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Alle wissen es, keiner sagt was: Alkohol am Arbeitsplatz

Es ist eines der sensibelsten Themen im Job überhaupt: Gefährdete oder alkoholkranke Mitarbeiter und Vorgesetzte. Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen schätzt rund fünf Prozent der Arbeitnehmer in Deutschland als alkoholabhängig, bei Führungskräften bis zu 10 Prozent. Deutliche Zahlen. So vielschichtig sich Suchtgründe und Verläufe von Abhängigkeiten auch zeigen, haben Arbeitsverdichtung, Stress und hohe Verantwortung ihren Anteil an der Entwicklung von riskanten Konsummustern. Faktoren also, die auch der Anwaltsbranche nicht fremd sind.

Das Jahrbuch Sucht der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.V. beziffert die volkswirtschaftlichen Kosten durch Alkohol laut einer Studie aus 2020 auf jährlich rund 57 Milliarden Euro. Süchte machen keinen Bogen um bestimmte Berufsgruppen, allerdings gelten einige als höher gefährdet. Von körperlichen und finanziellen Folgen abgesehen, belastet die Situation in ihrer individuellen Ausprägung auch einen Kanzleibetrieb enorm und kann die Existenz bedrohen.

Aber wie verhält man sich, wenn man als Angestellter, Bürovorsteher oder Kanzleipartner bemerkt, dass sich ein Suchtproblem bei Arbeitskollegen andeutet? Die Diplom-Psychologin Heike Herzberg arbeitet seit 30 Jahren in der Suchtberatung bei PBAM Therapeutische Arbeitsgemeinschaft und leitet die psychosoziale Beratungs- und Behandlungsstelle für Alkohol- und Medikamentenabhängige in Berlin-Wilmersdorf. Ein Gespräch über hohe Arbeitslast, Strategien, um Betroffene wirkungsvoll anzusprechen, und warum viele weitere Faktoren eine Rolle spielen.

 

Welche Personen suchen Sie auf?

Je nach lokalem Standort haben Suchtberatungen auch eine unterschiedliche berufliche Klientel. Hier im eher bürgerlichen Stadtteil Wilmersdorf leben viele Selbständige, Unternehmer, Anwälte, Künstler und Ärzte. Wir beraten Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen gerade beginnen, sich mit ihrem Konsumverhalten auseinanderzusetzen, bis hin zu Personen, die bereits schwer chronifiziert sind. Außerdem suchen natürlich auch Angehörige Rat bei uns.

 

Ist die Unterstützung selbständig tätiger Personen schwieriger?

Bei Freiberuflern wie Anwälten ist zum einen häufig ein Problem, welche private Krankenversicherung sie haben. Bei einem vergleichsweise einfachen Tarif können die Kosten für Suchtbehandlungen ausgeschlossen sein. Zum anderen droht ein Verdienstausfall.  Je nach Einzelfall empfiehlt sich vielleicht eine längere stationäre Reha-Maßnahme, dies ist dann bei einem Angestellten etwas einfacher zu thematisieren, der sich krankschreiben lassen kann. Bei einem Selbständigen schrillen da eher alle Alarmglocken. Für ihn ist es häufig schwerer, was seine längere Abwesenheit und den Verdienstausfall betrifft, deshalb muss man da auch anders herangehen. Natürlich werden Behandlungen von dieser Gruppe häufig auch geschoben oder vermieden. Deshalb beobachten wir mitunter auch dramatische und tragische Abstiege, weil der finanzielle Druck immer größer wird. Und wenn dann Angestellte zu bezahlen sind, gerade ein Haus gebaut wurde und Schulden bestehen, bilden sich da rasch fatale Verstrickungen.

 

Sehen Sie diese Gruppe als besonders gefährdet?

Ich würde vermuten, dass Anwälte zu einer Gruppe gehören, die stärker gefährdet ist, ähnlich wie beispielsweise Ärzte. Es gibt eine hohe Arbeitsbelastung, viel Verantwortung, der Erfolg des Mandanten hängt täglich von guter Arbeit und konzentrierten Auftritten vor Gericht ab. Viele glauben, dass man eine Sucht gut verheimlichen kann. Ich hatte gestern einen selbständigen Klienten, der arbeitet seit 20 Jahren, hat enge Kontakte zu Kollegen, ist erfolgreich – und trank. Alle wussten es, angesprochen hat es niemand.

 

Warum ist das so, wenn doch hieraus enorme Belastungen für Betroffene selbst und Angehörige entstehen?

Häufig läuft es darauf hinaus, dass die Situation hingenommen wird, solange die- oder derjenige im Arbeitsleben funktioniert und es zu keinen Schäden kommt. Wie bei anderen Berufsgruppen auch wird es zudem gelegentlich oder gar regelmäßig toleriert, dass man etwas trinkt. Nach dem Verhandlungstermin, im Kollegenkreis oder mit Mandanten im Büro. Zusätzlich spielen auch Ängste eine Rolle, wie der Betroffene reagieren mag: Verschärft sich die Situation dann eher noch? Ist vielleicht der Kanzleibetrieb anschließend gefährdeter als zuvor?

 

Was ist dann der entscheidende Impuls, doch professionelle Hilfe zu suchen?

