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Das Strafbefehlsverfahren: unentschuldigtes Ausbleiben des Angeklagten
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Das Strafbefehlsverfahren: unentschuldigtes Ausbleiben des Angeklagten

4.a) Ist zu Beginn der HV der Angeklagte unentschuldigt ausgeblieben und auch nicht wirksam durch einen Verteidiger vertreten, muss das Gericht nach § 412 S. 1 den Einspruch verwerfen (OLG Brandenburg wistra 2012, 43). Die Verwerfung ist beim Vorliegen der Voraussetzungen des § 412 zwingend (Meyer-Goßner/Schmitt, § 412 Rn 1; KK/Maur, § 412 Rn 10).

Für eine genügende Entschuldigung gilt dasselbe wie für das Ausbleiben des Angeklagten in der Hauptverhandlung oder für die Berufungsverwerfung wegen Ausbleibens des Angeklagten. Eine genügende Entschuldigung kann z.B. gegeben sein, wenn eine zum Schutz des Angeklagten notwendige Pflichtverteidigerbestellung unterblieben ist und der Verletzte sich auf eigene Kosten eines Rechtsanwalts als Beistand bedient (OLG Stuttgart StV 2009, 12). Legt der Angeklagte ein ärztliches Attest vor und hat das Gericht Zweifel an dessen Richtigkeit, muss es diese klären (LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 5.2.2024 – 12 Qs 3/24); der bloße Verdacht einer Unrichtigkeit des Attests rechtfertigt eine Verwerfung des Einspruchs nicht (Meyer-Goßner/Schmitt, § 329 Rn 22). Für die Verwerfung des Einspruchs ist die wirksame Zustellung des StB Voraussetzung (BayObLG NStZ-RR 1999, 243 m.w.N.; s.a. BVerfG NJW 2001, 1563; zur Zustellung a. Seifert, StV 2018, 123 m.w.N.; EuGH NJW 2018, 142). Auch muss der Angeklagte mit der Ladung zur HV auf die Rechtsfolgen eines unentschuldigten Ausbleibens hingewiesen worden sein (LG Braunschweig, Urt. v. 12.2.2020 – 5 Ns 301/19, StV 2021, 29 [Ls.]).

Bei der Prüfung der Frage, ob das Ausbleiben des Angeklagten hinreichend entschuldigt ist, ist, da es sich um den ersten Zugang zum Gericht handelt, ein weiter Maßstab anzulegen (KG, Beschl. v. 12.5.2020 – (5) 161 Ss 101/19 (19/19) m.w.N.; LG Braunschweig, a.a.O.). Der allgemeine Grundsatz, dass die Gerichte bei der Auslegung und Anwendung verfahrensrechtlicher Vorschriften den Zugang zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschweren und insbesondere bei Vorschiften, die die Gewährung rechtlichen Gehörs sichern sollen, keine überspannten Anforderungen stellen dürfen, ist im StB-Verfahren aufgrund seines summarischen Charakters und der mit seiner Ausgestaltung verbundenen Risiken in besonderem Maße zu beachten (KG a.a.O., auch BVerfG, Beschl. v. 5.10.2020 – 2 BvR 554/20, StV 2021, 213).

 

Die Verwerfung des Einspruchs nach § 412 S. 1 ist aber nur zulässig, wenn der Angeklagte zu einem ersten HV-Termin nicht erschienen ist. Eine Verwerfung nach begonnener, aber unterbrochener HV in einem Fortsetzungstermin ist nicht möglich (LG Chemnitz StraFo 2017, 337). Im Falle der Unterbrechung der HV ist nach § 231 Abs. 2 zu verfahren. Etwas anderes gilt, wenn die HV ausgesetzt wurde und der Angeklagte zum erneut angesetzten HV-Termin nicht erscheint (LG Chemnitz, a.a.O.).

 

b) Hinweis für den Verteidiger!

aa) Ist der Verteidiger als Vertreter des Angeklagten erschienen, verhindert das ein Verwerfungsurteil, und zwar auch dann, wenn nach § 236 das persönliche Erscheinen des Angeklagten angeordnet war (BayObLG MDR 1970, 608; 1978, 510; OLG Celle NJW 1970, 906; OLG Düsseldorf StV 1985, 52; OLG Hamburg NJW 1968, 1687; Meyer-Goßner/Schmitt, § 412 Rn 5). Der Verteidiger muss aber eine nachgewiesene Vertretungsvollmacht Ist der Verteidiger verhindert, z.B. wegen Erkrankung, wird das i.d.R. im Hinblick auf das Verteidigungsinteresse des Angeklagten einer Verwerfung des Einspruchs entgegenstehen (BayObLG NStZ-RR 2002, 79). Der Einspruch darf auch dann nicht verworfen werden, wenn der Verteidiger unter Verstoß gegen § 218 nicht geladen worden ist (OLG Köln VRS 98, 139).

