischen Dokumenten. In dieses fallen e-Discovery-Anwendungen, die Dokumente oder Dokumententeile Klassen zuordnen (ELF, Guide on the use of Artificial Intelligence-based tools by lawyers and law firms in the EU, S. 24 f.).
Beispiel:
Bekannt ist e-Discovery v.a. durch die Nutzung im anglo-amerikanischen Rechtskreis. Dort werden e-Discovery-Tools i.R.d. Pre-Trial-Discovery und bei der Bearbeitung von Sachverhalten, die die Durchsuchung großer Datenmengen zur Klärung, wer zu welchem Zeitpunkt in einem Unternehmen eine Entscheidung getroffen hat oder Kenntnis von einem Sachverhalt hatte, eingesetzt (s. hierzu M. HARTUNG in: Hartung/Bues/Halbleib, Legal Tech, 2018, Rn 31).
Weiterhin ist es aber auch möglich, den Inhalt von Dokumenten nach relevanten Informationen zu durchsuchen, z.B. bestimmten Fakten oder Vertragsklauseln. Dies wird als „Dokumentenanalyse“ oder „Document Review“ bezeichnet (ELF, Guide on the use of Artifiial Intelligence-based tools by lawyers and law firms in the EU, S. 26).
Beispiel:
Der Haupteinsatzbereich von Dokumentenanalyse in der Anwaltschaft dürfte immer noch die Durchführung von Due-Diligence-Prüfungen bei Mergers & Acquisitions Transaktionen sein (zahlreiche Fundstellen hierzu finden sich bei BIALLAß in: Ory/Weth, a.a.O., Kapitel 8 Rn 44).
Vielfach nutzen Anwendungen beide Funktionen. Sie suchen nach bestimmten Informationen, z.B. problematischen Klauseln, um die entsprechenden Dokumente dann als relevant zu markieren (ELF, Guide on the use of Artificial Intelligence-based tools by lawyers and law firms in the EU, S. 26 f.).
Die Anwendungen basieren auf Wahrscheinlichkeitsprognosen, d.h. sie nehmen die Klassifikation anhand des Vorkommens von bestimmten Begriffen in spezifischen Konstellationen, Zusammenhängen oder Häufungen vor (BIALLAß in: Ory/Weth, a.a.O., Kapitel 8 Rn 36 m.w.N.).
Es gibt auch Anwendungen, die bei der Ermittlung von relevanter Rechtsprechung und Gesetzgebung unterstützen, wobei die erstgenannte Funktion in Rechtskreisen des Common Law noch größere Relevanz hat. Sie können sog. „predictive justice“-Tools sein, d.h. den künftigen Ausgang eines neuen Falls prognostizieren (ELF, Guide on the use of Artificial Intelligence-based tools by lawyers and law firms in the EU, S. 27 ff.).
Hinweis:Prognosesoftware sagt durch Verwendung von maschinellem Lernen und Natural Language Processing die Wahrscheinlichkeit, einen Fall vor Gericht zu verlieren oder zu gewinnen, voraus. Es werden statistische Modelle auf der Grundlage von vorherigen Entscheidungen erstellt. Wichtig ist es, sich bewusst zu machen, dass Prognosesoftware nicht in der Lage ist, juristische Erwägungen anzustellen. Um die künftige Entscheidung vorzuschlagen, werden stattdessen die Korrelationen zwischen den verschiedenen Parametern von Entscheidungen identifiziert. Zwischen zulässigen und unzulässigen Parametern kann nicht unterschieden werden. Grundlage für die Vorhersage können sowohl vollständige Entscheidungen als auch bestimmte Metadaten von Entscheidungen sein (s. BIALLAß in: Ory/Weth, a.a.O., Kapitel 8 Rn 61 ff. m.w.N.). Metadaten sind strukturierte Daten, die Informationen über Merkmale der Datei, auf die sie sich beziehen, enthalten. Für den hiesigen Einsatzzweck sind die relevanten Metadaten solche, die die Urteilsfindung beeinflusst haben. |
Legal-Tech-Anwendungen können auch zum „Profiling“ von Verfahrensbeteiligten eingesetzt werden (ELF, Guide on the use of Artificial Intelligence-based tools by lawyers and law firms in the EU, S. 32). Daten aus Gerichtsentscheidungen können mit personenbezogenen Daten aus anderen Quellen, z.B. sozialen Medien, verknüpft werden, um durch die Nutzung von Querverweisen hypothetische Vorurteile aufzudecken. Dies wird als Richterprofiling bezeichnet (s. hierzu European Ethical Charter on the use of artificial intelligence in judicial systems der CEPEJ, S. 27 f. [26.2.2023]).
