Dass juristische Fachbegriffe ein subjektives und ein objektives Element aufweisen, ist AnwältIn nichts Neues. Nur beim Thema „Eilbedürftigkeit“ scheint mir dieses Wissen immer wieder abhanden zu kommen.
„Die Mandantin sagt, es sei eilig.“ Mein netter menschlicher Anrufbeantworter wartet keine Zustimmung ab, bevor er durchstellt. Leider hat die eilige Dame bereits aufgelegt. Vermutlich war inzwischen meine Antwort-Frist abgelaufen. Die Verbindungsanzeige enthüllt eine Gesamtdauer des Gesprächs von 58 Sekunden. Ich bin begeistert. Prokrastination ist ja so was von vorgestern, Zeit Geld und nicht zu verschwenden. Chapeau!
Ein paar Arbeitsminuten später trudelt eine E-Mail ein. Ich möge bitte anrufen. Es sei unglaublich dringend. Selbstverständlich ist die Mail mit rotem Fähnchen versehen.
Ich rufe zurück, 10 Sekunden nach dem Gong, der den Mail-Eingang verkündete. Die nette Anrufbeantworterin am anderen Ende der Leitung verweist mich eilfertig auf den bereits eingetretenen Feierabend, ich im Gegenzug auf die als eilig eingegangene E-Mail. Wir einigen uns auf einen sofortigen Anruf auf dem Mobiltelefon der eiligen Mandantschaft.
Die hebt auch gleich ab. Sie sei beim Friseur, verkündet sie mir, danach bei der Kosmetik. Ich stammele störungs-schuldbewusst etwas von ihrer rot-befahnten Mail mit Dringlichkeitscharakter. „Ach“, meint sie, und ich kann ihr Achselzucken förmlich hören, das schreibe sie immer so. Sie habe dann jetzt auch Feierabend. Nice.
Solche Szenen wiederholen sich, leider mit zunehmender Frequenz. Jedes Mal fühle ich mich naturgemäß unglaublich wertgeschätzt. Schon als Berufsanfänger verstand ich beim grußlosen Durchrauschen der Partnerlöwen durch den Flur: Wer eilig tut, tut wichtig. Erst später trat die Erkenntnis hinzu: Selten genug ist er/sie/es es auch.
Dem alarmierenden Klang des gesprochenen Wortes entspricht das rote Ausrufezeichen an der E-Mail, der rote Punkt am digitalen Dokument oder – für die, die das noch nutzen – die rote Umlaufmappe mit dem riesigen schwarzen „EILT SEHR! BITTE SOFORT VORLEGEN!“–Aufdruck im grauen Behördenalltag.
Was sich darin befindet, muss, das sollte einem bewusst sein, der Aufschrift nicht entsprechen. Sie soll nur Anreiz bieten, hineinzusehen. Ein Trigger sein für fristgetrimmte, haftpflichtversicherungsgebeutelte Juristen, so, wie die Aufschrift „GEHEIM“ für den ambitionierten investigativen Journalisten gleicher Buchstabenkombination.
Nun ist Falschbezeichnung kein Straftatbestand, sondern – wenn nicht gar unschädlich – nur ein Irrtum. Oft genug ein von MandantIn und AnwältIn gemeinsam gehegter. Schließlich: Wo in eiligen Hüllen oft wenig Dringliches steckt, kommen wirklich eilige Anliegen oft auf leisen Sohlen durch die Hintertür der Kanzlei geschlichen. Beim eilig zu fällenden Urteil ist also anwaltliche Vorsicht geboten.
Meiner Eil-Urteilsfindung steht, nach einem objektivierenden Hab‘s-gesehen-Klick, seit Jahren ein dem berühmten Schriftsteller Stephen King zugeschriebener Aphorismus bei:
“Fool me once, shame on you. Fool me twice, shame on me. Fool me three times, shame on both of us.” (Grob übersetzt: „Halte mich einmal zum Narren, schäm‘ du dich. Hältst du mich zweimal zum Narren, sollte ich mich schämen. Hältst du mich dreimal zum Narren, müssen wir uns beide schämen.“)
Kurzgefasst: Ich lasse die Unschuldsvermutung gelten, aber lerne aus Erfahrungen. Die Dame mit den selbst eingestandenen Dauer-Fähnchen an den E-Mails wird mich wohl so schnell nicht mehr vom Feierabend abhalten. Andere Rot-Fähnchen-Versender sehr wohl.
In akut-überfordernden Irrtumslagen mit anschließendem Adrenalin-Absturz allerdings neige ich zu schwarzhumorigen Übersprungshandlungen: Ich greife zum Telefon und rufe meine Lieblingsärztin an. Es sei eilig, sage ich ihr mit Blick auf die Tafel mit der durchschnittlichen Lebenserwartung meines Jahrgangs und Geschlechts. Die zeigt nur noch Jahrzehnte! „Sehr, sehr, eilig“, füge ich wahrheitsgemäß hinzu. „Ich werde sterben.“
Sie lacht. „Kein Eile. Du kannst auch so rüberkommen. Kaffee ist fertig.“
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