Die meisten Klienten, die zu uns kommen, haben irgendeine Art Druck erfahren. Der eine rutscht stark in eine Depression hinein, ist vielleicht gar nicht mehr arbeitsfähig. Man hat mitunter den Führerschein verloren, was die Kollegen noch gar nicht wissen. Die Person wurde am Arbeitsplatz angesprochen oder dessen Kinder sagen, dass der Kontakt zu den Enkeln abgebrochen wird, wenn er oder sie so weiter konsumiere wie bisher. Natürlich ist immer die Frage, wer betroffen ist: ein Angestellter, ein Vorgesetzter, der Kanzleipartner oder der Chef? Natürlich spielt die eigene Position in der Bürohierarchie eine Rolle, viele fragen sich: Maße ich mir hier womöglich etwas an, was kann ich mit Fug und Recht transportieren?

Bemerkt ein Anwalt Alkoholgeruch bei Angestellten, greifen arbeitsrechtliche Fürsorgepflichten. Das wird dann direkt angesprochen, da ein verantwortungsvolles Arbeiten nicht möglich ist und ggf. das Auto stehengelassen werden muss. Das wird dann besprochen und hat auch mögliche Konsequenzen von der Abmahnung bis zur Kündigung.

 

Ist die Ausgangssituation schwieriger, wenn sich ein Suchtproblem auf der Führungsebene bzw. unter Kanzleipartnern zeigt?

Oft ist es so, dass Kollegen die Arbeit für die Betroffenen miterledigen, die aufgrund ihrer Sucht weniger leisten oder langsamer arbeiten. Dies auch, um sich selbst zu schützen, damit der Kanzleibetrieb weiterläuft. Das erzeugt aber über kurz oder lang Unzufriedenheit und irgendwann wollen oder können die das nicht mehr leisten.

 

Wie empfehlen Sie, das Problem zu kommunizieren?

Wird der- oder diejenige das erste Mal angesprochen, ist das für die Person ein klares Signal: Ich bin aufgefallen, vielleicht sorgt man sich um mich. Das ist ganz entscheidend, denn es setzt bei den Betroffenen etwas in Gang: Die denken meist, dass sie viel länger nicht auffallen, als es tatsächlich der Fall ist. Dass sie damit konfrontiert werden, hinterlässt Spuren, selbst wenn sie in diesem Moment abwehrend oder aggressiv reagieren. Natürlich ist es auch eine Frage der persönlichen Beziehung und es ist sinnvoll, dass jemand das Gespräch sucht, der in einer näheren oder vertrauten Beziehung zu dem Betroffenen steht.

 

Viele Kanzleien haben wenig Personal, zudem können auch Auszubildende Alkoholkonsum oder Veränderungen in der Persönlichkeit des Betroffenen bemerken.

Man muss sich die Situation ganz individuell anschauen: Bekommt es ein Auszubildender tatsächlich mit, dann ist die Frage: Was ist ihre oder seine Absicht, ist es zudem schon so, dass der Konsum sich z.B. in distanzlosem Verhalten zeigt oder in Form von Kontrollverlust und Beleidigungen? Wer zunächst nicht weiter weiß, kann sich in einer Suchtberatungsstelle informieren, die man online über das Verzeichnis der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen findet. Bei einer Beratung können auch die Möglichkeiten ausgelotet werden, wer ins Boot geholt werden kann, weil auch ein Blick darauf wichtig ist, wie das Beziehungsgeflecht gestaltet ist. Vielleicht gibt es einen langjährig Beschäftigten, den man ansprechen kann, ob ihm das Problem auch aufgefallen ist. Angestellte können sich zudem überlegen, sich zusammen zu tun, um gemeinsam mit dem Chef das Gespräch zu suchen.

 

Das kann auch Konsequenzen für die eigene Erwerbsbiografie haben

Eine Beratung kann tatsächlich auch mit der Empfehlung enden, sich schon einmal nach einer anderen Stelle umzuschauen. Man sitzt sonst wie das Kaninchen vor der Schlange und ist nicht mehr handlungsfähig. Zudem kommen häufig auch eigene Abhängigkeiten ins Spiel: Bin ich vielleicht an den Job gekommen, obwohl ich nicht die Qualifikation hierfür hatte, oder stecke ich vielleicht derzeit persönlich in einer schwierigen Situation, dass ich mir es nicht vorstellen kann, den Arbeitsplatz zu wechseln? Bei Kanzleipartnern kann es ähnlich sein, dass diese aus finanziellen Gründen und Verbindlichkeiten eine Trennung scheuen.

 

Ist es eine Illusion, dass der entscheidende Schritt getan ist, wenn sich der Betroffene hat überzeugen lassen und Hilfe sucht?

Die Behandlung einer Alkoholsucht ist in der Regel eine langwierige Geschichte. Natürlich reicht die Ansprache allein nicht aus, es ist vielleicht der Beginn eines Prozesses. Es ist eine  schwierige chronische Erkrankung, die man, wenn man Glück hat, zum Stillstand bringen, die zudem aber auch andere mit hinabreißen und schwere Schäden verursachen kann.

Eben deshalb ist die individuelle Beratung so wichtig, jede Situation hat ihre spezifischen Geschichten und damit Ursachen.

 

Bleibt Alkohol unter den Süchten das größte Problem?

Die Nikotinabhängigkeit stellt gesundheitspolitisch die stärkste Herausforderung dar. Wir haben immer noch einen sehr hohen Anteil an Abhängigen, circa 25% der Erwachsenen, und schwere körperliche Folgen. Leider verfügen wir noch immer nicht über ein adäquates Behandlungssystem. Unter den „bewusstseinsverändernden Substanzen“ dominiert weiterhin die Abhängigkeit von Alkohol. Allerdings beobachten wir immer häufiger einen Mischkonsum. Je nach persönlichem Hintergrund und Verfügbarkeit wird dann zusätzlich zu Cannabis, Kokain und anderen Substanzen gegriffen.

 

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