Hinweis:Seit 2019 verbietet es Art. 33 II 1 Loi n° 2019-222 du 23 mars 2019 de programmation 2018-2022 et de réforme pour la justice, dessen Regelung in Art. L111-13 des Code de l‘organisation judiciaire integriert worden ist, in Frankreich, Informationen über einzelne Richter zu sammeln und systematisch auszuwerten. |
Diktiersoftware ermöglicht die automatisierte Umwandlung von Sprache in Text (ELF, Guide on the use of Artificial Intelligence-based tools by lawyers and law firms in the EU, S. 33). Sie hat erhebliches Potenzial zur Entlastung des Backoffice (SOMMER/MORSBACH, Rethinking Law 5/2022, S. 12, 13).
Chatbots haben großes Potenzial zur Kontaktpflege mit den Mandantinnen und Mandanten und können die Basis für eine Online-Präsenz einer Kanzlei bilden (ELF, Guide on the use of Artificial Intelligence-based tools by lawyers and law firms in the EU, S. 34 f.). Es handelt sich um automatisierte oder autonome Dialogsysteme (LORENZ, K&R 2019, 1). „Legal Chatbots“ können Dialoge über juristische Sachverhalte führen (HÖTTE/BÄUMER/BIALLAß/SOMMERFELD, CR 2021, 770 f.).
Beispiel:
Das wohl immer noch bekannteste Beispiel für einen Legal Chatbot ist der durch JOSHUA BROWDER entwickelte Chatbot „DoNotPay“. Ein erstes Einsatzgebiet war die Prüfung der Rechtmäßigkeit von Bußgeldbescheiden in Verkehrsordnungswidrigkeitsverfahren (KUHLMANN, Legal Tech: Chatbots: Virtuelle Assistenten des Rechts, in: Legal Tribune Online, 21.3.2017, [25.2.2023]).
Zudem gibt es auch Legal-Tech-Lösungen, die bei der Kanzleiadministration unterstützen und hierdurch eine Effizienzsteigerung herbeiführen (ELF, Guide on the use of Artificial Intelligence-based tools by lawyers and law firms in the EU, S. 36).
Beispiel:
Einsatzfälle sind die Erfassung der anwaltlichen Arbeitszeit, das Dokumentenmanagement (das durch den Einsatz von Anwendung zur Erstellung von Dokumenten erleichtert werden kann), die Mandatsverwaltung und die Rechnungslegung (ELF, Guide on the use of Artificial Intelligence-based tools by lawyers and law firms in the EU, S. 36 f.).
Übersichten über „Legal Tech-Angebote für Kanzleien“ finden sich beispielsweise auf https://legal-tech.de/marktuebersicht-170-legal-tech-angebote/ [23.3.2023] mit Stand März 2023 oder auf der von DOMINIK TOBSCHAL Lerstellten Seite über „LegalTech in Germany“ [26.2.2023] mit Stand 2019.
Legal-Tech-Unternehmen
Ebenfalls von Legal Tech ist im Zusammenhang mit Online-Rechtsdienstleistern die Rede, die Rechtsdienstleistungen direkt Verbrauchern anbieten und hierdurch in Konkurrenz zu Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten treten. Sie setzen Legal Tech zur effizienten Bearbeitung massenhaft gleichgelagerter Fälle ein (FIEDLER/GRUPP, DB 2017, 1071, 1075).
Sie sind auf ein oder mehrere klar begrenzte Rechtsgebiete spezialisiert, auf dem zahlreich gleichgelagerte Fälle akquiriert werden können. Beispielsweise ist „Conny“ – berühmt durch die BGH-Rechtsprechung zu seinem Angebot weniger-miete.de (s. dazu BGH, Urt. v. 27.11.2019 – VIII ZR 285/18, ZAP EN-Nr. 2/2020) – auf die Durchsetzung juristischer Ansprüche aus dem Bereich des Mietrechts spezialisiert.