Will das Gericht nicht ohne den Angeklagten verhandeln, kann/muss es ggf. sein Erscheinen in der HV erzwingen, und zwar durch Vorführung oder durch Anordnung der Haft nach § 230. Das Gericht hat dabei aber mit Rücksicht auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vor Erlass des HB zu prüfen, ob es die HV trotz des Ungehorsams des Angeklagten durchführen kann, ohne dass Einbußen bei der Wahrheitsfindung, der gerechten Beurteilung des Falls und der gebotenen Einwirkung auf den Angeklagten durch das Verfahren zu besorgen sind. Ist dies der Fall, ist der Erlass eines HB unverhältnismäßig. Die Haft dient überdies nur der Sicherung der Anwesenheit des Angeklagten in der HV und nicht der Sanktionierung von Ungehorsam (OLG Hamburg, Beschl. v. 4.6.2020 – 2 Ws 72/20; LG Berlin NJW-Spezial 2010, 282; KG NJW 2007, 2345).

 

bb) Zur Vertretung des Angeklagten gehört i.d.R. nur, dass der bevollmächtigte Verteidiger für den Angeklagten anwesend ist und den Angeklagten vertreten will. Zu einer weiteren Mitwirkung an der HV ist er – ebenso wie der Angeklagten selbst – nicht verpflichtet (KG StraFo 2010, 427; OLG Celle NStZ-RR 2009, 353 [Ls.]; OLG Köln StV 1993, 292). Vielmehr kann er sich darauf beschränken, anwesend zu sein und damit zu erkennen zu geben, dass er bereit ist, von den Rechten des Angeklagten in der HV Gebrauch zu machen (KG, a.a.O.; OLG Celle, a.a.O.). Aus dem bloßen Schweigen des Verteidigers und dem Absehen von einer Antragstellung lässt sich nicht schlussfolgern, dass er nicht vertretungswillig ist; hierfür bedarf es vielmehr eindeutiger Indizien (KG, a.a.O.; OLG Bremen StRR 2008, 148; OLG Celle, a.a.O.). Deshalb wird der Angeklagte auf jeden Fall auch dann vertreten, wenn der Verteidiger erklärt, er habe zwar keine Informationen des Mandanten erhalten, gleichwohl aber zur Sache verhandelt (OLG Düsseldorf MDR 1958, 623; Meyer-Goßner/Schmitt, § 411 Rn 6 m.w.N.).

Vertretung liegt aber nicht vor,

  • wenn der Verteidiger nach Beginn der HV erklärt, er könne sich mangels ausreichender Information zur Sache nicht äußern und dann das Mandat niederlegt (Meyer-Goßner/Schmitt, § 329 Rn 16; a.A. BayObLG NJW 1981, 183),
  • er nur einen auf Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten gestützten Aussetzungsantrag stellt (KG JR 1985, 343; a.A. OLG Köln StV 1992, 567 [Verteidiger war bereit, bei Ablehnung des Aussetzungsantrags auch ohne den Angeklagten zu verhandeln]).

 

c) §§ 412 S. 1, 329 Abs. 3, 315 kann der Angeklagte innerhalb einer Woche nach Zustellung des seinen Einspruch gegen den Strafbefehl verwerfenden Urteils nicht nur Berufung einlegen, sondern unter den Voraussetzungen der §§ 44, 45 auch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragen. Zuständig für den Wiedereinsetzungsantrag ist gem. § 46 Abs. 1 das AG. Daran ändert sich nichts durch eine ggf. gem. § 321 erfolgte Vorlage der Akten an das Berufungsgericht. Denn die Säumnis, hinsichtlich derer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand begehrt wird, ist im (Strafbefehls-)Verfahren des AG eingetreten mit der Folge, dass dieses Gericht bei rechtzeitiger Handlung (Erscheinen des Angeklagten im Einspruchstermin) zur Entscheidung in der Sache berufen gewesen wäre (§ 46 Abs. 1 i.V.m. §§ 412 S. 1, 329 Abs. 1 S. 1; OLG Brandenburg StRR 2014, 403 [Ls.]; OLG Frankfurt am Main NStZ-RR 2006, 215). Hat der Angeklagte sowohl Berufung eingelegt als auch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt, so ist gem. § 315 Abs. 2 S. 2 zunächst bis zum Eintritt der Rechtskraft einer hierüber ergehenden Entscheidung über das Wiedereinsetzungsgesuch zu befinden. Erst – und nur im Fall – rechtskräftiger Ablehnung des Wiedereinsetzungsantrags wird das Berufungsverfahren betrieben (OLG Brandenburg, a.a.O.; Meyer-Goßner/Schmitt, § 315 Rn 2).

 


 

Ein Auszug aus dem Buch Burhoff (Hrsg.), Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 11. Auflage, 2024, Teil S Rdn. 3083-3089

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