Das Tätigkeitsfeld von FlightRight, des Pioniers der deutschen Legal-Tech-Unternehmen, sind Ansprüche nach der EU-Fluggastrechteverordnung.
Hinweis:In seiner Dissertation „Legal Tech-Anwendungen“ aus dem Jahr 2020 hat DANIEL TIMMERMANN eine ausführliche Übersicht über die im Einsatz befindliche Legal Tech erstellt. |
Viele Legal-Tech-Unternehmen werden aufgrund einer Inkassolizenz gem. § 2 Abs. 2 RDG tätig. Bereits 2019 entschied der BGH, dass der Begriff der Rechtsdienstleistung in Gestalt der Inkassodienstleistung großzügig auszulegen sei (BGH, Urt. v. 27.11.2019 – VIII ZR 285/18, a.a.O.). Es folgten zahlreiche weitere in die gleiche Richtung gehende Urteile, z.B. BGH, Urteile:
- v. 8.4.2020 – VIII ZR 130/19, juris Rn 30 ff.;
- v. 27.5.2020 – VIII ZR 121/19, juris Rn 19 ff.;
- v. 27.5.2020 – VIII ZR 31/19, juris Rn 23 ff.;
- v. 27.5.2020 – VIII ZR 128/19, juris Rn 27 ff.;
- v. 27.5.2020 – VIII ZR 129/19, juris Rn 27 ff.;
- v. 19.1.2022 – VIII ZR 123/21;
- v. 30.3.2022 – VIII ZR 256/21;
- v. 30.3.2022 – VIII ZR 358/20.
Es gibt aber auch Legal-Tech-Unternehmen, deren Geschäftskonzept die Einziehung der Forderung auf eigene Rechnung, d.h. ein echtes Factoring, vorsieht (z.B. die RightNow GmbH, B. QUACH in: Chibanguza/ Kuß/Steege, Künstliche Intelligenz, S. 1137 f. spricht von Consumer Claims Purchasing).
Legal-Tech-Unternehmen, die Vertragsgeneratoren online anbieten, haben nicht die Möglichkeit, eine Erlaubnis nach § 10 RDG zu beantragen, da eine solche nur für Inkassodienstleistungen, Rentenberatung und Rechtsdienstleistungen im ausländischen Recht erteilt werden kann. Es stellte sich somit die Frage, ob sie durch ihre Tätigkeit eine (unerlaubte) Rechtsdienstleistung erbringen.
Der BGH hat mit einem den Dokumenten- und Vertragsgenerator „Smartlaw“ betreffenden Urt. v. 9.9.2021 (I ZR 113/20, ZAP EN-Nr. 58/2022) entschieden, dass der Betrieb eines Vertragsgenerators keine erlaubnispflichtige, außergerichtliche Rechtsdienstleistung i.S.v. § 2 RDG darstellt. Mithilfe des Vertragsgenerators konnten – nach der Beantwortung einer Vielzahl abstrakter Fragen – Rechtsdokumente, insb. Verträge verschiedenen Inhalts, generiert werden. Die Erstellung des gewünschten Dokuments stelle keine Tätigkeit in einer konkreten Angelegenheit dar.
Stattdessen seien die Lösungen von fiktiven Einzelfällen hinterlegt, auf deren Grundlage das Dokument generiert werde. Spannend wird es, wenn bei einem künftigen Vertragsgenerator ein LLM zum Einsatz kommt. Da dieses nicht aufgrund von hinterlegten Einzelfällen regelbasiert arbeitet, könnte es die vom BGH gesetzte Hürde für die Bejahung einer Rechtsdienstleistung überwinden.
Inhalt der Reihe:
- Was sind Legal Tech und Künstliche Intelligenz?
- Einsatzfälle von Legal Tech in Kanzlei und Unternehmenspraxis
- Legal Tech: In Kürze wahrscheinliche Einsatzgebiete
- Künftige Entwicklungen von Legal-Tech-Anwendungen
- Legal-Tech-Anwendungen: Prognose und Fazit
Zuerst erschienen in: ZAP Nr. 7 | 13.4.2023; Ändern Legal-Tech-Anwendungen die Arbeit der Anwaltspraxis? (S. 351 – 360)